Anselm von Havelberg, Epistola apologetica.
Edition, Übersetzung, Kommentar.
Herausgegeben von Jonas Narchi.
(Klöster als Innovationslabore 13)
Regensburg: Schnell+Steiner 2024.
264 Seiten, 16 Farbabb., Hardcover, fadengeheftet.
ISBN: 978-3-7954-3888-3
€ 49,95
Das geregelte Priesteramt ist dem Mönchtum überlegen:
Eine Streitschrift aus dem 12. Jahrhundert
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Angriffslustig setzt sich Anselm von Havelberg für seine Lebensweise als Regularkanoniker ein, als einer aus seinen Reihen, statt weiter zu predigen und Gottesdienste zu halten, sich hinter die Klostermauern zurückzieht als Mönch. Sein „Verteidigungsbrief“ setzt sich mit dem Brief des dortigen Abtes auseinander, wird aber zur Programmschrift, wie wahres Leben in der Nachfolge Christi auszusehen hat.
Ausführlich:
Anselm von Havelberg (gestorben 1158) ist eine interessante Persönlichkeit des Hochmittelalters. Er ist früh begeistert von Norbert von Xanten und dem Lebensentwurf der so genannten Prämonstratenser, deren Orden Norbert begründete.[1] Er wird als eine ebenso begabte wie streitbare Persönlichkeit erkannt und mit dem Bischofsamt von Havelberg betraut, das aber mitten im Gebiet der nicht-christianisierten Wenden liegt. Solange er dort nicht gebraucht wird, reist er im Auftrag der Kaiser Lothar III., Konrad III. und Friedrich I. Barbarossa;[2] vor allem auf der Reise nach Konstantinopel 1136 sollte er die Möglichkeiten einer Union zwischen Ost- und Westkirche ausloten, die vor achtzig Jahren sich wechselseitig exkommuniziert hatten (JN 17).[3] Davon berichtet er an Papst Eugen III. im Anticimenon.[4] Im Anschluss daran wird er aktiv in seinem Bistum und initiiert den Bau des Havelberger Doms (1170 geweiht). 1155 wird er zum Exarch von Ravenna berufen. 1158 stirbt er während des zweiten Mailandfeldzugs Barbarossas. Anselm gehört zu der Elite der Bischöfe. Er studierte gemeinsam mit Wibald von Stablo und Arnold von Wied (Erzbischof von Köln 1131-1158) in Lüttich, wo der von ihm heftig angegriffene Rupert von Deutz lehrte, der Benediktiner-Abt. Anselms Texte waren bisher schlecht ediert, so dass eine kritische Ausgabe hoch willkommen ist.[5] In dem hier neu edierten Text geht es um den Höhepunkt des Streites zwischen den Regularkanonikern, zu denen Anselm gehörte, und den Mönchen, die das Leben der Kanoniker ablehnten; in der klassischen Formel wählten die erst Genannten die vita activa „das aktive Leben“, die Mönche, aber auch die Norbertiner in Prémontré die vita contemplativa (das meditierende Leben).[6]
In seiner Epistola apologetica („Verteidigungsbrief“) verteidigt Anselm das von ihm als Ideal gewählte Leben als Priester in weltlicher Umgebung, nicht abgeschlossen hinter Klostermauern. Anlass für diesen Brief war ein Vorfall, der mitten ins Herz der neuen Bewegung der vita apostolica (Leben wie einst die Apostel – als Wanderradikale) traf.[7] Einer unter den Apostolikern verlässt die Mitbrüder und schließt sich den Benediktiner-Mönchen in der Abtei Huysburg an: Petrus, der schon zum Probst des aufstrebenden Stifts Hamersleben (JN 20) aufgestiegen war und es ausbauen sollte. Das Widmungsbild der Hamerslebener Bibel (sehr gut reproduziert S. 23, Abb. 1) zeigt das Selbstverständnis des Stiftes und stellt die Pröbste dar, darunter Petrus (das datiert den Verrat des Petrus auf 1145/46). Die Kanoniker konnten bei Papst Innozenz II. ein Verbot des Übertritts erwirken. Das Kloster, in das Petrus eintrat, am Nordhang des Harz‘ blühte gerade und hatte seine Klosterkirche 1121 weihen können. Das kurze Zeit später verfasste Chronicon des Klosters schildert die Entstehung der Abtei als vorbildhafte Flucht aus der Welt zweier Nonnen und ihres Beichtvaters. Der Anspruch wird erhoben: nur im Kloster Huysburg kann man sich von allen Beziehungen zur „Welt“ ablösen und sich ganz auf Gott konzentrieren. Gegen Anselms angriffslustige „Verteidigung“ wehrte sich der Abt des Klosters, Ekbert. Die beiden Briefe sind sehr hilfreich für die Lesenden und für den Kontext nötig im Anhang ediert und übersetzt (JN 231-253). Der Abt findet die Forderung skandalös, dass Petrus nach Hamersleben zurückkehren müsse und dort im Mönchshabit sich als letzter in der Reihe aufstellen müsse, eine Demütigung und ein Affront gegenüber dem Mönchtum. Das geschah wohl nicht und letztlich dürften die Kanoniker die Verlierer gewesen sein (JN29).
Der Brief nennt sich zwar eine Verteidigung und verlangt caritas (Bruder-) Liebe von seinem Adressaten, dem Abt. Anselms ‚korrektive caritas‘ ist aber sehr aggressiv: er wirft dem Abt sogar einige supersticiosa vor.[8] Im Stil einer frühscholastischen Disputation stellt er zunächst die Position der Gegnerseite (oft ironisch) dar, um sie dann zu widerlegen durch (1) auctoritates Beweise aus der Bibel und den Kirchenvätern. Dann folgt (2) die scholastische Widerlegung durch „die sichere Wahrheit der unerschütterlichen Vernunft“ (rationes), was Anselm S. 172, 9-15 besonders und selbstbewusst hervorhebt. Anselm erlaubt sich eine Beleidigung (wahrscheinlich: S. 36f) des Rupert von Deutz, dass ein fetter Bauch keinen feinen Sinn erzeuge (S. 138,10 mit Hieronymus, ep. 52 [p. 435 Hilberg CSEL 54]). Ein zentraler Punkt ist die Frage der Erlaubnis zur Predigt und priesterlichen Handlung. Die Beispiele Ekberts von berühmten Mönchen, die als Priester die Gottesdienste für die Laien leiteten und sogar zum Papst aufstiegen, wie etwa Gregor I., dreht Anselm zum Gegenargument: Wenn Mönchtum der höhere Stand sei, dann wären ja die genannten Mönche abgestiegen zum Priester (und heute zum Kanoniker). Mönche seien im Übrigen in der Bibel gar nicht genannt, sondern nur die vita apostolica, die die Kanoniker wie Anselm verwirklichten. Die Perikope von Maria und Martha, in der Marias Zuhören auf die Lehre Jesu höher gewertet wird als die Zubereitung des Mahls für den Gast (Lukas 10,38-42), also die vita contemplativa gelobt wird gegenüber der vita activa, legt Anselm gegen die Tradition so aus, dass doch Jesus derjenige sei, der beides in sich vereint (JN 45. Epistola 194-199).
Jonas Narchi ist eine exzellente Grundlagenarbeit gelungen: (1) Eine kritische Edition auf der Grundlage der Kollation der Handschriften mit (2) kritischem Apparat, (3) den zitierten Autoritäten (mit kursiver Hervorhebung der wörtlichen Zitate), (4) einer Übersetzung, die (5) einzelne Wörter, die sich nicht in einem Wort wiedergeben lassen, erläutert und mit der Verwendung in anderen Texten vergleicht, (5) in Indices aufschlüsselt (Bibelstellen, Personen, Orte; die Bibliographie am Ende der Einleitung 115-129). (6) Das Ganze in der Einleitung biographisch, (7) im lokal-historischen Kontext, (8) in seiner literarischen Form („Brieftraktat“) und (9) in seiner rhetorischen Argumentation erklärt, (10) mit den Gegenbriefen des Abtes Ekbert von Huysburg, (11) der Rezeption des umstrittenen Skandals und (12) der Vorstellung und genauen Beschreibung der acht Handschriften (61-114 mit Abbildungen von Musterseiten). Eine mustergültige Edition einer Korrespondenz, die sich zur rhetorischen Schlacht ausweitete. Wer sich in mittelalterliche Welten einarbeiten will, für die ist das ein sehr guter Einstieg, weit über den Einzelfall hinaus.
Bremen/Wellerscheid, Oktober 2024 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] „Anselm, der als Norbertiner selbst einer umstrittenen neue Bewegung in der Kirche angehörte, wurde damit gewissermaßen zu einem Vordenker der Innovation“ JN 17. Das bezieht sich auf das Gesamtprojekt „Klöster als Innovationslabore“; JN nennt 17 Anm. 33 Literatur.
[2] Die Gesandtschaftsreise des Burchard von Straßburg im Auftrag Friedrichs I. in den Nahen Osten, besonders zu Saladin, den er aber verfehlt, die exzellente Edition und Kontextualisierung von Christine Thomsen. Dazu meine Rezension: Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit. Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. 2018. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).
[3] Im Kontext (mit meiner Rezension): Vermittler, Trickser, Versager: Die lateinischen Kultur-Makler am griechischen Kaiserhof im 12. Jahrhundert. Leonie Exarchos: Lateiner am Kaiserhof in Konstantinopel: Expertise und Loyalitäten zwischen Byzanz und dem Westen (1143–1204). (Mittelmeerstudien 22) Paderborn: Schöningh 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/11/10/leonie-exarchos-lateiner/ (10.11.2022).
[4] Dieser wichtige Text sollte im Rahmen der MGH auf Initiative von Peter Classen ediert werden, es blieb aber bei Vorarbeiten (JN 111-112). Eine deutsche Übersetzung hat Hermann Josef Sieben erstellt (Anticimenon: über die eine Kirche von Abel bis zum letzten Erwählten und von Ost bis West. [Archa Verbi. Subsidia 7] Münster: Aschendorff 2010) Eine kritische Edition des Antikeimenon von Julia Becker und Johannes Büge ist im Literaturverzeichnis „im Erscheinen“ angegeben. Die Vorarbeiten von Johann W. Braun zur Epistola kannten zudem die Handschrift F1 noch nicht, die einen wichtigen Einschub enthält (JN ediert sie im Anhang 246-253).
[5] Jonas Narchi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er forscht dort zu den Schriften Anselms von Havelberg. Seinen Namen kürze ich im Folgenden ab mit den Initialen JN.
[6] Zum Problem die exzellente Edition des scutum canonicorum des Arno von Reichersberg in der gleichen Reihe: Vgl. Auffarth, [Rez] Leben wie die Jünger, aber nicht als Mönche. Eine Streitschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Arno von Reichersberg: Scutum canonicorum. Edition, Übersetzung, Kommentar. Herausgegeben von Julia Becker. Regensburg: Schnell+Steiner 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/15/reichersberg-scutum-canonicorum/ (15. September 2022).
[7] Die vita apostolica-Bewegung im Kontext des 12. Jahrhunderts Auffarth, Die Ketzer ³2016, 19-46.
[8] Das starke Wort (134, Zeile 8, Adjektiv zu superstitio, was meist mit „Aberglaube“ übersetzt wird) übersetzt JN zu schwach mit „Hinzudichtungen“ erklärt aber (in 135, Anm. 12 mit Laurens Janssen 1975) als „illegitime Hinzufügung häretischer Lehrmeinungen, die nicht in der Tradition der Schrift oder der Väter verankert sind.“ – Die Alliteration und Paronomasie scriptum … non tam ociosum quam etiam onerosum (134, Zeile 4) „Schriftstück … nicht gerade mußevoll, sondern vielmehr mühselig“ versucht das rhetorische Element nachzuahmen, muss „mußevoll“ aber in der 135, Anm. 10 erklären. Dies gelingt JN ausgezeichnet, indem er den „ambivalenten Schlüsselbegriff“ aufzeigt: otium verlangt Extrazeit neben der Arbeitszeit, ist aber auch ein Vorwurf an die Mönche, die solche Zeit in Untätigkeit verbringen. Das vacare (134, Zeile 13) „zu widmen“ wäre besser mit „sich (die freie) Zeit zu nehmen (für die Lesung der Heiligen Schriften)“ wiederzugeben (statt sie im otium zu verbringen).