Steffen Führding:
Jenseits von Religion?
Zur sozio-rhetorischen „Wende“ in der Religionswissenschaft.
Bielefeld: Transcript 2015. 267 S.
ISBN 978-3-8376-3138-8
kart. 34.99 €
Was ist der Gegenstand der Religionswissenschaft?
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Die Religionswissenschaft (Im Folgenden RW) hat sich in den 1960er Jahren bewusst gelöst von der sog. Religionsphänomenologie, die Religion (genauer: das Heilige, le sacré) als einen Gegenstand sui generis für ihr Fach exklusiv beanspruchte. „In der vorliegenden Arbeit wird eine Antwortmöglichkeit vorgestellt und diskutiert, Religion als konstitutiven Gegenstand der Religionswissenschaft aufzugeben und die Disziplin ‚Jenseits von Religion‘ weiterzuführen.“[1] (12) SF[2] führt (nachdem er schon dessen Einführung übersetzt hat)[3] die sozio-rhetorische Methode von Russel McCutcheon und anderer nordamerikanischer Religionswissenschaftler vor und empfiehlt ihr Vorgehen auch für die europäische/deutsche RW. Die Rahmenbedingungen der Disziplin in Nordamerika und in Deutschland sind jedoch grundlegend verschieden und konstitutiv für die hier vorgestellte Position (SF 89f reicht nicht): die amerikanischen religious studies,[4] und ihr Gegenkonzept der (academic) study of religion[5] (die der deutschen RW am ehesten entspricht) mit den beiden Kontrahenten in Chicago Mircea Eliade (1907-1986, dem Religionsphänomenologen und Künder[6] einer neuen postsäkular-esoterischen Religion, genannt new Humanism) versus Jonathan Z. Smith (20 Jahre jünger), der die Methoden wie kein anderer reflektiert und dessen Position McCutcheon lautstark vertritt. Aber hat nicht Smith das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, als er sagte There is no data for religion?[7] Religion lässt sich empirisch nicht erforschen, weil Religion ein Konstrukt (McCutcheon: „fabrication“) von Wissenschaftlern sei. Gustavo Benavides hat zu Recht protestiert.
Eine Dissertation muss sich beschränken in ihrem Gegenstand und gleichzeitig den Rahmen beschreiben, innerhalb dessen der Gegenstand einzuordnen ist. SF beschreibt umsichtig und gebührend kritisch eine bestimmte Position in der nordamerikanischen Disziplingeschichte (52-55). Für ungleich differenzierter und empirisch-historischer als McCutcheon halte ich die Analyse der Entstehung und Kritik des Konzeptes „Weltreligionen“ von Tomoko Masuzawa (2005).[8] Es erschien gleichzeitig mit einem Aufsatz des Rezensenten,[9] der genau so argumentiert, und mit voller Zustimmung dieses außerordentliche[10] Buch gelesen hat.[11] Sie ist der gleichen Gruppe um Smith zuzurechnen (SF 75-79). Deren Probleme sind in der deutschen RW seit dem Kongress in Marburg 1960 (S. 116-120) längst wahrgenommen und programmatisch bearbeitet (etwa im Forum Religionswissenschaft,[12] im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 1988-2001, im Metzler Lexikon Religion 1999-2002, im Wörterbuch der Religionen 2006; Einführung von Kippenberg/von Stuckrad)[13] und umgesetzt in empirischer Forschung. Und das in einer langen Tradition.[14] SF kennt viel davon (im Unterschied zu McCutcheon), etwa S. 32-36.
Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Frage der Säkularisierung des liberalen Staates und der Religionsfreiheit. Das tut SF von McCutcheons Bemerkungen dazu ausgehend mit einem Referat der Thesen des Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde (1967) und des Politikwissenschaftlers Karsten Fischer 2009.[15] Zu der Frage gibt es viel aktuelle historische Diskussion über die Politische Kultur in der Frühen Neuzeit.[16] Die These von der ‚Erfindung von Religion im Entstehungskontext des modernen Staates‘ wäre zu belegen! SF räumt ein, dass er mit Hobbes „keine Deskription, sondern normative Überlegungen“ anführt. Die zentrale Bedeutung von John Milton ist nicht entdeckt![17] Aber auch so bezeichnende Verhandlungen wie die Zulassung der Juden, wieder auf der britischen Insel ansässig werden zu dürfen,[18] sind nicht wahrgenommen. Der Band ist nicht sehr sorgfältig redigiert.[19]
Das Buch des lange im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft – und mehr noch international sein Doktorvater Peter Antes – tätigen SF gibt einen guten Einblick in laufenden Debatten und Streitfragen. Die institutionellen, juristischen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Religionswissenschaft an nordamerikanischen Universitäten (meist ohne theologische Fakultäten) und die in Deutschland sind aber so verschieden, dass man sie nicht als gemeinsame Probleme übertragen kann. An einigen Stellen kommt SF der Frage näher, warum ausgerechnet in den USA, deren erster Verfassungszusatz das Verbot einer Staatskirche festlegte, die Religiösen so massiven Einfluss auf Politik und Wissenschaft ausüben können: besonders das Gerichtsverfahren Abington vs. Schempp 1963 verbot konfessionellen Unterricht, legte aber fest, dass Wissen über Religion und ihre Bedeutung für die Kulturentwicklung zur Bildung gehöre (der sog. middle path, S. 134-137). Neues Material bietet die Studie für die Debatte um den Gottesbezug der Europäischen Verfassung (215-234). So bleibt: eine wichtige, aktuelle Beschreibung der Disziplingeschichte der RW. ‚Jenseits der empirisch-historischen Religionen‘ ein religiöses Feld (Religion im Singular als hermeneutischer Meta-Begriff) zu definieren, zu dem die Pluralität von Religionen, auch die Geschichte der Religionskritik und die säkularen Einrichtungen gehören, ist der Gegenstand und die Kompetenz der Religionswissenschaft als beschreibende[20] und nicht normative Wissenschaft.
Juli 2016 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Warum wird Jenseits hier groß geschrieben?
[2] SF ist seit langen Jahren im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft DVRW. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Hannover bei Prof. Peter Antes, jetzt Prof. Wanda Alberts.
[3] R.McC.
[4] In vielen amerikanischen Universitäten gibt es departments for religious studies, an denen nicht der Unterschied gemacht wird zwischen dem Erlernen einer Religion plus ihrer Anwendung (Theologie) mit der Ausbildung professioneller Priester einerseits, der Reflexion über das Konzept und die soziale Bedeutung von Religion in der Pluralität. Teaching of religion/teaching about religion.
[5] Die North American Association for the Study of Religion arbeitet methodisch reflektiert und verlangt für die religionswissenschaftliche Forschung ‘säkulare’ Unabhängigkeit von religiösen Institutionen.
[6] Hier wäre Eliades Umstrittenheit schärfer zu nennen: Einerseits die Kulturkritik an der Moderne (Demokratie), die Begründung einer modernen esoterischen Religion, v.a. des Schamanismus, aber andrerseits Eliades wissenschaftliches Großprojekt der Encyclopedia of Religion (16 Bände 1987), deren zweite Auflage (i.W. Ergänzungen) sich schämt, noch den Namen des Hauptherausgebers zu nennen (ed. Lindsay Jones, 16 Bände 2005.
[7] Zusammengefasst in JZS, Religion, Religions, and Religious, in: Mark Taylor (ed.): Critical terms for religious studies. Chicago 1989, 269-284. – Dagegen Gustavo Benavides: There Is Data for Religion. In: Journal of the American Academy of Religion 71 (2003), 895-903.
[8] The Invention of World Religions: Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago: The University of Chicago Press, 2005.
[9] Beide fokussieren auf das Parlament der Weltreligionen im Rahmen der Weltausstellung in Chicago 1893. Christoph Auffarth, „Weltreligion“ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialismus, in: Ulrich van der Heyden; Holger Stoecker (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945. (Missionsgeschichtliches Archiv 10) Stuttgart: Steiner 2005, 17-36.
[10] Das Buch ist in einer wunderbaren Sprache geschrieben und außerordentlich umsichtig in seiner historischen Einordnung. Man kann sehen, wie eine Autorin, die in zwei Kulturen muttersprachlich kompetent ist, viel mehr Perspektiven eröffnen kann. – Die Bemerkung von SF, dass es sich bei den behandelten Autoren um westliche Wissenschaftler handelt, gilt zwar für die Anfänge der Disziplin aber gerade nicht für den Diskurs im globalen Kontext. Masuzawa und Talal Asad sind nicht einfach ‚westliche‘ Wissenschaftlerin und Wissenschaftler.
[11] In den Schlüssen gehen wir etwas auseinander: TM betont „How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism“, während ich zeige, dass das Weltparlament dieses Ziel hatte, aber nicht erreichte, indem sich eine neue, moderne Weltreligion etablierte, der Neo-Hinduismus, die gleichzeitig Kriterien der einladenden liberalen Protestanten erfüllte und sie kritisch übertraf: also eher Fragmentierung/Pluralisierung als Universalisierung.
[12] 4 Bände 1979-1983. Nachweise und wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet im Vorwort von CA; Jörg Rüpke zu Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Kleine Schriften. Stuttgart: Kohlhammer 2005, 7-21.
[13] Hans G. Kippenberg; Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft: Gegenstände und Begriffe. München: Beck 2003.
[14] Etwa das Konzept von Hermann Gunkel vom „Sitz im Leben“ (1901). Die Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft haben vor allem von Max Weber und Ernst Troeltsch vertreten. Der frühe Tod beider (1920; 1923) und der Schock des Ersten Weltkriegs behinderten die Rezeption; stattdessen kam die Religionsphänomenologie.
[15] Kritisch Heiner Bielefeldt: Rezension zu: Fischer, Karsten: Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat. Berlin 2009 , in: H-Soz-Kult, 5.05.2010, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-14031>.
[16] Die Arbeiten von Luise Schorn-Schütte (zuletzt: Gottes Wort und Menschenherrschaft: Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit. München: Beck 2015).
[17] Siehe meine Rezension zu Witte Reformation und Recht [2] http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/06/06/john-witte-reformation-und-recht/
[18] Sina Rauschenbach: Judentum für Christen. Vermittlung und Selbstbehauptung Menasseh ben Israels in den gelehrten Debatten des 17. Jahrhunderts. Berlin: De Gruyter 2012.
[19] Von den Druckfehlern ist Jean-Jacke Rousseau (169) der gravierendste. Religious muss richtig religiosus heißen 207 A. 157. Aber auch Doppelungen von Zitaten oder die Übernahme eines Satzes, der für ein anderes Buch gedacht war: „wie dieser Sammelband“ (199; 206; aus dem Sammelband SF; Peter Antes, Säkularität 2013). Philologisches Handwerkszeug kann man erwarten bei Zitaten aus Klassikern (Buch, Kapitel), bei Übersetzungen welche Übersetzung, welche Herausgeber (erst dann die Seite der konkreten Edition); zentrale Begriff in der Originalsprache.
[20] Nicht berücksichtigt sind die dimensionale Beschreibung von Religion, die im Metzler Lexikon Religion vorgeschlagen wird: Auffarth/Hubert Mohr: Religion, MLR 3(2000), 160-172 und Geschichte der Religionsforschung MLR 4, 2002, 1-48. Übersetzt als Brill Dictionary of Religion 2006.