Jonathan Israel: Die Französische Revolution.
Ideen machen Politik.
Ditzingen: Reclam 2017. 990 Seiten.
ISBN 3-15-011004-1
49.00 €
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Die Französische Revolution ist ein fundamentaler Wendepunkt, der Anstoß auf dem Weg zur Moderne. Für die Religion gilt sie als der Anfang, der Einbruch eines sozialen Umbruchs, der Europa der Religion, dem Christentum entfremdete: die Säkularisierung.[1] Dazu gleich noch.
Das tausendseitige Buch des englischen Historikers ist von hoher Bedeutung. Wie er in der Einleitung darlegt, waren die Historiker (und hier besonders die marxistischer Prägung) überzeugt, dass die Französische Revolution aus den drängenden Klassengegensätzen zu erklären sei: die Not der Bauern auf dem Land und der Handwerker in der Stadt; die Forderung der aufstrebenden Bürger nach politischen Rechten, etwa der Juristen, die die größte Gruppe in der Nationalversammlung bildeten, oder der Unternehmer, die Spielraum für die Industrie forderten. Kein Erklärungsmodell funktioniert. Aber auch die ‚Revisionisten‘ unter den Historikern, können nicht recht erklären, wie es zur Revolution kam:[2] Eine Lösung begründet nun detailliert Jonathan Israel in dieser Monographie.[3] Ja, es gab Hungersnöte und Missernten. Ja, es gab das aufstrebende Bürgertum, das nach politischer Partizipation verlangte. Nein, es gibt auch keine Bündelung von Ursachen, die vereint die Auslöser der Revolution bildeten. Das ganze Jahrhundert findet man solche Krisen, aber nur 1789 führen sie zur Revolution. Nicht die Unterschichten, nicht die aufstrebenden Eliten ermöglichen die Radikalität für die Revolution. Eine Minderheit, die Aufklärer, ‚philosophie‘, erreichen kraft ihrer revolutionären Ideen das völlig neue Denken, wie Gesellschaft funktionieren soll. Die Presse, die Öffentlichkeit macht die Revolution.[4] Das sind JIs Helden: „Erstmalig in der Weltgeschichte (hatten) erklärte demokratische Republikaner die Kontrolle über die Regierung inne. […] Vom Sommer 1792 bis zu Robbespierres Staatsstreich Juni 1793 proklamierten die linken Republikaner Demokratie, Universalismus und Gleichheit als in Vernunft und Aufklärung verankerte Prinzipien. Diese beiden, Vernunft und Aufklärung sollten das neue, das weltliche Credo der Menschheit werden.“ (320). JI führt hier seine Grundthese durch: Nicht die moderate Aufklärung (Montesquieu; Voltaire), sondern die Radikalaufklärung entwickelte die Schärfe der revolutionären republikanischen Logik. Autoritäre Rigoristen zerstören die Ideale, allen voran Marat und Robbespierre. Religion und Religionskritik sind ein zentraler Bestandteil des Streits. Aber auch für JI ist Religion ambivalent: Wenn Robbespierre die Revolution verrät, dann wird er zum „Theologen“. Aber Aufklärung und Revolution sind das „weltliche Credo“. JI hat hier einen Baustein vorgelegt zu seiner Konzeption, Ideen machen Geschichte. (So der passende deutsche Untertitel).[5] Trotz der tausend Seiten begrenzt er seine Darstellung relativ strikt auf ein Jahr vor der Revolution und bis zum Ende Robbespierres und vor Napoleons Militärdiktatur. Das Schlusskapitel wiederholt die Generalthese Israels: Die Revolution scheitert (759-786), weil die Radikalaufklärung sich nicht durchsetzen konnte und verraten wurde (787-801).
Die deutsche Übersetzung von Ulrich Bossier benutzt einen außerordentlich reichen Wortschatz mit vielen Fremdwörtern, in der Regel treffsicher.[6] Für ungeübte Leser sicher eine Herausforderung; ich finde sie einen literarischen Genuss, gerade auch wegen der vielen französischen Originalbegriffe. Als Leser muss man sich gut merken, wenn ein neuer Begriff eingeführt wird, weil der anschließend durchgehend benutzt wird. Refraktäre etwa bedeutet Priester, die den Eid auf die Verfassung ablehnten. Anstelle des gebräuchlichen Begriffs Girondisten muss man sich an Brissotins gewöhnen. Das umfangreiche Register auf 50 Seiten ist für Namen und Sachen/Begriffe sehr hilfreich und differenziert (vorbildlich!) aufgebaut.[7]
Neben den chronologisch vorangehenden Kapiteln, die einen roten thematischen Faden gut durchführen, gibt es eher systematische Kapitel: Erziehung und Bildung für die Revolution (428-451), die Emanzipation der Schwarzen (452-477), Krieg gegen die Kirche (213-239) und Entchristianisierung (545-571). Zu den beiden letzteren noch einige Bemerkungen in einer religionswissenschaftlichen Rezension. Im „Krieg gegen die Kirche“ geht es sofort um die Diskussionen über die Privilegien, Immunitäten und den Besitz der Klöster, weniger der Pfarrkirchen. Eine Einführung über die (1) religiöse und (2) katholisch-kirchliche Situation wäre nötig, bietet JI aber nicht. Noch sehr präsent im kollektiven Gedächtnis ist die Bartholomäusnacht, als 1572 die Protestanten in Paris ermordet wurden.[8] Schon lange war die französische Kirche relativ unabhängig vom Papst (‚Gallikanische Freiheiten‘). Man müsste etwas über die katholische Aufklärung erfahren, über den Jansenismus.[9] Ist Abbé Sieyès ein Einzelfall der aufgeklärten Säkular-Priester an der Spitze der Revolution? Die intensive Diskussion über die Tolerierung von nicht-katholischen Religionen, v.a. der Juden (216) und der Täufer ist gut abgebildet. Religion als ein dem ‚Volk‘ vertrautes Element, das zu verändern die mehrheitlich fromme Bevölkerung herausfordert. Die Enteignung der Kirchengüter (die etwa auch im katholischen Österreich und in Bayern durchgeführt wurde), die Aufhebung von Orden, die nicht Schulen oder Armenversorgung unterhielten, die Verfolgung der Kleriker, die nicht den Eid auf die Verfassung ablegten, führten zu einem vermeintlichen Gegensatz von Katholizismus und Revolution. Aus Säkularisation (Rückführung von Kirchengütern der Toten Hand[10] in den wirtschaftlichen Kreislauf) wird der Vorwurf der Säkularisierung.
Damit verbunden ist das religionswissenschaftlich so bedeutsame Problem, ob und wie der Staat eine eigene Zivilreligion aufbaut, das Verhältnis von Politik und Religion. JI beschreibt das im Kapitel unter dem Begriff der „Entchristianisierung“.[11] Unter dem Begriff der Europäischen Religionsgeschichte hat die Religionswissenschaft ein Konzept entwickelt, das das Verhältnis von Religion und Politik nicht als Gegensatz, Konkurrenz oder ‚Ersatzreligion‘ versteht, sondern als ‚mitlaufende Alternative‘.[12] Ja, es gab die Verhöhnung der katholischen Messe und Bilderstürme, Verbote von Messen. Aber „die Entchristianisierung war nie eine koordinierte, nationsweite Kampagne innerhalb der Französischen Revolution.“ (549). Ja, es gab die erklärten Zeloten des Atheismus, vor allem in Paris, darunter der ehemalige Priester Joseph Fouché. Beide Seiten verrannten sich in Unversöhnlichkeit. Und seit dem Staatsstreich Robbespierres wurden Kirchen in Lagerhallen umgenutzt, Kreuze abgerissen, Priester rituell ‚entpriestert‘, Kirchen in Tempel der Vernunft umgewidmet. JI beschreibt die beiden Seiten der Entchristianisierung und des katholischen Widerstands, einschließlich Robbespierres entschiedenem Widerstand gegen den Atheismus. „Was die fanatischen [Atheisten] vertraten, war kaum weniger hoch dogmatisch als früher die Kirchenlehre, die Gedanken der philosophes kamen darin nur krass entstellt vor, für den politischen Tageskampf versimpeltes Credo.“ (565) Die revolutionäre Zivil-Religion der Vernunft und des ‚Höchsten Wesens‘, die Robbespierre vertrat, ist nur knapp gestreift. Sie greift antike Versatzstücke auf und greift besonders auch auf ägyptische religiöse Symbole zurück.[13] „Robbespierre bekundete tiefen Respekt vor der Religion“ (567), nicht vor dem Christentum in seiner traditionellen Form, wohl aber deistisch übersetzt in einer Zivilreligion.
Ein exzellentes Buch, auch zum Gebrauch hervorragend gebunden, das die Französische Revolution nicht nur aus der Perspektive der Hauptstadt und in einem transatlantischen wie europäischen, wie regionalen Zusammenhang diskutiert. Auch wenn der Autor seinen agnostischen Standpunkt aufgrund der eigenen jüdischen Erfahrung erkennen lässt, schreibt er fair über Religion, den angeblich grundlegenden Gegensatz zur Französischen Revolution.
- Mai 2018 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Zur Diskussion über die Säkularisierung und dem Sonderweg Europas in diesem Prozess, denn die USA zeigen das Gegenteil zu der These, dass je moderner eine Gesellschaft, desto weniger brauche sie Religion: Meine Rezensionen zu Gert Pickel, Religionssoziologie Wiesbaden: VS 2012. José Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berlin UP 2009. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/02/20/jose-casanova-europas-angst-vor-der-religion-herausgegeben-von-rolf-schieder/ 20.2.2010. [Rez] Volkhard Krech: Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft. Bielefeld: transcript 2011 http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2012/02/22/wo-bleibt-die-religion-von-volkhard-krech/ (22.2.2012).
[2] Der Übersetzer erklärt S. 13, „Sie bestreiten deren (sc. Der Französischen Revolution) Erklärbarkeit aus sozialen Gegensätzen und dem Agieren eines progressiven und freiheitlichen Unten gegen ein rückständiges und repressives Oben“, darunter besonders François Furet [und Michel Vovelle, etwa seine ins Deutsche übersetzte Einführung 1982].
[3] Jonathan Israel ist Professor am Institute for Advanced Studies in Princeton. In Deutschland sind seine Bücher über die ‚radikale Aufklärung‘ und über die Niederlande des 17. Jh.s wenig bekannt. Immerhin die Diskussion der new intellectual history: Gegen das scheinbar sichere Wissen: Gefährliche Erkenntnisse in der Frühen Neuzeit. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. 2012. – Jonathan I. Israel; Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Berlin: Suhrkamp 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/06/01/martin-mulsow-prekaeres-wissen/ (1.Juni 2014). Im Folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen JI ab.
[4] Jürgen Habermas hat den Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962 im Vergleich Deutschlands mit Frankreich und England beschrieben. Das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe (Hrsg. Otto Brunner, Conze; Reinhart Koselleck, Stuttgart: Klett-Cotta 1971-1997) an einzelnen der Politisch-geschichtlichen Begriffe der Sattelzeit zu untersuchen.
[5] Das englische Original heißt Revolutionary Ideas. An intellectual history of the French Revolution from “The rights of man” to Robespierre. Oxford: Princeton Univ. Press, 2014. Noch übertroffen vom Titel der französischen Übersetzung Une révolution des ésprits. Les lumières radicales et les origines intellectuelles de la démocratie moderne. Marseille: Agone, [2017].
[6] Es gibt wenige Fehler wie ‚mysteriös‘ statt ‚mystisch‘ S. 222.
[7] Bedauerlich ist, dass man es versäumte, statt der englischen Übersetzungen der französischen Quellen (deren neueste Ausgaben richtig verzeichnet sind) keine deutschen Quellenausgaben angegeben sind.
[8] In dem Theaterstück Charles IX. Theater als eines der wichtigsten Elemente von Öffentlichkeit (220). Das Marsfeld soll nach dem Mord an den Aufständischen umbenannt werden in Champ de la Sainte-Barthélemy des Patriotes (241, ohne die Erklärung zur Bartholomäusnacht).
[9] 223-226 genügt nicht. Dazu etwa Ulrich L. Lehner: Die katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Paderborn: Schöningh 2017. Von „katholischer Radikalaufklärung“ spricht JI 551.
[10] Güter der Toten Hand sind Stiftungen, die nicht verkauft werden dürfen. Mit der Akkumulation/ Schatzbildung stehen sie dem wirtschaftlichen Kreislauf nicht mehr zur Verfügung.
[11] Statt Säkularisierung beschreibt déchristianisation genauer einen Prozess, der aber in dieser fortschreitenden Unumkehrbarkeit nicht zutrifft. Daneben steht das Konzept der ‚Entkirchlichung‘. Das Verbot an die Kirche, in der Öffentlichkeit zu werben, also das Gegenteil von Staatsreligion, etwa der französische ‚Laizismus‘ entsteht aus einer spezifischen Konfiguration 1905. Begriffsklärung in Hartmut Lehmann (Hrsg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa: Bilanz und Perspektiven der Forschung. (VMPIG 130) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997.
[12] Das Konzept entwickelte Burkhard Gladigow 1995. Ein Überblick bei Christoph Auffarth: Europäische Religionsgeschichte. In: Richard Faber; Susanne Lanwerd (Hrsg.): Aspekte der Religionswissenschaft. Würzburg 2009, 29-48.
[13] Zur Ägyptomanie um 1800 siehe meine Rezension: Aufgeklärte Religion – Ausweg aus dem Krieg der Kulturen? Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/12/09/religio-duplex-agyptische-mysterien-und-europaische-aufklarung-von-jan-assmann/ (9.12 2010). Napoleons Vermittlung des islamischen Ägypten mit der Aufklärung, besonders der wissenschaftlichen Beschreibung des Landes, beschreibt JI 749-757.