Geschichte der Blasphemie

Gerd Schwerhoff:

Verfluchte Götter. Die Geschichte der Blasphemie.

Frankfurt am Main: S. Fischer 2021.
496 Seiten
ISBN 978-3-10-397454-6.
29 € (D)

 

Blasphemie: antiquiert und aktuell –
Ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart einer Provokation

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Blasphemie ist ein ebenso aktuelles wie umstrittenes Thema. Ist es Aufgabe der Gesetzgebung, Gott vor Verleumdung zu schützen? Kann er sich nicht selbst wehren? Und umgekehrt: Ist bei einem Angriff auf die Religion anderer nicht der Staat gefragt, zum Schutz der Minderheiten und um Frieden zu garantieren. Gerd Schwerhoff bietet sowohl Informati­onen und Hintergründe zu den aktuellen Themen wie die lange Geschichte davor.

Ausführlich: Blasphemie ist ein Streitpunkt der Gegenwart: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die freie Meinungsäußerung als ein Grundrecht über das ihrer Meinung nach antiquierte Gesetz stellen, nach dem die staatliche Ordnung Beleidigungen gegen Gott bestrafen müsse. Auf der anderen Seite stehen die, die in der Strafe gegen Gotteslästerung einen Schutz des gesellschaftlichen Friedens sehen, weil die Blasphemie die Gefühle, Ehre und tiefe Empfindlichkeit von Minderheiten verletzten und verächtlich herabsetzten. Dabei ist Blasphemie ein besonderer, seltener Akt, der provozieren will. In der globalisierten Welt ist das eine Herausforderung über die Grenzen des (gesellschaftlich längst nicht mehr homo­genen) Nationalstaates hinweg. Aus der Sicht der Kämpfer für einen säkularen Staat (beson­ders im laizistischen Frankreich) sei eine rationale und moderne Weltsicht als die einzig richtige zu verlangen. Die Provokateure verlangen Intoleranz gegenüber anderen, die einer (ihrer Ansicht nach) irrationalen, nicht mehr der Moderne gerecht werdenden Weltanschau­ung hinterher laufen, einer Religion, die ihnen von Priestern und Fundamentalisten aufge­schwatzt wird. Blasphemie ist nicht Ausdruck des clash of civilizations bzw. Kriegs der Kultu­ren oder the West against the Rest, sondern ihr Schlachtfeld. Provokateure gibt es nämlich auch auf der anderen Seite, die so lange Toleranz für ihre partikularen Werte einfordern, und die Gesellschaft ihnen entgegenkommt, bis jemand der Kragen platzt. Die Aufgabe der Politik ist nicht, jede Meinung, jedes verletzte Gefühl zu schützen, aber auch nicht die Mehr­heitsmeinung durchzusetzen, sondern den gesellschaftlichen Frieden zu garantieren und dafür Grenzen zu definieren und durchzusetzen.

Gerd Schwerhoff hat diesen Konflikt mit sehr gut und genau recherchierten Fällen der Gegenwart beschrieben, von der Fatwa 1989 gegen Salman Rushdies Satanische Verse (359-402) über die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten 2005 und Charlie Hebdo 2015 (381-402),[1]. Das alles war zwar schon gut dokumentiert, aber im Kontext der nationalen Gesetzgebungen und der Globalisierung ordnet GS das sehr gut ein mit einem reflektierten ‚westlichen‘ Schwerpunkt (420-432). Das schließt etwa die Sakralisierung der amerikanischen Fahne ein. Gerd Schwerhoff ist Professor für Geschichte (der frühen Neuzeit)[2] und sein Plan ist, diesen modernen Konflikt in einen historischen Zusammenhang zu stellen. Dafür kann er auf seine Habilitation zurückgreifen und den Band Zungen wie Schwerter,[3] um kontrastierend und genealogisch[4] zu beschreiben. Die Vielzahl der Fälle und der Namen an ganz unterschiedlichen Orten und Herrschaftsformen vermag GS doch in seinem Argumentationsfaden einzubinden. Hervorzuheben ist, dass er überall sorgfältig nationale Rechtskulturen unterscheidet, also Frankreich, England, Deutsche Länder je einzeln behandelt. Er zeigt, wie über Jahrhunderte das Fluchen eine Alltagspraxis war. Mussten zunächst die Wort-Täter angeklagt werden von Klägern, die im Fall, dass die Klage unberechtigt war, selbst mit Strafen rechnen mussten, so wurde die Blasphemie zum Offizialdelikt, dem die Gerichte nachgehen mussten und Denunziation gefragt wurde (allerdings mit geringem Erfolg). Hier und in den Fällen der Gegenwart ist GS Meister. Und auf seinem Blog kommen neue Fallbeispiele hinzu.

Fragt sich, wie GS mit den Zeiten zurechtkommt, die er nicht aus eigener Forschung kennt, der Antike und dem Mittelalter. Zu Recht steht als Scharnier zwischen Antike und Mittel­alter die Novelle 77 des Kaisers Justinian 536 n.Chr. GS beschreibt sehr gut den Kontext einer fundamentalen Krise in der bis dahin recht erfolgreichen Regierung des spätrömisch/byzan­tinischen Kaisers. Hungernöte, Epidemien, Klimasturz verstanden der Kaiser und seine Untertanen als „Zorn Gottes“ und stellen ihn, seinen Namen, seine Ehre unter die Unver­letzlichkeit (sakrosankt), die der Staat garantieren und – hier kommt das Wort explizit im Gesetzestext vor – Blasphemie schärfstens bestrafen müsse sowie alles Verhalten contra naturam (72-78). GS entgeht, dass, nachdem im Frühmittelalter das Thema überhaupt keine Rolle spielte, ein entscheidender Punkt das Gesetz wieder in die Gegenwart des 12. Jahr­hunderts zurückholt. Für die erste Stufe der Inquisition, die gegen den eigenen Klerus, holten der Papst und seine Juristen das römische Gesetz des crimen laesae maiestatis hervor, die Majestätsbeleidigung. In der Spätantike sahen sich die Kaiser so unsicher und ängstlich, dass sie für verbale Angriffe auf ihre Majestät die Bürgerrechte aussetzten. Wenn sonst Bürger grundsätzlich nicht körperlich gezüchtigt, keine Folter angewendet, keine Sklaven­aussagen verwendet werden durften, dann wurde dies in dem Fall aufgehoben. Es drohte die Todesstrafe. Auf dem dritten Laterankonzil 1187 übertrugen nun die Juristen dieses ‚Notstandsrecht‘, die Aufhebung rechtlicher Prinzipien, auf die Majestät Gottes.[5] Ansonsten kann sich das Kapitel auf die andere Habilitationsschrift stützen von Dorothea Weltecke. Mit dem crimen laesae maiestatis waren Dämme gebrochen und eine Verbrechensdefinition geschaffen ohne klaren Gegenstand, aber mit den härtesten Strafen. Theologen bestimmten und urteilten über den Tatbestand, die staatliche Gewalt führte das Urteil aus. Nicht, wie GS sagt, fungierten die Herrscher als Stellvertreter Gottes, sondern ‚Gott‘ musste herhalten als schweigender Repräsentant für herrscherliche Gewalt. – Zum Antike-Kapitel nur das Grund­sätzliche: GS nennt es Antike Fundamente (25-79); es lebt von der Unterscheidung zwischen Monotheismus und Polytheismus. Nur, Polytheismus zu verstehen ist komplex. Die Atheis­mus-Prozesse sind nicht ein „Beispiel Athen“, sondern extreme Ausnahme.[6] GS zitiert hier, da er das nicht aus eigener Forschung kennt, vielfach Historiker-Kollegen, kaum aber Religionshistoriker. Insgesamt leidet das Kapitel daran, dass es nicht bestimmt, was man unter ‚Blasphemie‘ verstehen soll, bevor das Delikt gesetzlich durch Justinian definiert wurde: Zulassen anderer Götter, Atheismus, Orthodoxie/Orthopraxie, Götterspott und Anklage gegen Götter im Drama? Schließlich wäre auch der Unterschied zwischen den monotheistischen Religionen herauszuarbeiten, dass im Judentum die Meinungen verschie­dener Rabbis nebeneinander stehen bleiben, ohne eine verbindliche Wahrheit zu definieren, während die Christen sich sehr schnell wechselseitig die Wahrheit absprachen. Auch die jüdische Umkehrung der Blasphemie, das Kiddusch ha-schem („Geheiligt werde Dein Name!“) wäre bedeutend: Um den Namen Gottes nicht zu missbrauchen (durch Taufe oder Konversi­on), gingen Jüdinnen und Juden lieber in den Tod, etwa in den Pogromen des Ersten Kreuz­zugs.

Die kritischen Bemerkungen zu den ersten Kapiteln sollen nicht den Schatten werfen auf das ganze Buch. Es stellt vielmehr die heiße Diskussion, die am Anfang skizziert wurde, in einen historischen Rahmen, der die in vielen Ländern noch bestehenden Gesetze gegen Blasphemie nicht einfach abzuschaffen fordert als Überbleibsel des Fundamentalismus. Blasphemie ist nicht ein anderes Wort für Ketzerei, Unglauben, Anarchie, sondern meist ebenso funda­mentalistisch und provokativ wie die Gegenseite. Ohne Partei zu ergreifen, klärt GS unauf­geregt, wo Grenzen überschritten werden. Im immer wieder aufbrandenden Streit über Toleranz, Nachgiebigkeit, Fundamentalismus, aber auch die Bestreitung des Rechts auf Religionsausübung und Religion als Irrationalismus ist das eine kluge, lesenswerte Aufklärung.

 

Bremen/Much, Oktober 2021                                                                 Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:   auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das Thema ist heiß, auch in seiner historischen Dimension und auch in anderen Religionskulturen mit bedeutenden Konflikten, die bei GS nicht berücksichtigt sind. So Matthias D. Wüthrich, Matthias Gockel und Jürgen Mohn (Hrsg.): Blasphemie. Anspruch und Widerstreit in Religionskonflikten. (RDR 1) Tübingen: Mohr Siebeck 2020. Christoph Lung: Strafbare Blasphemie: Historisches Relikt oder modernes Delikt? (Studien und Beiträge zum Strafrecht) Tübingen: Mohr Siebeck 2019. Benedikt Naarmann: Der Schutz von Religionen und Religionsgemeinschaften in Deutschland, England, Indien und Pakistan. Ein interkultureller Strafrechtsvergleich. Tübingen: Mohr Siebeck, 2021.

[2] Gerd Schwerhoff publiziert noch vor seinem Ruhestand (in zwei Jahren) große Monographien wie den Band zum Ancien régime in der Geschichte der Stadt Köln, Band 7. An seiner Universität, der TU Dresden, gelang es, Sonderforschungsbereiche erfolgreich zu planen und zu realisieren, in denen GS (so kürze ich im Folgenden den Autorennamen mit den Initialen ab) sich jeweils engagierte. Etwa sein programmatischer Aufsatz: Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabset­zung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept. Historische Zeitschrift 311(2020), 1-36. Sein erfolgreichstes Buch ist Die Inquisition. München: Beck 2004.

[3] Am Anfang stand die Bielefelder Habilitationsschrift 1996 Gott und die Welt herausfordern. Theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. bis zum Anfang des 17. Jahr­hunderts. Online zugänglich in gekürzter und korrigierter Version 2004 unter http://bieson.ub.uni-bielefeld.de/volltexte/2004/617/ .

[4] Geschichtswissenschaft hat sich mehr und mehr zur Aufgabe gemacht, Geschichte nicht als Vor­geschichte der Gegenwart zu beschreiben und so eine einlinige Kontinuität zu konstruieren, sondern die Potenzialität und Wahlmöglichkeit der damaligen Gegenwarten herauszuarbeiten (Genealogie hat Friedrich Nietzsche eingeführt) und so die Alternativen zur Gegenwart aufzuzeigen. Hervorragende methodische Einführung bei Helmut Zander, ‚Europäische‘ Religionsgeschichte. Berlin: de Gruyter 2016.

[5] Zur Bulle vergentis die einschlägigen Arbeiten von Helmut G. Walther: Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze. Frankfurt am Main: Lang 2004, 241-336. – Frühmittelalter Nicole Zeddies: Religio et sacrilegium. Studien zur Inkriminierung von Magie, Häresie und Heidentum, 4.-7. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Lang 2003.

[6] Im Rahmen des Polytheismus Auffarth: Aufnahme und Zurückweisung ”Neuer Götter” im spätklassischen Athen: Religion gegen die Krise, Religion in der Krise. in: Walter Eder (Hrsg.): Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr.: Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? Stuttgart: Steiner 1995, 337-365. Ders.: Atheos. Der Neue Pauly 2(1997), 159-160. Jan Bremmer: Atheism in Antiquity. In: M. Martin (ed.): The Cambridge Companion to Atheism. Cambridge, UP 2007, 11-26. Ders.: Youth, Atheism and (Un)Belief in Late Fifth-Century Athens. In: Babett Edelmann (Hrsg.): Sceptic and Believer in Ancient Mediterranean Religions. Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 53-58.

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