Volkskirche

Benedikt Brunner: Volkskirche.
Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs, 1918-1960

(Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B 77)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 426 Seiten.
ISBN 978-3-525-54080-0

 

Volkskirche: eine Kirche für alle – eine Kirche von allen?

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Unter dem Konzept der Volkskirche diskutierten Evangelische in Deutschland zwischen dem Ende der Staatskirche 1918 und bis in die Gegenwart, was aus ihrer Kirche werden soll. Eine gründliche Studie geht den Diskussionen nach.

Ausführlich: Volkskirche ist ein Begriff, den viele Akteure in der evangelischen Kirche ver­wenden, aber teils sehr verschiedene Bedeutungen damit verbinden. Mal dient es der konfes­sionellen Differenz zur Priesterkirche und benennt damit nach außen den Unterschied zur katholischen Kirche, die im 19. Jahrhundert zur römischen Papstkirche umgebaut wurde,[1] nach innen das Amtsverständnis evangelischer Pfarrer und ‚das Priestertum aller Gläubi­gen‘. Oder sie fordern mit romantisierendem Blick zurück eine (Neu-) Erweckung, die die Kirchen wieder füllt, oder sie sahen sie als ‚Bewegung‘, die das ganze Volk umfasst, eine einzige Nationalkirche. Die gewählte Zeitspanne umfasst mehrere historische Konstellatio­nen, in denen der Begriff grundlegend wurde in der Auseinandersetzung um den künftigen Weg der Kirche. Dabei bleibt die Ambivalenz des Begriffes Kirche für Evangelische: Ist Kirche die sonntägliche Gemeinschaft der gläubigen Individuen bis hin zur vorgestellten Einheit aller evangelischen Christen (also ein spiritueller Kirchenbegriff der Innerlichkeit)? Oder ist Kirche eine Organisation, die im Staat ihre Interessen durchzusetzen hat und dafür eine Strategie braucht?

Der Begriff ist spezifisch evangelisch, denn in der katholischen Kirche gibt es zwar auch den doppel­ten Kirchenbegriff, aber die Kirche als Organisation verbindet beides: sie verwaltet jenseitiges Heil durch die Sakramente, der Glaube ist nicht der Glaube der Individuen, die ihn zu verstehen und zu erklären haben, sondern der Glaube der Kirche, die das Lehramt vorgibt. Das Volk spielt in der Kleri­kerkirche, wie sie im 19. Jahrhundert durchgesetzt wurde und im kirchlichen Gesetzbuch 1917 kodi­fiziert wurde, praktisch keine Rolle. Die Laien haben nur ein einziges Recht: Das Recht die Sakramente zu empfangen (CIC c. 682).[2] Erst im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-2965) kam das Bild auf vom ‚Wandernden Gottesvolk‘, dem die Kleriker nur vorangehen.[3]

Für die Geschichte des Begriffs vor 1918 stützt sich BB auf Untersuchungen von Tobias Sarx, der auf Johann Gottfried Herder und auf Friedrich Daniel Schleiermacher verweist. Vielleicht nicht der Begriff, aber das Konzept ist allerdings an der Wurzel der Reformation zu fassen. Als nämlich die ‚Täufer‘ verlangten, dass erst Erwachsene getauft werden, die den Ritus verstehen und die Taufe begehren, nicht schon die Kinder, da waren die Reformatoren in Erklärungsnot, gab es doch in der Bibel keinen Beleg für die Säuglingstaufe. Das Täufer-Konzept einer Kirche aus überzeugten und ihr ganzes Leben dem Einsatz für christliche Werte kämpfenden Christen war genau das Gegenteil von dem, was Luther befürwortete, dass man in die Religion hineingeboren wird, die Eltern einem das Christentum vorleben und erklären und später dann bei Verstand die Taufe bekräftigt in der Konfirmation. Solche Gegenkonzepte kommen in Brunners Begriffsgeschichte wenig vor.

Benedikt Brunner[4] gelingt es in seiner Münsteraner Dissertation – erarbeitet in der Geschichts­wissenschaft als Teil des Exzellenclusters Politik und Religion –  die Diskussionen und Argu­mente, die politische Zielsetzung und die institutionelle Organisation anhand wichtiger Wortmeldungen nachzuzeichnen und damit bedeutende Stationen des Selbstverständnisses der evangelischen Kirchen im 20. Jahrhundert zu beschreiben. Das letzte Kapitel der Disser­tation behandelt die auseinanderstrebenden Diskussionen in der BRD und der DDR bis zum Beitritt der ‚neuen Bundesländer‘, als es um die Organisationsform der Evangelischen im Osten ging, der schon lange weniger kirchlich war,[5] also der Zeitraum 1960-1990, wird separat veröffentlicht. Und seither haben sich die Realitäten gelebter Religion, die im Konzept Volkskirche gemeint war, noch einmal dramatisch verändert. BB bringt ein paar Zitate aus der aktuellen Fortschreibung oder Verabschiedung des Begriffs in der Einleitung.

Zentrale Bedeutung gewann der Begriff gleich mit der notwendigen Neubestimmung, als 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch die enge Verbindung von Staat und Kirche, Kirche als Herrschaftsinstrument der Monarchie, endete (2. Volkskirche in der langen Krise der Weimarer Republik, 38-120). Wer ist der Souverän der Kirche? Wie in der Weimarer Republik die Demokratie das Volk, die Frauen eingeschlossen, zum Souverän machte, mit der Präsidialverfassung aber eine temporäre Monarchie ermöglichte, wählten die einzelnen Landeskirchen unterschiedliche Formen: Sollte ein Landesbischof auf Lebenszeit in einer Hierarchie mit einer Letztentscheidung und Exekutive über dem Kirchenparlament auch eigenwillige Entscheidungen treffen können? Oder wird ein Präsident/Praeses im Wahlamt auf Zeit die Beschlüsse des Kirchentags umsetzen? Zwei Fälle, in denen das eher demokra­tische Prinzip in das ‚Führerprinzip‘ kippten, Hans Meiser, der für sich 1933 ein „autoritäres Bischofsregiment“ beanspruchte,[6] oder Heinz Weidemann, der in Bremen den Kirchentag für beendet und sich selbst zum Führer erklärte,[7] sind exemplarisch für diese Differenz, kom­men aber in B.s Buch nicht vor, weil er eher theologiegeschichtlich (15 mit Verweis auf Fried­rich Wilhelm Graf) als religionshistorisch arbeitet. „Diskursgeschichte“ und „Begriffsge­schichte“ gleichzeitig als Sozialgeschichte zu verstehen, wie Reinhart Koselleck das wollte,[8] wird nicht gelingen, wenn man (nur) den Diskurs der Theologen verfolgt. Aber begriffsge­schichtlich ist das sehr gut gearbeitet und umfasst auch die Recherche auf die Ebene der Zeitschriftenbeiträge (das Verzeichnis der Primärquellen umfasst 40 Seiten, sehr viel bisher nicht Beachtetes darunter), nicht nur das lutherischen Programm von Otto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, 1926, das Karl Barth aus reformierter Perspektive kritisierte. – Die zweite Konstellation entstand im Jahr 1933, als die „gottlose“ Republik von den National­sozialisten gekapert und zur Diktatur umgebaut wurde. Gott schien den Kairós gegeben zu haben, dass aus den vielen Landeskirchen die eine Nationalkirche des deutschen Volkes erstehen würde, eine Volksmission das ganze Volk auch religiös einen und im Gleichschritt mit der Bewegung, eher noch als Avantgarde, die Deutschen Christen vorangehen würden (3. Die Volkskirche in den Auseinandersetzungen während der Zeit des Nationalsozialis­mus, 121-234). Es gelingt B., den Zusammenhang herzustellen zwischen dem Leitbegriff „Volksgemeinschaft“ in der Geschichtswissenschaft und dem der Volkskirche. Obwohl 95% der Deutschen Mitglied in einer der beiden Großkirchen waren, wird der Faktor Religion von Historikern kaum beachtet.[9] B. erkennt und diskutiert auch die Alternativen zu diesem umstrittenen Identitätskonzept. Der dritte Knoten ist der Streit um die Volkskirche nach der Katastrophe des Nationalsozialismus, die Rolle der Kirchen am Aufbau der Bonner Republik und der DDR. (4. Restitution der Volkskirche auf tönernen Füßen? 235-333). Erstaunlicher­weise trauten die Alliierten den Kirchen die moralische Kraft für den Wiederaufbau zu und sahen über ihre Bedeutung für die Akzeptanz des Nationalsozialismus hinweg. Aber nun kamen erst recht die Probleme zum Vorschein, die zwischen den Bruderräten, Pfarrergebets­bruderschaften, die den Neuaufbau von unten wollten, aus der Basis der Gemeinden heraus, und andererseits den ‚intakten‘ lutherischen Landeskirchen mit Bischöfen, Prälaten, Dekanen, die aus den Oberkirchenräten heraus Restauration betrieben. Besonders Hans Meiser erwies sich als Spalter, der die VELKD (Vereinigte Evangelische Lutherische Kirche) organisierte im weltweiten Bund der lutherischen Kirchen, und damit den Aufbau der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) schwächte.[10] Wie in den anderen Kapiteln unterschei­det BB die drei Spannungsfelder (I.) Kirche und Staat, (II.) Kirche und Gesellschaft, (III.) Binnenkirchliche Debatten. Die wichtige Monographie von Benjamin Ziemann zu Martin Niemöller, die eindringlich den Streit um den Neuanfang zwischen Niemöller und Theophil Wurm, je als Führer der beiden Lager beschreibt und in der historischen Situation kontextualisiert,[11] kam zu spät für das vorliegende Buch. Das Personenregister ist sehr nützlich organisiert, weil es neben den Fundstellen auch die Lebensdaten angibt.

Brunner hat ein sehr wertvolles Buch über das Selbstverständnis der Evangelischen (Theo­logen, wenige Laien; das Personenverzeichnis nennt 168 Männer, keine Frau – das spiegelt den Diskurs, nicht die Kirchenrealität) im ‚kurzen‘ 20. Jahrhundert erarbeitet zwischen dem Ende der Staatskirche mit dem Ende der Ersten Weltkrieges bis zum Bau der Mauer. Mit dem Konzept der Volkskirche hat er einen fruchtbaren, quellengesättigten Begriff erforscht, in dem „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ (Koselleck) gut zu greifen sind.

 

Bremen/Wellerscheid, 22. Juni 2021                                                         Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:   auffarth@uni-bremen.de

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[1] Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Biographie. München: Beck 2020.

[2] Codex Iuris Canonici (1917), canon 682: Laici ius habent recipiendi a clero … spiritualia bona et potissi­mum adiumenta ad salutem necessaria. Die Laien haben das Recht, vom Klerus zu empfangen … die geistlichen Güter und besonders die Hilfsmittel, die für das Heil notwendig sind.

[3] In der Entschließung/constitutio lumen gentium (Nov. 1964. Denzinger, Enchiridion 4101-4179) neben der Metapher der aedificatio Dei „Bau Gottes“und des corpus Christi „Körper Christi“ populus incedens „Volk auf dem Weg“ (4124), das nun nicht auf die katholische Kirche begrenzt wird (wie das Prinzip Extra ecclesiam nulla salus Außerhalb der Kirche gibt es kein [Weg zum] Heil). Von Gott sei akzeptiert, wer immer ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt (4122). Tatsächlich nennt die Konstitution auch das allgemeine Priestertum der Gläubigen, das zu unterscheiden ist vom amtlichen und hierarchischen Priestertum, aber beide haben Anteil am Priestertum Christi (4126). Zum Volk Gottes gehören die Juden und Muslime, aber auch alle, die sich bemühen ein rechtes Leben zu führen. Das wird von der Kirche geschätzt als Vorbereitung für die Frohbotschaft praeparatio evangelica und wird von dem [Gott] gegeben, der jeden Menschen erleuchtet, dass er schließlich das Leben habe (4140).

[4] Benedikt Brunner (*1986) promovierte mit dieser Arbeit in der Geschichtswissenschaft bei Thomas Großbölting in Münster im Graduiertenkolleg des Exzellenzclusters Religion und Politik. Zu Groß­böltings Buch, einer ‚Religionsgeschichte Deutschlands seit 1945: Religion hat ihren Ort nicht mehr im Himmel.‘ Rezension zu Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, 2013. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/11/28/der-verlorene-himmel/ (28.11.2013). Danach war Brunner wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kirchengeschichte Bonn und ist seit 2018 Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen BB.

[5] Lucian Hölscher [Hrsg.]: Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Berlin: De Gruyter 2001, Band 2: Der Osten.

[6] Dazu jetzt Nora Andrea Schulze: Hans Meiser. Göttingen 2021, 156-189 [Besprechung folgt].

[7] Dazu Peter Ulrich: »Alles, was ich getan habe, hatte das eine Ziel, in der Kirche ein ganzer National­sozialist zu sein.« Zur Biographie des Bremer »Landesbischofs« Heinz Weidemann (1895- 1976), in: Bremisches Jahrbuch 2014, 157-186.

[8] Wolfgang Schieder: Werner Conze und Reinhart Koselleck: Zwei begriffsgeschichtliche Konzepti­onen in den ‚Geschichtlichen Grundbegriffen‘. In: Manfred Hettling; Wolfgang Schieder (Hrsg.): Reinhart Koselleck als Historiker. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2021, 149-170. Zugespitzt gesagt (vgl. S. 152; 168f) bringt für Koselleck die veränderte Sprache soziale Veränderungen hervor, während Conze die Reihenfolge umgekehrt sah, dass aus den sozialen Veränderungen eine neue Sprache ent­stehe. – Das Lexikon hatte sich die sogenannte „Sattelzeit“ (vgl. Schieder 166) zwischen 1750 und 1848 vorgenommen, in der die Französische Revolution in Deutschland rezipiert und eine politisch-soziale Begriffssprache entstand. Das zwanzigste Jahrhundert kommt kaum vor. Ebenso spielt religiöse Sprache oder Metaphern praktisch keine Rolle. Brunners Arbeit kann also nur auf methodische Aspekte zu sprechen kommen. Pläne zu solch einem Lexikon kamen nicht zustande, vgl. Lucian Hölscher: Baupläne der sichtbaren Kirche. Sprachliche Konzepte religiöser Vergemeinschaftung in Europa. Göttingen: Wallstein 2007. Dagegen metasprachliche Begriffe im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von Hubert Cancik; Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Stuttgart: Kohlhammer 1988-2001. Dazu Hildegard Cancik-Lindemaier; Hubert Cancik in: Christoph Auffarth; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel in der Religionswissenschaft. Tübingen: Tübingen University Press 2021, 85-113 (open access).

[9] Eine Ausnahme bildet der Historiker Manfred Gailus, der mit vielen Beiträgen die Bedeutung von Religion im Nationalsozialismus erforscht, etwa: 1933 als protestantisches Erlebnis: Emphatische Selbsttransformation und Spaltung. In: Geschichte und Gesellschaft 29(2003), 481-511.

[10] Schulze, Meiser 2021, 318-357.

[11] Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Leben in Opposition. München: DVA 2019, 383-420. Meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/18/martin-niemoeller/ (18.11.2019). Brunners Dissertation wurde 2017 verteidigt.

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