Annelies Lannoy; Danny Praet (ed.):
The Christian Mystery: Early Christianity and the Ancient Mystery Cults
in the Work of Franz Cumont and in the History of Scholarship.
(Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 81)
Stuttgart: Steiner 2023.
335 Seiten. Broschiert.
ISBN 978-3-515-13197-1
Das Christentum als eine ‘orientalische Mysterienreligion‘:
Streit um Wissenschaftsfreiheit oder die ‚wahre Lehre‘ um 1900
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Das Christentum als Teil der antiken Religionsgeschichte (Vorformen, Einflüsse, Austausch) wurde um 1900 zwischen katholischen und evangelischen Wissenschaftlern debattiert. Dabei waren katholische Forscher, wie hier im Mittelpunkt Franz Cumont, bedroht von der Zensur der Papstkirche. Diese sah die Kirche als göttliche Offenbarung an, jenseits von Zeit und Herausforderungen durch die Moderne.
Ausführlich
Bis heute immer noch als Standardwerk gelesen, veröffentlichte der belgische Altertumswissenschaftler Franz Cumont 1906 seine Monographie Les religions orientales dans le paganisme Romain.[1] Seine Forschungen hatten begonnen mit dem Corpus-Werk zum Kult des Mithras, d.h. er hatte alle verfügbaren Quellen (antike literarische Texte, Inschriften, Münzen und vor allem die zahlreichen Reliefs und – weniger gut erforscht – die zumeist höhlenhaft unterirdischen Versammlungsräume der Anhänger des Kultes gesammelt, ediert, unter Einbeziehung der Forschungsliteratur kommentiert und abgebildet. Zwei umfangreiche Bände, der Quellenband in Fazikeln 1894-1896, die Auswertung 1899 als Band 1 präsentierte alles, was man zu der Zeit wissen konnte über den Kult und seine Anhänger.[2] Die religionsgeschichtliche Einordnung aus Band 1 in den Conclusions veröffentlichte Cumont 1900 noch einmal separat.[3] Das Werk wurde zum Vorbild für viele Corpora zu den Orientalischen Religionen im Römischen Reich,[4] in dem Rahmen, den Cumont in der Monographie von 1906 absteckte: Die Bewohner des Römischen Reiches hätten im Heidentum und seinen Ritualen keinen Sinn mehr gesehen. In dieses Vakuum strömten neue Religionen nach aus dem Orient. Cumont sah in ihnen einen Fortschritt, weil sie (1) ein sinnhaftes Gottesbild trugen und (2) sie forderten ein moralisches Verhalten ein. Viele Römer bekehrten sich. Cumont stellte diese Religionen vor entsprechend ihrer geographischen Herkunft: aus Ägypten Isis, Serapis u.a., aus Persien Mithras und Jupiter Dolichenus, aus Syrien Atargatis und der Sonnenkult, aus Kleinasien die Magna Mater usf. Im Vorwort macht Cumont selbst darauf aufmerksam und entschuldigt, dass er die beiden wichtigsten Religionen des Orients nicht einbezogen hat, das Judentum und das Christentum. Warum er diese zentrale Frage auslässt, ausgerechnet diese beiden Religionen, die die Antike überlebt haben, hat einen Grund in dem tiefen Riss im Kulturschub der Jahrhundertwende 1900 zwischen Bewahrung der Tradition und Aufbruch der Moderne.[5]
Gegen die Bewahrung der Tradition durch das Bündnis von Staat und Kirche mussten die Wissenschaften mit den neuen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, dem Wissen der weiteren Perspektiven der Globalisierung im Imperialismus und den Herausforderungen der Moderne umgehen, auch dort gespalten zwischen Rechtfertigung des herrschenden Status und dessen Kritik, wenn die neuen Fakten dem status quo widersprachen. In den katholischen Ländern trat die zunehmend auf den Papst zentrierte Kirche gegen jede historische Analyse der Bibel und gegen die Behauptung geschichtlicher Entwicklung und Brüche der Dogmen an. Der Fall des französischen Wissenschaftlers Alfred Loisy wurde zum abschreckenden Beispiel exerziert: Verlust des Priesteramtes, Verbot der Bücher, Verbot der Forschung, Berufsverbot.[6] Franz Cumont stand vor dem gleichen Dilemma[7] und tatsächlich traf ihn der katholische Anti-Modernismus, als der Kultusminister einen Nobody auf den Lehrstuhl für Römische Geschichte setzte, der dem bereits international berühmten Cumont zugestanden hätte. Cumont war verdächtig, die katholische Lehre zu untergraben mit seinen historischen Forschungen. Der kündigte den Staatsdienst 1910/11 und forschte von da an als freier Wissenschaftler, einer der herausragenden Altertumswissenschaftler des 20. Jahrhunderts.[8]
Das Dilemma des indirekt doch immer mitgedachten Christentums als eine ‘orientalische Mysterienreligion‘ haben Annelies Lannoy und Danny Praet intensiv erforscht; der vorliegende Band schließt das Projekt ab.[9] Die Ergebnisse ihrer Forschung sind in der langen Einleitung zum Kontext der Forschungen dieser kontroversen Jahre (9-56) und dem sich auf Cumonts Werk konzentrierenden Kapitel zum Einfluss seiner Orientalischen Religionen auf das Frühe Christentum (59-108), also in einem Drittel des Buches, präzise zusammengefasst. Sie kommen zu dem Schluss:
Cumont himself, however, was not a Catholic. He was a freethinker whose inner life has remained enigmatic but who definitely was neither dogmatically nor anti-religious. All in all it remains difficult to surmise whether Cumont’s reluctance to directly engage in the debates over the origins of Christianity was influenced by the anti-Modernist context and the fear for Catholic retalations against himself […] Cumont’s letter to his teacher Hermann Diels moreover shows that he was well-aware that his RO could be badly received among conservative religious circles precisely for that reason. (27).
Das scheint mir überpointiert. Selbst wenn er nicht mehr praktizierender katholischer Christ gewesen sein sollte, bedeutet das doch nur, dass er sich dem päpstlichen Ultramontanismus nicht unterwarf, der freie Forschung mit Berufsverboten bestrafte. Nach dessen Gebot war Glaube (enigmatic inner life) der Glaube der Kirche und den legte das ‚heilige‘ Offizium im Vatikan fest. Im protestantischen Bereich bestrafte die preußische Staatkirche auch einige wenige Pfarrer, aber die Wissenschaft konnte weitgehend frei forschen.[10] Zum Eklat kam es über den Babel-Bibel-Streit, als Friedrich Delitzsch behauptete, dass die Bibel nur Mythen aus Mesopotamien wiedergab, darunter den Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott.[11] Vergleiche mit dem deutschen Rahmenbedingungen sind im Beitrag von Anders Klostergaard Petersen (zur ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘, 141-172) und Nichaolas A.E. Kalospyros zum Konzept der synkretistischen hellenistischen Religion, in der Semitisches und Indogermanisches schon vermischt waren, bevor sie ins Römische Reich rezipiert wurde (173-192, sehr gut zu Richard Reitzenstein). Aus dem Umfeld Cumonts wird das Verhalten von Prosper Alfaric (C.J.T. Talar, 193-211), Eugène Goblet d’Alviella (Jean-Philippe Schreiber 231-254) und den Italienischen Gelehrten, darunter dem Religionswissenschaftler Raffaele Pettazzoni (Natale Spineto, 255-276) beschrieben.[12] Die beiden letzten Beiträge zeigen Wege auf für die künftige vergleichende Forschung zum Christentum als (spät-)antike Religion: Philippe Borgeaud zur Gottesmutter 279-294 und Attilio Mastrocinque zur ‚Trinität‘ im Christentum und in der heidnischen Theologie bei Kaiser Julian 295-319.
Die weitreichenden Thesen von Ernest Renan kannte Cumont aus seinen Kontakten mit Ernest Renan gut. Dieser hatte in dem letzten Band zur Geschichte des Christentums in der Antike Marc Aurèle ou la fin du monde antique 1882, 390 die kontrafaktische These geäußert, die westliche Welt wäre mithrasgläubig geworden, wenn das Christentum aufgrund zufälliger Ereignisse in seiner Ausbreitung gehemmt worden wäre.[13] Cumont war da viel vorsichtiger und differenzierter.[14] Die Ähnlichkeiten in der Ikonographie zwischen Mithras- und christlicher Ikonographie führte Cumont darauf zurück, dass beide Religionen im persischen Mazdaismus gemeinsame Wurzeln hätten (Lucinda Dirven, 113). Als ein weiterer Konkurrent des Christentums galten die Dionysos-Mysterien, denen Cumont in der vierten Auflage seiner religions orientales einen Appendix widmete, frz. 41928=2006, 315-337; dt.³1931, 192-204.[15]
Ein Index von Textstellen und Namen erleichtert das Wiederauffinden von einschlägigen Diskussionen.
Noch Rudolf Bultmann fand 1949 das Christentum nicht aus dem Judentum, aus der Predigt Jesu entstanden, sondern der Kultheros Christos sei in einem griechischen Milieu zuerst verehrt worden.[16] Die Erkenntnis, dass die Jesusbewegung eine innerjüdische Reformbewegung war, hat sich erst später durchgesetzt. Das vorliegende Buch beschreibt sehr präzise das scheinbar ausgesparte Thema in Cumonts Werk, wie sich das Christentum unter den orientalischen Mysterienreligionen entwickelte im Kontext der römischen Religionsgeschichte. Das Thema wurde in den ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts heftig diskutiert und stand gleichzeitig unter scharfer Zensur für katholische Forscher. Diesen Kontext erhellt das Buch ausgezeichnet.
Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Franz Cumont: Les religions orientales dans le paganisme Romain. Conférences faits au Collège de France en 1905. Paris 1906, 41929. = Mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Vorwort hrsg. von Corinne Bonnet und Françoise Van Haeperen, (Bibliotheca Cumontiana. Scripta maiora 1). Torino: Aragno 2006 im Rahmen der Gesammelten Schriften Cumonts. [Deutsch] Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum. Leipzig 1910, ³1931. Zahlreiche Nachdrucke. Englisch 1911.
[2] Franz Cumont: Textes et monuments figurés relatifs aux mystères de Mithra. 2 Bände, Bruxelles: Lamertin 1896, 1899.
[3] Franz Cumont: Les mystères de Mithra. Bruxelles: Lamertin 1900, ³1913. Neuausgabe mit wissenschaftsgeschichtlichem Vorwort von Nicole Belayche; Attilio Mastrocinque, (Scripta maiora 3) Torino: Aragno 2013 (xc-258 pp). Deutsch: Die Mysterien des Mithras. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit. Leipzig: Teubner 1903, ³1923, viele Nachdrucke.
[4] Die Corpora wurden in 113 Bänden der Études préliminaires aux religions orientales dans l’empire romain Leiden: Brill 1. 1961 – 113. 1990 veröffentlicht. Eine treibende Kraft war Maarten Josef Vermaseren.
[5] Die Moderne beginnt um 1800 mit den Revolutionen: der politischen zuerst in Frankreich 1789, der industriellen zuerst in England, nach der Säkularisation auch in den katholischen Ländern, der agrarischen für die Versorgung der urbanisierten Großstädte, der medizinisch-hygienischen Revolution, usf. Die immer noch vorwiegend monarchisch beherrschten Nationalstaaten fanden keine Lösungen für die sozialen Fragen der Zeit. Die Generation der ‚klassischen Moderne‘ um 1900 brach eruptiv mit den Konventionen: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Jugendbewegung, Demokratisierung auf der einen, Militarisierung, Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus auf der anderen Seite.
[6] Das hat exzellent die eine Herausgeberin Annelies Lannoy erforscht in dem auf dieser Seite schon rezensierten Buch: Ein neuer Zweig der Geschichte der Religionswissenschaft durch die Erforschung des katholischen Wissenschaftlers Alfred Loisy. Annelies Lannoy: Alfred Loisy and the making of history of religions. A study of the development of comparative religion in the early 20th century. Berlin: De Gruyter 2020. In https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/01/16/lannoy-alfred-loisy/ (16.1.2021).
[7] Der Briefwechsel der Beiden ist herausgegeben und kommentiert von Annelies Lannoy, Corinne Bonnet und Danny Praet: «Mon cher Mithra …». 2 Bände, Paris 2019.
[8] Danny Praet: L’affaire Cumont. Idéologies et politique académique à l’Université de Gand au cours de la crise moderniste, in: Danny Praet; Corinne Bonnet (ed.): Science, Religion and Politics during the Modernist Crisis. Brussels; Rome: BHIR 2018, 401-474.
[9] Danny Praet ist Professor an der Universität Gent, Belgien. Seine Publikationen Prof. Dr. Danny Praet | Faculty of Arts and Philosophy – Research Portal (ugent.be) (26.10.2023). Annelies Lannoy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda. Prof. Dr. Annelies Lannoy | Faculty of Arts and Philosophy – Research Portal (ugent.be) (26.10.2023)
[10] Dazu Thomas Auwärter: „Die Wiederentdeckung der Religion“ und die Humanisierung des Christentums: Zeit, Leben, Werk und Religiosität Albert Kalthoffs (1850-1906). Bremen: Universität Bremen, 2020. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck, 1994.
[11] Hierzu ebenfalls auf dieser Seite: Die Leugnung des jüdischen Anteils an der deutschen Kultur: Eine hitzige Debatte im Kulturschub 1900. Eva Cancik-Kirschbaum; Thomas L. Gertzen (Hrsg.): Der Babel-Bibel-Streit und die Wissenschaft des Judentums. (Investigatio Orientis 6) Münster: Zaphon 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/01/16/babel-bibel-streit/ (16. Januar 2023).
[12] Pettazzoni hat 1924 das religionsvergleichende Werk I misteri. Saggio di una teoria storico-religiosa veröffentlicht, vgl. Spineto 265-271; Massa S. 123f.
[13] Cumont zitiert Renan, S. 579 in Roschers Mythologischem Lexikon, 1897, Sp. 3067: „Si le christianisme eût été arrêté dans sa croissance par quelque maladie mortelle, le monde eût été mithraiste.“
[14] Den heutigen Stand der Mithras-Forschung fasst sehr gut zusammen Richard Gordon: Mithras. In: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 2012, 964-1009.
[15] Eine orientalische Herkunft des Dionysos-Bakchos hatte schon Friedrich Creuzer 1809 angenommen, besonders aber machte einen orientalischen Ursprung Erwin Rohde in seinem 2-bändigen Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg 1890/1894 geltend. Cumont sieht die Konkurrenz (1) im Glauben an das Leben nach dem Tod und (2) in der Bedeutung des Weines im Kult. Die Diskussion wird heute wieder geführt, u.a. zu den dionysischen Elementen im Johannes-Evangelium, der Überfülle des Weines bei der Hochzeit zu Kana und dem Bild des Weinstocks und den Trauben für Jesus und seine Jünger. Dazu das aktuelle Buch von Peter Wick, Das Geheimnis des Evangeliums 2023. Dazu wird es demnächst ebenfalls eine Rezension auf dieser Seite geben. Der spätantike Dichter Nonnos von Panopolis schrieb im 5. Jahrhundert n.Chr. ein Epos Dionysiaka in 48 Gesängen und daneben eine Fassung des Johannes-Evangeliums in Hexametern.
[16] Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen. Zürich: Artemis 1949.
Dr. Annelies Lannoy bedankt sich für die Rezension. Sie macht mich darauf aufmerksam (e-mail 30. 11. 2023), (1) dass nicht „der Kultusminister“ (im Sinne eines Kirchenministers) für den Eclat der Affäre Cumont verantwortlich war, sondern der Minister für Wissenschaft und Künste. (2) Den oben zitierten Satz habe ich nicht vollständig wiedergegeben: „He was a freethinker whose inner life has remained enigmatic but who definitely was neither dogmatically religious nor anti-religious.“ Meine Einschätzung als Religionswissenschaftler mit einer protestantischen Perspektive führt zu der Einschätzung, dass Cumont zwar die typische Distanz eines ‚liberalen‘ Intellektuellen zur Institution und zum Lehramt der päpstlichen ‚ultramontanen‘ Kirche hielt, aber keine Konversion/Apostasie vollzog. Typisch ist, dass solche Menschen im Gottesdienst das Glaubensbekenntnis mitsprechen „Geboren von der Jungfrau Maria – mit Fußnote natürlich nicht Jungfrau im biologischen Sinne“. Die würde ich religionswissenschaftlich gesehen als intellektuelle ‚liberale‘ Katholiken bzw. Protestanten bezeichnen, nicht als ‚Freethinkers‘ (im Deutschen schärfer ‚Atheisten‘ ). – Danke für die Präzisierungen!