Mulsow: Radikale Frühaufklärung

Martin Mulsow:
Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720

 

Band 1: Moderne aus dem Untergrund. 502 Seiten.
Band 2: Clandestine Vernunft. 624 Seiten.
Göttingen: Wallstein Verlag [2018].

 

 

Die Aufklärung war viel bunter, keineswegs nur Religionskritik

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: In einer verbreiteten Lesart hatte ‚die‘ Aufklärung die Kritik und Abschaffung der Religion zum Ziel. Martin Mulsow zeigt eine sehr vielfältige frühe (d.h. um 1700 disku­tierende) Aufklärung, die zwar überkommene religiöse Traditionen verwirft, aber durchaus in der kulturellen Überlieferung der Religionen Schätze findet und aufpoliert. In den spannend erzählten Fällen wird die Aufklärung um viele Namen und Themen bereichert.

Ausführlich:

Der erste Band ist die Neuauflage des 2002 erschienenen Buches, der Habilitation des Autors.[1] Martin Mulsow entwickelte dort die These, dass es die Aufklärung gab, aber die hat eigentlich nicht die Moderne hervorgebracht. Dazu brauchte es die ‚radikale‘ Aufklärung. Eine ähnliche These vertrat Jonathan Israel.[2] Spinoza, auf den sich die Radikalen fast immer berufen, ist allerdings nicht der einzige Ideengeber. Das frühere Buch hat nun der für seine sorgfältige Buchherstellung zu rühmende Wallstein-Verlag in Göttingen wieder verlegt (leicht überabeitet die Kapitel I – VIII; die Bibliographie und Register nun zusammengefasst im Zweiten Band) zusammen mit dem schon in der Fassung von 2002 angekündigten zwei­ten Band mit den Kapiteln 9-15. Clandestine Vernunft soll nicht heißen, wie MM etwas iro­nisch meint, die Vernunft habe sich clam[3] heimlich durchgesetzt in der Aufklärung, sondern dass es viele Bücher, Broschüren, Dissertationen gab, die vernünftige und riskante Ideen vortrugen, aber in den erdrückenden Institutionen der Welt nach dem Kampf auf Leben und Tod im Dreißigjährigen Krieg nicht zur Kenntnis genommen und/oder unterdrückt wurden. „Diese Impulse waren fast immer prekär: [4] sie entbehrten der Stabilität, wie sie Institutionali­sierungen bieten; sie waren fragil, leicht zu unterdrücken und widerrufbar.“ (9)

Kapitel IX (11-96) handelt von der Unsterblichkeit der Seele, die jetzt unter dem Einfluss der Naturwissenschaft zur sterblichen Seele wird. Schon in England ein halbes Jahrhundert dis­kutiert, kommt das Thema durch einen ‚akademischen Unfall‘ (18, eher die in der Universität gewollte Provokation bei der Verteidigung einer Dissertation 1704) auch in Deutschland auf, ausgerechnet in Wittenberg, Hort des Luthertums. Wenn Tiere leben, aber keine unsterbliche Seele haben (sollen), wie ist dann das Leben der Menschen zu erklären, fragt der Mediziner Urban Bucher. – Kapitel X Natur und Idolatrie (97-138) beschreibt die Ambivalenz von Natur als Materie und als göttliches Gegenüber. Hinter dem Bilderdiskurs der Ethnographie und des Alten Ägypten verknüpft zu einem Heidentum steht die Kritik der konservativen Auf­klärer an den zeitgenössischen Radikalen. Die Entschleierung der Isis wird ein Bild für die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler (Abb. S. 101).[5] Kapitel XI (139-174) erklärt den Diskurs, wie die antike Temperamentenlehre auf einmal als atheistische Lehre gehandelt wurde, aber auch grundlegt, die einzelnen Nationen (die Deutschen, die Franzosen) mit bestimmten Eigenschaften (heißblütig, träge) zu stereotypisieren. – Das umfangreiche Kapitel XII (175-251) legt das wichtige Thema dar „Naturrecht und Skeptizismus im Widerstreit zu Religion und Moral“. Hugo Grotius schrieb 1625 sein Werk De iure belli ac pacis. Wenn jede Konfession seit der Reformation ihren Rechtsanspruch von Gott herleitete: Wessen Gott hatte Recht? Der französisch-katholische, der niederländisch-calvinistische? Und außerhalb der Hoheitsgewässer auf den Weltmeeren? Man musste tiefer ansetzen, bei dem natürlichen Recht. Vor Moses mit den zehn Geboten und der Aufteilung der Mensch­heit beim Turmbau zu Babel, was für ein Recht gab es da? Die Aufklärer suchten nach einem Menschheitsrecht, das ebenso für die Eingeborenen wie für Christen, welcher Konfession auch immer, galt. – Kapitel XIII (252-312) behandelt den Versuch der Sozinianer, Glaube und Vernunft zu versöhnen. Ein wichtiges Beispiel für den Kulturtransfer (statt „Einfluss“: 261f). Die Vereinbarung des Humanismus mit dem Protestantismus in Italien und emigriert nach Polen findet eine Synthese in Friedrich Wilhelm Stosch: Condordia rationis et fidei, anonym 1692 veröffentlicht. – Das lange Kapitel XIV (313-422) bespricht einen Knäuel an aufeinander bezogene Schriften, ausgelöst durch den Hamburger Pietismus-Streit und den Bezug auf Jakob Böhme in der neuen Gesamtausgabe 1682, die Kabbala denudata des Christian Knorr von Rosenroth 1677-1684. Überhaupt ist Judentum und jüdische Schriften gut repräsentiert.[6] Dabei stößt man auf das Paar radikaler Pietisten, Wilhelm und Eleonora Petersen. – Kapitel XV (423-487): Die Menschlichkeit der Religionsstifter Moses und Jesus zwischen Erhöhung und Erniedrigung. Interessant etwa die Deutung der Sündenfallgeschichte 441f. Auch Mohammed im Aufklärungsdiskurs wird 456-458 behandelt.[7] Mose wird zum Schüler der Ägypter, Jesus wird seiner Jungfrauengeburt und damit Gottessohnschaft entkleidet. – Das Buch endet mit der Zusammenfassung (488-492). Dann beginnt der Nachweis der hand­schriftlichen Quellen, der zeitgenössischen Literatur auf 36 Seiten und 75 Seiten Forschungs­literatur. Bildnachweis und ein sehr gutes Register. Eine Wundertüte wie die Bibliothek im Schloss Friedenstein birgt viele der clandestinen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber die äußerst seltenen Schriften aufzutreiben bedarf es eines Netzwerks von Forschern und des Austausches in Form von Forschungsbeiträgen, die sie untereinander austauschen. Zumal die clandestinen Autoren auch gerne falsche Fährten legten. Oder: „Allein aus dem Bemühen, selbst nicht heidnisch oder atheistisch zu sein, wird für den Gegner eine Position konstruiert, die ihn geradezu künstlich zu einem Radikalen macht.“ (239). Das Verzeichnis enthält beeindruckende 93 Aufsätze und Bücher des Autors MM. Der weiß aus den müh­samen Recherchen eine spannende Geschichte des Falls zu erzählen, die Einzelheiten sind sorgfältig notiert und – welche ein Glück für dieses Buch! – in Fußnoten auf der Seite direkt zu sehen; aber das Argument bleibt straff. Die lateinischen Zitate in der Fußnote übersetzt MM im Haupttext in ein modern-elegantes Deutsch. Die Aufklärung ist so viel bunter und verschiedener, als die Handbücher das bisher als eine ziemlich einheitliche Bewegung der Vernunft gegen die religiöse Tradition darstellten.

 

Bremen/Wellerscheid, 14. September 2019                          Christoph Auffarth

Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Hamburg: Meiner, 2002. Das Buch wurde 2015 auch ins Englische übersetzt: Enlightenment under­ground. Radical Germany 1680-1720. Charlottesville: University of Virginia Press. Der Autor ist Professor an der Forschungsbibliothek Gotha/Erfurt. Den Namen kürze ich im Folgenden mit den Initialen MM ab.

[2] Zu Jonathan Israel und Martin Mulsow (Hrsg.): Radikale Aufklärung. 2014 (s.u. Anm. 4). Spinoza u.a hier in Band 2, 130-136

[3] Lateinisch clam „heimlich“, Adjektiv dazu clandestinus.

[4] Das erklärt Martin Mulsow in seinem Buch Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin: Suhrkamp 2010. Rezension Auffarth: Gegen das scheinbar sichere Wissen: Gefährliche Erkenntnisse in der Frühen Neuzeit. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. 2012. – Jonathan I. Israel; Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/06/01/martin-mulsow-prekaeres-wissen/ (1.Juni 2014).

[5] Berühmt die Ballade von Friedrich Schiller 1795.

[6] 459, Anm.109 muss es sicher Liber Toldot Jeschu, nicht Toldos heißen.

[7] Gleichzeitig erschien Daniel Cyranka: Mahomet. Repräsentationen des Propheten in deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts. (Beiträge zu Europäischen Religionsgeschichte) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [2018].

 

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