Mulsow: Überreichweiten

Martin Mulsow: Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte.

Berlin: Suhrkamp, 2022.
717 Seiten: Illustrationen, 1 Karte
ISBN 978-3-518-58793-5

 

Informationen und Irrtümer:
Jäger nach geheimem Wissen aus aller Welt in der Frühaufklärung

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Ideengeschichte wird vorwiegend aus europäischer Perspektive geschrieben. Martin Mulsow erzählt in diesem Buch acht Fälle der Jagd von Gelehrten nach Schriftzeichen, Kampfdrogen, chemischen Substanzen, um Geheimwissen zu entschlüsseln. Das zeigt er in ihren globalen Verflechtungen und als Beipack von globalen Lieferketten.

Ausführlich:

Mit diesem Buch legt Martin Mulsow[1] Suchschnitte, wie eine Ideengeschichte vorgehen kann, wenn sie sich nicht mehr auf Europa beschränkt, sondern globalen Verbindungen nachgeht: „Lieferketten“ ist ein aktuelles Problem, das dafür ein Modell bzw. Metapher bietet. Das Wort im Buchtitel erklärt er so: Im Zeitalter des Radios wurden Sendemasten aufgestellt, damit überall das Programm empfangen werden konnte. Es gab häufig Störungen an Orten, die an Überlappungen zwischen der Reichweite zweier Masten liegen. Man hörte von weither den einen Sender unscharf und mit Mitteilungen, die gar nicht für diese Region passten. Wie weit kann diese Metapher eine Vorstellung erhellen, die das entfernte Signal aus einem Ort weither empfängt und dekodiert in den Vorstellungen des Ortes des Empfängers?  Da bringt MM eine weitere Metapher ins Spiel: In seiner Beschreibung der neuen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges durch den Untergang des Sowjet-Imperiums konstruierte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington 1996 das Wiedererwachen der sieben alten Religions-Kulturen, die wie Planeten miteinander kollidieren (Clash of Civilizations). Dem stellt Mulsow entgegen: „Aber sind Zivilisationen nicht eher wie Galaxien zu denken, die einander durchdringen, wenn sie sich kreuzen?“ [und nicht aneinander zerschellen?] (127).

Eine Globalgeschichte kann man nur schreiben – selbst wenn ein so einzigartiger Autor wie MM so viele Sprachen, Zeichensysteme, Forschungsergebnisse (die unglaubliche Fülle internationaler Literatur versteckt sich in den 212 Seiten der Anmerkungen), Bibliotheken mit Bücherschätzen vergangener Jahrhunderte kennt[2] – in Fallgeschichten, denn jeder Fall ist wieder ganz anders, von individuellen Gelehrten, ihren Reisen, ihren Briefpartnern, dem Zufall von Entdeckungen bedingt. Jedes Mal verlangt das eine Mikrogeschichte,[3] die so genau wie möglich eben diese Netzwerke und globalen ‚Lieferketten‘ rekonstruiert vor allem aus der Aufklärungszeit. Am Beispiel der Verwendung der Definition bestimmter Menschen als Ketzer (Kapitel VI, 337-387) erklärt MM zwei Methoden der Globalgeschichte (seine ‚Doppelhelix‘): Die eine bestimmt durch Vergleich entfernter Kulturen, was in der jeweiligen Kultur als rechtgläubig/orthodox und was als ungläubig, gottlos, Gott-leugnend und -be­leidigend gilt. Der Vergleich ermöglicht es, genauer zu bestimmen, wo jeweils anders die Grenze gelegt wird und wer die Autorität hat, das durchzusetzen bzw., wie sich die Ange­griffenen dagegen wehren. Die andere Methode sucht nach einer Verflechtungsgeschichte. So wurde im Streit unter den niederländischen Calvinisten über die paradoxe Lehre von der Dreieinigkeit auf der Synode von Dordrecht 1618/19 in Orthodoxe und Ketzer (Leugner der Trinität) geschieden; dieser Streit wurde exportiert. War die Einheit Gottes nicht bei Juden und Muslimen besser repräsentiert, wenn Gott nicht in drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist – oder war die Dritte doch Maria oder Sophia – gespalten und doch eine einzige Einheit Gott war? Gelehrte fanden sowohl verwandte Formen in anderen Religionen als auch wurde das Konzept der Ketzer zum globalen Begriff (wie heute ‚Terrorist‘ oder ‚Faschist‘ auf ganz unterschiedliche Gruppen angewendet wird und ihre Tötung recht­fertigt). – In Kapitel VII (388-434) stellt MM den Streit dar, ob es auch Völker gibt, die nicht an einen Gott glauben,[4] oder ob ursprünglich alle Völker einen Ur-Monotheismus hatten – und die Gegenfigur des Teufels, dem MM dann in Kapitel VIII, 435-474) nachgeht. Testfall ist, ob man das Vaterunser in die jeweilige Sprache übersetzen kann. Spannende Überlegungen zu Vergleichbarkeit und Karten von Wanderungen von Ideen schließen sich an. – Kapitel VIII Der Teufel und der Jaguar (435-474) bezieht sich auf die Spanier in Lateinamerika. Hier steht der wichtige Satz „Ist die Rede vom Teufel eine Bezugnahme? […] Die Qualifizierung einer Person, eines Ortes oder einer Sache als teuflisch versieht sie mit einem negativen Vor­zeichen und unterstellt eine Täuschungsabsicht durch den mächtigen bösen Dämon. […] Dieser pragmatische Operator […] gehört zu den basalen Elementen christlicher Wahrneh­mung von Fremdheit, vor allem fremden Religionen, aber auch fremder Mentalität.“ (435f). Das ‚Untergrundwissen‘ zunächst einmal für die Silbergewinnung in den Bergwerken und der Weiterverarbeitung, liegt in handschriftlicher Form noch heute in den Archiven von Sevilla (s. Anm 61 auf S.683).

Die Methoden fasst MM im Schlusskapitel noch einmal zusammen. Verglichen mit einem so gelehrten Werk zur Entstehung der Völker und Sprachen, bezogen auf die Metapher der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel (Genesis 11, 1-9), von Arno Borst,[5] gelingt es MM an Fallbeispielen eine ähnliche Jagd auszubreiten, aber mehr im Zeitrahmen der frühen Aufklärung und globalgeschichtlich in den Wechselwirkungen.

Nach diesen Einblicken in vier Kapitel seien nur noch kurz die Inhalte aufgezählt: Einleitung zu den Praktiken der Bezugnahme im Prozess der Globalisierung (17-61). Dort ist auch der Zeitrahmen des transkulturellen Wissenstransfers abgesteckt, vorwiegend die Frühaufklä­rung. Der Erste Teil nennt sich Zeitrahmen transkulturell: i. Mumien auf dem Boot nach Europa 62-126. Hier geht es vor allem zum ägyptischen Hermes und der frühneuzeitlichen Hermetik. Das Kapitel ii. behandelt die Debatte, ob es Menschen vor Adam gegeben habe (127-188). Erstaunlicherweise kommt hier nicht der jüdische Mythos von Lilith vor: Als Kain seinen Bruder getötet hatte, heiratete er und gründete Städte (Genesis 4,17). Da gibt es also Menschen außerhalb der Familie des ‚ersten Menschen‘ Adam. Die Lösung: Adam muss vorher schon einmal verheiratet gewesen sein, eben mit der bösen Lilith. – Zweiter Teil: Fremde Natur und Sprache: Kapitel iii. Ein Zettelkasten voller Drogen 195-240. Zu der Sammlung von Drogen, die Soldaten unempfindlich gegen Schmerzen und unermüdlich macht, aber auch vielen anderen Anwendungen, experimentierte der Hamburger Arzt Martin Fogel u.a. zu Opium und knüpfte Kontakte zu Orientforschern. iv. Alchemie zwischen Ost und West (241-283) beginnt in einer von Holländern betriebenen Apotheke in Batavia auf Indonesien und ihren einheimischen Angestellten. Die Entdeckung des Salpeter war für die explosiver Stoffe im Militär von hoher Bedeutung, sollten aber geheim bleiben. v. Leibniz‘ chinesische Bücher 284-330 sind zwar verschollen, aber indirekte Hinweise aus der Korrespondenz lassen erkennen, wozu Leibniz sie nutzen wollte, obwohl er sie nicht lesen konnte. Den dritten Teil haben wir oben schon behandelt: Häresie, global. VI. Häresietransfer 337-387. VII. Ein Vaterunser für die »Hottentotten« (388-434). VIII. Der Teufel und der Jaguar (435-474). Epilog: Mikrohistorie, Globalgeschichte und die Rekonstruktion intellektueller Praktiken 475-481. Anmerkungen 483-695. Verzeichnis der 104 Abbildungen 697. Namenregister 706-717.

All das erzählt MM interessant, ja spannend. Für die Proto-Religionswissenschaft wird das Buch zur Pflichtlektüre.[6] Der Rezensent hat viel daraus gelernt und wird die Fälle immer wieder heranziehen. Es ist ein Buch, das erklärt und nachweist, wie Globalisierung mit und auf verschlungenen Wegen auch außerhalb der Warenströme funktioniert weit vor dem heutigen Bewusstwerden von Störung der Lieferketten und den Rückwirkungen der Globalisierung auf die westliche Welt.[7] Im Unterschied zu materiellen Waren (an der Grenze sind die Drogen, die Soldaten unempfindlich gegen Schmerzen machen sollen, Kapitel 3, und die chemischen Substanzen Kapitel 4) sind Ideen nicht mit einem fassbaren Referenz-Objekt verknüpft. Aber es gelingt MM gut abgrenzbare Objekte der Wissensjagd zu identifizieren und detailliert mit Personen, ihren Aufzeichnungen, ihren Konkurrenten und Korrespondenten zu beschreiben.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023                                                         Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Martin Mulsow leitet das Forschungszentrum Gotha. Das Gothaer Schloss Friedenstein beherbergt nicht nur eine bedeutende Gemäldesammlung, sondern auch eine bedeutende Bibliothek aus dem Barock/Frühaufklärung. Zu Mulsow s. Profilseite von Prof. Dr. Martin Mulsow, Forschungszentrum Gotha (uni-erfurt.de) (27.10.2023). Seinen Namen kürze ich mit den Initialen MM ab.

[2] Vgl. meine Rezension zu MMs früheren Büchern Die radikale Frühaufklärung. 2018. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/10/01/mulsow-radikale-fruehaufklaerung/ (1.Oktober 2019). – Gegen das scheinbar sichere Wissen: Gefährliche Erkenntnisse in der Frühen Neuzeit. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. 2012. – Jonathan I. Israel; Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/06/01/martin-mulsow-prekaeres-wissen/ (1.Juni 2014).

[3] Berühmt wurde die Methode durch Carlo Ginzburg, etwa mit dem Fall des Müllers, der die Schöpfung der Welt ohne Gott erklären konnte, weil der Käse, wenn man ihn nur lang genug liegen lässt, von alleine grüne Bepflanzung und schließlich Lebewesen wie die Würmer hervorbringt. Diese Erklärung brachte ihn in die Mühlen der Inquisition. Aus einem Einzelfall wird das ganze System der Inquisition deutlich. – Das andere ist die Globalgeschichte, die an der Wirtschaftsgeschichte erprobt (Zucker, Baumwolle) besonders interessant wird, wenn sie als Verflechtungsgeschichte beschreibt, welche Auswirkungen ein Vorgang in der einen Kultur auf die andere Kultur hat und wieder zurückwirkt. MMs Fallgeschichten sind zumeist dieser Art. Dazu zusammenfassend MM 477f.

[4] David Chidester hatte dazu mit Savage Systems. Colonialism and comparative religion in southern Africa. (Charlottesville: Virginia UP 1996) ein viel beachtetes Buch geschrieben, MM kommt noch weiter.

[5] Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bände (in 6). Stuttgart: Hiersemann 1957-1963. 2320 Seiten. Nachdruck als dtv-Taschen­buch München 1995. MM S.212f.

[6] Guy Gedalyahu Stroumsa: A new science: the discovery of religion in the Age of Reason. Cambridge, Mass.: Harvard UP 2010. Verwiesen sei auf die ‚Disputation‘, die Ulrich Vollmer eingeleitet und übersetzt hat: Religionsgeschichte und Religionsgespräch am Vorabend der Reformation. Johannes Stamler und sein Dyalogus de diversarum gencium sectis et mundi religionibus von 1508. (Religionen in der pluralen Welt 20) Münster: LIT 2023.

[7] Für die Antike habe ich das Beispiel des Serapis vorgestellt mit Funden bis Afghanistan: Mit dem Getreide kamen die Götter aus dem Osten nach Rom: Das Beispiel des Serapis und eine systematische Modellierung. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 20 (2012), 7-34. Ders.: Religion im Gepäck. Von Migranten und religiösen Virtuosen im römischen Kaiserreich. In: Ciprian Burlacioiu (Hrsg.): Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 152) Berlin: De Gruyter 2022, 37-66.

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