Ratschlag, ob man den Juden …

Johannes Reuchlin: Ratschlag, ob man den Juden
alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll.

Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch.
Neuedition und Neuübersetzung.
Hrsg. und übers. von Jan-Hendryk de Boer.
Ditzingen: Reclam 2022. 173 S.
6,80 €
ISBN: 978-3-15-014248-6.

 

Reuchlins Einspruch 1510: Juden haben ein Recht auf ihre Bücher
– sie sollen nicht verbrannt werden.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Reuchlins Gutachten 1510 lehnte den Plan ab, die Schriften der Juden zu vernichten. Wer in ihnen Kritik am und Schmähung des christlichen Glaubens behaupte, müsse sie erst einmal im hebräischen Original lesen und aus den Quellen belegen.

Ausführlich: Mit diesem kleinen Band macht der Verlag Reclam wieder auf einen Text aufmerksam und der Herausgeber Jan-Hendryk de Boer hat Vorzügliches geleistet, um den Text sprachlich zugänglich zu machen und ihn in die zeitgenössische Diskussion einzu­ordnen mit seinen Kommentaren.[1]

Es geht um ein Gutachten zu dem drohenden Entscheid des Kaisers Maximilian, alle religiösen Bücher der Juden zu verbrennen außer der Tora. Das Gutachten ist gedruckt,[2] während es sich bei den Büchern der Juden um Handschriften handelt. Als Kenner der jüdischen Tradition aus eigener Lektüre des Hebräischen erhielt er den Auftrag zu dem Gutachten. Der Kaiser wollte andere Stimmen heranziehen als die des Judenhassers Johannes Pfefferkorn (1469-1521). Dieser war in einer jüdischen Familie geboren, bekehrte sich aber (wohl 1504) unter dem Einfluss der Kölner Dominikaner zum Christentum. Er kannte also die jüdische Tradition und stellte sie verzerrt und böswillig dar, ein fanatischer Renegat, wie andere vor ihm, etwa Raimundus Martini, der mit für die Talmudverbrennung 1269 in Paris gesorgt hatte.[3] Neben der Auslegung der Bibel in Midrasch und Talmud, sollten vor allem die christenfeindlichen Polemiken vernichtet werden, das Nizzahon und die Toledot Jeschu, ein Anti-Evangelium.[4] Die hatte man aber bei der Konfiszierung erst in Frankfurt, dann in Worms und Mainz u.a. nicht gefunden, obwohl man etwa 1500 Bücher beschlagnahmt hatte, die Grundlage für den Gottesdienst und Kultur der Juden. Diese Konfiskation geschah in des Kaisers Namen, denn 1509 konnte Pfefferkorn bis zum deutschen Kaiser Maximilian vordringen und seine Forderung vortragen. Gedrängt wurde er von den Dominikanern in Köln; die konnten kein Hebräisch und hatten ziemlich sicher kein Exemplar des Talmud. Pfefferkorn bezog sich also vor allem auf den „Ketzersegen“ im 18-Bitten-Gebet, den er in drei Sprachen drucken ließ. Reuchlin weist nach, dass die Übersetzung böswillig sei und die zwei wichtigsten Wörter gar nicht im Text stehen.[5] Vielmehr verlangte er, dass man die Bücher der Juden studieren sollte, dafür konnte er sich auf das Wort Jesu berufen (Johannes 5,39): scrutamini scripturas studiert die Schriften! Und weist in den Quellen nach, was ihr behauptet. Das ist der humanistische Grundsatz ad fontes! An die Quellen! Der originale Wortlaut ist entscheidend, nicht Hörensagen und Traditionen aus zweiter Hand. Reuchlins Gutachten war das einzige, das die Bücherverbrennung ablehnte, ausführlich untermauert mit philologischen, theologischen, religiösen und humanistischen Gründen, nicht zuletzt aber juristischen, stellt er sich doch als „in kaißerlichen rechten doctor “ vor (6). Es zog einen langen Streit nach sich fast bis zu Reuchlins Tod, mit Polemiken der Befürworter, Prozessen, Einmischung des Vatikans, Lehrverurteilung. Pfefferkorn überzog den Ratschlag mit Beleidi­gungen des Verfassers in dem ein halbes Jahr später gedruckten Handspiegel, auf den wiederum Reuchlin mit dem Augenspiegel antwortete mit einer Brille auf der Titelseite, dass er den klaren Durchblick habe, während der Handspiegel blind geworden sei. Der Kölner Dominikaner-Prior van Hoogstraeten strengte sogar einen Ketzerprozess an. Die Reuchlin unterstützenden Humanisten aus Gotha und Erfurt veröffentlichten Briefe von und an ihn unter dem Titel  clarorum virorum epistolae und parallel gefakte Briefe in fehlerhaftem Küchenlatein, die angeblich die Kölner Scholastiker verfasst hätten und so zum Gespött wurden, die obscurorum virorum epistolae 1515 und 1517 (163-165).[6]

Bücherverbrennungen sind ein Versuch, „den Irrtum zu liquidieren“.[7] In der Antike und im Mittelalter, also vor der Möglichkeit des Buchdrucks und damit zahlreicher Kopien eines Buches, bedeutete das, dass das einzige Exemplar (oder eines von ganz wenigen) vernichtet wurde. So berichtet die Apostelgeschichte 19,19, dass in Ephesos Gebrauchsanweisungen, Hefte, Bücher für magische Rituale konfisziert und verbrannt wurden.[8] Die Beispiele, die Werner untersucht und darlegt, zeigen, dass es keineswegs nur um Zensur geht oder jemanden an den Pranger zu stellen, sondern um Vernichtung eines falschen Gedankens, der die Wahrheit aufzufressen droht. Der letzte von Werner erwähnte Fall (525-528) ist die Ver­brennung von Büchern und deren Autor Michel Servet 1553 in Genf, dahinter stand Calvin. Und hier, wie auch in vielen der von Werner untersuchten Fällen, werden Buch und Autor (oder Besitzer) verbrannt. Es geht also um mehr als „Zensur des Geistes“. Juden gab es, als die Verbrennung ihrer Bücher angeordnet werden sollte, nur noch wenige innerhalb der Grenzen des Alten Reiches, denn sie waren ab Mitte des 14. Jahrhunderts, also 160 Jahre zuvor, vertrieben oder gar getötet worden als vermeintlich für die Pestwellen seit 1348 Verantwortliche. Langsam kehrten wieder Juden zurück. Luther hat sie 13 Jahre später ermuntert, sich der „evangelischen“ Seite anzuschließen (dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1523), danach aber 1537 auf die Vermittlungsbitte des Vertreters der Juden, Josel von Rosheim (1476-1554) gar nicht reagiert und gegen Ende seines Lebens eine Judengesetzge­bung vorgeschlagen, die die Vernichtung der Bücher der Juden miteinschloss.[9] Immerhin gab es den in der Nähe von Reuchlins Wirkungsort Pforzheim geborenen Melanchthon, der ebenfalls exzellent Hebräisch konnte und als der Philologe und Wissenschaftler später in Wittenberg arbeitete. Dieser hatte auch nachweisen können, dass die 1510 unter dem sächsischen Kurfürsten Joachim I. der Hostienschändung angeklagten 38 Juden unschuldig den Märtyrertod erlitten hätten, und so erreichte Josel die Wiederzulassung der Juden in Sachsen.

133f zu Anm. 72 sollte man hinzufügen, dass die Legende von der Septuaginta-Übersetzung in einem weiteren Reclam-Büchlein präsentiert ist.[10]

Wieder hat der Reclam-Verlag die Initiative ergriffen, einen wichtigen Text zu entdecken, durch einen kompetenten Herausgeber präsentieren und kommentieren zu lassen. Neben den antijüdischen Schriften und Stimmung kurz vor und während der Reformationszeit ein entschiedener und ebenso wohlbegründeter Einspruch.

 

Bremen/Wellerscheid, September 2022                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jan-Hendryk de Boer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Geschichtswissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. Seine Dissertation (Göttingen bei Frank Rexroth 2014) beschäftigte sich mit Reuchlin. Sie wurde veröffentlicht unter dem Titel Die Gelehrtenwelt ordnen. Zur Genese des hegemonialen Humanismus. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 101). Tübingen: Mohr Siebeck 2017. Der vorliegende Text stand im Mittelpunkt der vorausgehenden Monographie Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 94.) Tübingen 2016. Seit 2022 ist er Mitarbeiter im interdisziplinären Forschungsprojekt „Kompromisskulturen“. Seine Homepage findet sich unter Personen im Historischen Institut: Jan-Hendryk de-Boer (uni-due.de) (4.9.2022). Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen JHB.

[2] Widu-Wolfgang Ehlers hat sie Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1999, 13-168 kritisch ediert (dazu JHB 113).

[3] Raimundus Martini (1220-1285), Pugio fidei. JHB zu 31,33. Es gibt jetzt eine Teilübersetzung von Görge K. Hasselhoff: Texte zur Gotteslehre, 1(2014). Texte zur Gotteslehre, 2 (2022). Pugio fidei I-III, Lateinisch, Hebräisch/Aramäisch/Arabisch, Deutsch. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters) Freiburg: Herder

[4] Der knappe Kommentar 115-137, hier zu 13,1, ist sehr gehaltvoll und auf dem Stand der Forschung. Zur Toledot Jeschu Peter Schäfer: Jüdische Polemik gegen Jesus und das Christentum. Die Entstehung eines jüdischen Gegenevangeliums. München: Carl Friedrich von Siemens Stftung, Themen103, 2017. Weiteres in Schäfer, Die Geburt des Judentums  aus dem Geist des Christentums 2020, dazu meine Rezension: Geburten und Geschwister: Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/08/19/die-geburt-des-judentums-aus-dem-geist-des-christentums-von-peter-schafer/#comment-79 (19.8.2010).

[5] JHB zu 7,7 und 27,15 (Seite 120). Zu Pfefferkorn Hans Martin Kirn: Das Bild vom Judentum im Deutsch­land des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns. (Texts and studies in medieval and early modern Judaism 3). Tübingen Mohr 1989.

[6] Obscurorum bedeutet gegenüber clarorum „unbedeutende, Winkelgelehrte“. Dt. Dunkelmännerbriefe. Zweite Abteilung (projekt-gutenberg.org) (5.9.2022).

[7] Die folgende hervorragende Dissertation (Göttingen bei Otto Gerhard Oexle 2005) ist leider nicht aufgeführt und offenbar unbekannt: Thomas Werner: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter. (VMPIG 225) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007.

[8] Apostelgeschichte 19,19. Bauer-Aland, Wörterbuch zum NT 61988, 282 s.v. βίβλος, ἡ führt als Überset­zung zu der Stelle stracks an „Zauberbücher“, wobei die geheftete Form, der Codex noch die Ausnah­me war. Τὸ βιβλίον das Buch ist im Plural zunächst die Bezeichnung für die Bibel, die noch aus vielen τά βιβλία bestand. Erst später, als die Bücher in einem Codex ihren festen Platz hatten und man nicht mehr ein einzelnes Buch herausnehmen oder weglassen konnte, musste man entscheiden, welches Buch in den Kanon gehören sollte, und dann wurde daraus ‚die Bibel‘, ἡ βιβλία. Dazu Martin Wallraff: Kodex und Kanon: Das Buch im frühen Christentum. Berlin: De Gruyter 2013. Weiter die Arbeit von Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. (Bibliothek des Buchwesens 7). Stuttgart: Hiersemann 1981. Werner, Irtum 2007, 144-232.

[9] Noch immer ist das Buch von Selma Stern 1959 die maßgebliche Literatur zu Josel; 2008 ins Französische übersetzt. Der folgend genannte Fall bei Stern S. 137. Eckardt Opitz: Johannes Reuchlin und Josel von Rosheim. Probleme einer Zeitgenossenschaft. In: Arno Herzig, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Reuchlin und die Juden. (Pforzheimer Reuchlinschriften 3) Sigmaringen:  Thorbecke, 1992, 89–108. Luthers Vorschlag einer Gesetzgebung in Die Juden und ihre Lügen 1543.

[10] Aristeas: Der König und die Bibel. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen. Ditzingen: Reclam 2008. Dazu meine Rezension Septuaginta deutsch. Hrsg. von Wolfgang Kraus; Martin Karrer 2008. – Aristeas: Der König und die Bibel. hrsg. von Kai Brodersen. 2008 Rezension für http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2009/06/30/septuaginta-deutsch-herausgegeben-von-wolfgang-kraus-und-martin-karrer/ (30.6.2009).

Neuwirth: Spätmittelmekkanische Suren

Hg.: Angelika Neuwirth

Der Koran. Band 2.2: Spätmittelmekkanische Suren.
Von Mekka nach Jerusalem. Der spirituelle Weg der Gemeinde
heraus aus säkularer Indifferenz und apokalyptischem Pessimismus.

Handkommentar mit Übersetzung von
Angelika Neuwirth und Dirk Hartwig.

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2021

ISBN 978-3-458-70057-9

52 €

 

 

Der Kampf um Jerusalem:
Historische und ideologische Eroberungen,
gespiegelt im Entstehungsprozess des Koran

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Dringend nötig war ein guter Kommentar zum Koran. Aber dieser von Angelika Neuwirth ist so exzellent, wie ihn niemand erwarten konnte. Basierend auf der umfassenden Grundlagenforschung des Corpus Coranicum, zu dem sie viele kreative Beiträge geleistet hat, setzt sich dieser dritte Band mit der Zeitgeschichte auseinander. Während die Sassaniden 614 Jerusalem physisch erobern, gewinnt der Koran Jerusalem als sein (erstes) geistiges Zentrum.

Ausführlich: Lange erwartet erscheint jetzt der dritte Band des Handkommentars zum Koran, das international herausragende Werk, das den Koran wissenschaftlich erschließt, genau zu dem Zeitpunkt, da der Bedarf nach solch einem Grundlagenwerk sehr hoch ist, und trotz wichtiger anderer Werke alle bei weitem überragt.

Angelika Neuwirth hat das Grundlagenwerk des Corpus Coranicum konzipiert, die arbeitsteilige Forschung aufgestellt, fähige MitarbeiterInnen gefunden und öffentlich zugänglich gemacht als noch nicht abgeschlossenes, aber in ständiger Bearbeitung und Erweiterung begriffenes Instrument. Für solche Großprojekte, die die Arbeitskraft einer Einzelforscherin überschreiten, waren die Akademien der Wissenschaft gegrün­det worden. Das Corpus stellt die Forschungen zum Koran auf eine neue, stabile Grundlage der historisch-kritischen Forschung, wie sie für die Hebräische Bibel und ihre griechische Übersetzung zwar schon lange im Gang ist, aber gerade neu unternommen wird.[1] Für die kritische Textgrundlage des Neuen Testaments hat die Arbeit Kurt Aland vor langer Zeit angestoßen, die Ergebnisse erschei­nen jetzt gedruckt nach und nach. Das heißt, auch für die beiden Teile der Bibel ist die Arbeit an einer kritischen Ausgabe (wieder) in vollem Gange. – Die Ergebnisse des Corpus Coranicum sind sofort über das Internet abrufbar. Dort heißt es einleitend: „Das Vorhaben macht [1] die frühen Handschriften in Bild und Text zugänglich. Parallel zur schriftlichen Textüberlieferung wird [2] die islamische Lesarten­literatur systematisch dargestellt. Damit liefert Corpus Coranicum erstmals eine historisch gesicherte Textbasis. Aufbauend auf der historisch-kritischen Erschließung der Textgeschichte erstellt das Vor­haben [3] einen chronologisch-literaturwissenschaftlichen Kommentar, unter Verwendung der Datenbank [4] „Texte aus der Umwelt des Korans“ (TUK); so wird erstmalig die Entwicklung der islamischen Urgemeinde als Interaktion zwischen dem Propheten und ersten Adressaten in Mekka und Medina rekonstruiert.“

Wie die früheren Bände (die ich auf dem gleichen Blog besprochen habe.)[2] umfasst der Band nach der Einleitung (19-59) und erschlossen durch eine sehr genaues Register einschließlich eines analytischen Sachregisters für beide Bände 2/1 und 2/2, dem Literaturverzeichnis, einer Liste der sekundären Zusätze für jede der elf Suren dieses Bandes folgendes: Wie in den vorausgehenden Bänden wird jede Sure erst einmal in (wissenschaftlicher) Umschrift des arabischen Textes präsentiert, dann in ein klares modernes Deutsch übersetzt (was schon viele Entscheidungen zur Interpretation voraussetzt). Ein Abschnitt Textkritik, dann eine Gliederung der Sure ‚Komposition‘. Die Proportionen der Verse, der kursorische Verskom­mentar. Und eine zusammen­fassende Analyse und Deutung. Die sprachlichen Erklärungen einzelner Begriffe und Wörter sind jetzt integriert in den Kommentar.[3] Abschließend eine surenspezifische Bibliographie.

Die These von AN mit dem Begriff des Prätextes ist ja, dass der Koran „in einem gemeinsa­men Denkraum der Spätantike“ entstanden ist, in dem neben altarabischer Dichtung vor allem die religiösen Gottesdienste der monotheistischen Gemeinden der Ausgangpunkt waren, aus dem dann die neuen Texte des Islam formuliert wurden. Diese Intertextualität beruht also nicht, wie der Koran an einigen Stellen vorgibt und in fundamentalistischen Interpretationen absolut gesetzt wird, einzig auf dem Propheten Mohammed, der unmittel­bar Offenbarungen empfing und (wie?) niederschrieb, sondern ist die ‚Fortschreibung‘ von Rezitationen und Gesängen monotheistischer liturgischer Gebete, Psalmen, Sprüche, also kreative Arbeit der Gemeinde; der Prophet als ‚Autor‘ rückt in den Hintergrund.[4]

In den mittelmekkanischen Suren, die AN jetzt noch einmal unterteilt in frühe und späte, setzt eine ‚Biblisierung‘ des altarabischen Weltbildes ein, also eine intensive Aufnahme, Übernahme, Korrektur, noch nicht so sehr eine Abgrenzung, wie sie dann in Medina einsetzt.[5] Die späteren mittelmekkanischen Suren nehmen die aktuelle Zeitgeschichte auf, nämlich die grundstürzende Machtverschiebung, als es den sassanidischen Persern gelang, im Jahre 614 Jerusalem zu erobern und die Reliquie des Heiligen Kreuzes als Beute weg­zuschleppen. Darauf reagierten viele Christen mit der Vorstellung, die Apokalypse sei nunmehr im Gange (und 20 Jahre später setzten sie dieses Interpretationsmuster nach der islamischen Eroberung fort).[6] In Mekka hingegen lehnte man diese pessimistische Diagnose der Gegenwart ebenso ab wie den Messianismus. Die Suren der Zeit zeichnen vielmehr das Bild des gerechten Herrschers (David, Salomon, Alexander der Große) als Auftrag an den aktuellen byzantinischen Kaiser Herakleios.

Der dritte Band des Handkommentars fasst sehr prägnant zusammen, was in der großen Forschungsarbeit und mit vielen Mitarbeitern im Corpus Coranicum erarbeitet wurde. Aber, viel mehr noch, in Entwicklung der Konzepte des Koran aus dem ‚gemeinsamen Denkraum der Spätantike‘ hat AN die Aufeinanderfolge der Suren erklärt: Sure 17 ist eine der großen ‚Programm setzenden Suren‘ (55), deren Themen dann in den folgenden Suren in anderen Schwerpunktsetzungen differenziert werden. Die „Nachtreise“ lässt in einer Vision den Propheten von Mekka aus das ‚ferne Heiligtum‘ sehen ‚im gelobten Land‘. Später wird die Episode ausgemalt als Wunder-Reise auf einem Reittier mit Menschengesicht, das in einer Nacht Mohammed die fast 1500 km hin und die gleiche Strecke zurück trägt. In Jerusalem warten die Stifter der anderen Religionen schon, damit er, der Jüngste, als Vorbeter das Ge­bet anleite. In der gleichen Nacht wird die Religionsgeschichte mit einer letzten Offenbarung vollendet, indem Gott dem Mohammed alle Geheimnisse des Himmels und der Erde zeigt. Vor der Gottesaudienz steigt Mohammed auf einer Stufenleiter (mirağ) über alle sieben Himmel auf, besucht und spricht mit den dort aufgenommenen Helden der älteren Religi­onen. Aber nur ihm, als einzigem Menschen wird der direkte Zugang zu Gott gewährt.[7] In der Sure 17 ist das alles ohne die Materialisierung in Vorstellbar-Unvorstellbares gestaltet. Die Sure 17 ist eine der bedeutendsten Suren, in der sowohl der Eintritt des Islam in die Weltgeschichte der Religionen und sein Anspruch als die letzte und höchste Offenbarung unter den monotheistischen Weltreligionen ausgesprochen wird: Jerusalem als erstes Zentrum des Judentums, des Christentums, ja als Nabel der Welt, wird nun auch das Zentrum des Islam. Erst später werden sich die Muslime zum Gebet nach Mekka wenden; Jerusalem ist die erste qibla (Gebetsrichtung). Die Entrückung erfolgt „nach dem fernen Heiligtum masjid al aqsa in dem von Gott gesegneten Land“. Diese Umschreibung, die später auf die Al-Aksa-Moschee und den Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem im Heiligen Land festgelegt wird, versteht AN als zugleich irdisches und transzendentes Heiligtum, das oszilliert zwischen Himmel und Erde (46; vgl. 796; in der Sure selbst sieht AN 87 in der An­fügung der Verse 82-111 eine kritische Diskussion). Die Differenz zu dem steingebauten Tempel/ Moschee macht die Sure 17 deutlich, indem der jüdische Tempel als Ruine vorge­stellt wird (55; Q 17:7, S. 105f).[8] Nicht weniger als 140 Seiten umfasst die Kommentierung dieser programmatischen Sure, die Jerusalem zum ersten Zentrum der neu entstehenden Religion setzt. Als Titel wählt AN, anders als in der Einleitung, wo sie „Nachtreise“ genannt wird, „Der Auszug“, um an Moses, den Aufstieg zum Sinai, die Übergabe des Dekalogs (Q 17:22-39, S 189-200) anzuschließen, also an die Geburtsstunde der jüdischen Religion (99-102; 186-189).

Ein gutes Beispiel für den ‚gemeinsamen Denkraum‘ ist die etwas isoliert dastehende Sure 18, ‚die Höhle‘ (S. 751-860; also noch einmal 110 Seiten), in der es um Wunder geht. Die Sure gibt Rätsel auf, welches der durchgängige Faden sei – oder ist sie ein Textglomerat? Anders als die vielen Bearbeitungen dieser Sure folgt AN ihrem Prinzip der Verbindung der Sure mit vorausgehenden und folgenden Suren (779. Alttestamentler würden sagen kanonische Leseweise). Außergewöhnlich ist, dass hier nicht biblische Gestalten vorgestellt werden, sondern aus der Alexanderlegende (844; der Name wird nicht genannt, sondern sein Bei­name, der „Zweigehörnte“, also Alexander der Große, der sich mit dem Ammon-Orakel in Ägypten identifiziert als Zeus Ammon mit Widderhörnern) und die Siebenschläferlegende.[9] Diese Geschichte wird gar nicht ganz erzählt, man muss sie eigentlich schon kennen:[10] [In Ephesos] werden die Christen in der Christenverfolgung des Kaisers Decius mit dem Tode bedroht. Sieben junge Männer verstecken sich in einer Höhle (daher der Name der Sure) und werden dort eingemauert. Als sie wieder aufwachen, geht einer von ihnen Brot kaufen. Als er bezahlen will, weist die Bäckerin das Geld zurück: Das Geld ist völlig veraltet, genau gesagt, sie haben 187 Jahre (so die christliche Legende) bzw. 309 Jahre (Q 18:25) in der Höhle geschlafen. Gott hat die Monotheisten gerettet und sie wiederauferweckt, wie das Christen, Juden und Muslimen verheißen ist als Leben im Paradies. Man baut eine Märtyrerkapelle über ihnen. Die Aufnahme der Legende im Koran (788-799) ist polemisch, ironisch und bei der Zahl der Eingeschlossenen geradezu eine Persiflage (Q 18:22) „der Hund mitgezählt oder nicht?“ Die Sure depotenziert die christliche Wundergeschichte mit allen übertriebenen Mirakeln (cadjaba 798) und fordert die Solidität, die ‚Geradeausgerichtetheit‘ der Schrift (als Buch kitab). Übrig bleibt das Wunder der Auferweckung der Toten. Der durchgehende Erzählfaden der Sure ist die Eschatologie, in die auch die Reitervölker aus dem Norden, Gog und Magog, gehören (846-856), die Alexander (in der Legende) in einem Tal eingesperrt hat, aber die Mauer (oder eisernen Tore) werden am Ende doch nicht halten. So wichtig mächtige Kaiser sind, sie haben doch nicht die apokalyptische Qualität eines Endkaisers.[11]

Wissenschaft der Extraklasse erklärt den Koran auf sehr prägnante Weise, fast nebenbei die arabischen Begriffe, ihre Gegenbegriffe im Hebräischen und im Griechischen der beiden anderen monotheistischen Religionen. Aber faszinierend, wie die innere Entwicklung der Entstehung des Koran nicht nur mit den Schwesterreligionen zusammen geführt wird und schließlich die Zeitgeschichte der Eroberung Jerusalems reflektiert wird, dabei aber auch entdramatisiert gegenüber Apokalyptik und Messianismus.

 

Bremen/Wellerscheid, 23. Februar 2022                                                   Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Dazu etwa meine Rezension Mehrsprachigkeit in der Migration: Das Beispiel der griechischen Übersetzung (Septuaginta) der Hebräischen Bibel. Eberhard Bons; Jan Joosten (Hrsg.):  Die Sprache der Septuaginta. (Handbuch zur Septuaginta Band 3) [LXX-H 3] Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus [2016]. In: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/08/24/die-sprache-der-septuaginta/ (24.8.2017). – Hans Ausloos, Bénédicte Lemmelijn (Hrsg.): Die Theologie der Septuaginta / The Theology of the Septuagint. (Handbuch zur Septuaginta 5) Gütersloh: GVH 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/05/16/theologie-der-septuaginta/ (16.5.2021).

[2] Den Bänden des Handkommentars ging voraus das Buch, das viele Grundzüge der Forschung schon vorstellte, gewissermaßen als Einführung: Der Koran – als historisch-spätantiker Text gelesen und erklärt:

– Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike 2010.  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ (1.März 2011). –

– Endlich: ein Kommentar zum Koran. Der Koran – Handkom­mentar mit Übersetzung von Angelika Neuwirth. Bd. 1: Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011  (4.Dezember 2011) : https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/24/fruehmekkanische-suren/ 

Der Koran 2.1: Frühmittelmekkanische Suren. Angelika Neuwirth. Berlin: Suhrkamp 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/03/12/neuwirth-fruehmittelmekkanische-suren/  (12.3.2019).

[3] Wie sich der Kommentar jetzt von den beiden vorausgegangenen unterscheidet, weniger arabistische Worterklärung, mehr Wert auf den argumentativen Kontext, wodurch auch die Deutung der Einzel­wörter begründet wird, S. 26-30. Zum Mitarbeiter-Team, darunter dem Judaisten Dirk Hartwig als Koautor S. 29.

[4] Während Reinhard Schulze den „Ruf“ (so versteht er das Wort Koran) als Ausgangspunkt erkennen will (vgl. meine Rezension Die Entstehung des Koran und die Genealogie des Islam. Reinhard Schulze, Genealogie des Koran 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/01/07/schulze-der-koran-und-die-genealogie-des-islam/ (7.1.2017), umgeht AN diese These der Inspiration weitgehend und übersetzt Koran mit „Rezitation“. Da sie die Diskussionen in ihrem Studium und Vorlesungen in der arabischen Welt in Beirut, Jeru­salem, Kairo sehr genau kennt, enthebt sie sich der hitzigen, aber fruchtlosen Auseinandersetzung, indem sie für ihre Forschung „einen europäischen Blick“ beansprucht, gleichzeitig aber auch an die muslimischen Kommentare und an ältere Arbeiten islamischer Gelehrter anknüpft. Vgl. den FAZ-Artikel von ihr u.a. „Corpus Coranicum“: Koran, aber im Kontext – Eine Replik – Debatten – FAZ.

[5] Während der Koran in der Rezension des Uthmar eine Reihenfolge im Wesentlichen nach der Länge der Suren vornimmt, haben Theodor Nöldeke (1836-1930), Friedrich Schwally (1863-1919) und Gotthelf Bergsträsser (1886-1933) eine historische Reihenfolge erkannt und begründet, die sich bis heute weitgehend bewährt hat. In der zweiten Auflage der Geschichte des Qorâns von Theodor Nöldeke, zuerst Göttingen: Dieterich 1860, Teil 3 ; Die Geschichte des Korantexts. Leipzig: Dieterich ²1938. Ein OCR Digitalisat Geschichte des Qorāns: Die Geschichte des Qorāntexts (muhammadanism.org) (7.6.2021).

[6] Zu [Methodios‘] Apokalypse im 7. Jh. und ihrer Übertragung nach Latein-Europa durch Adso im 9. Jh. siehe Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Sicht. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 86-90. Vgl. AN 850f.

[7] Das wird in der Hebräischen Bibel dem Henoch zugeschrieben (Genesis 5,18-24), im Koran heißt er Idris. Seine Entrückung in den Himmel zu Gott hat eine reiche Literatur von Henochschriften hervor­gerufen, die aber in der christlichen Tradition zensiert wurden und nur an den Rändern (äthiopisch, slawisch) überliefert wurden. Die erzählerische Ausmalung der Nachtreise und der Himmelsleiter (auch ‚Himmelfahrt Mohammeds‘ genannt, aber das ist nicht vergleichbar) in der Biographie des Propheten von Ibn Ishaq (gestorben 787/88): in der deutschen Übersetzung von Gernot Rotter (1981, München: Goldmann 1988), 78-83 Nachtreise; 83-86 Himmelsreise.

[8] Die Zitierweise setzt sich durch: Q [für Qoran] Zahl der Sure, Doppelpunkt, Zahl des Verses (wie englischsprachig auch bei Bibelstellen üblich). – Das Projekt eines Wiederaufbaus des (jüdischen) Tempels negativ prophezeit in Q 27:4-8, S. 596.

[9] AN bezieht sich auf Hannelies Koloska, die einen weiteren (nicht genannten) Beitrag geschrieben hat in Tobias Georges (Hrsg.): Ephesos. Die antike Metropole im Spannungsfeld von Religion und Bildung (COMES Civitatum Orbis MEditerranei Studia 2) Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 361-374.

[10] Hermann Kandler: Siebenschläfer. Enzyklopädie des Märchens 12(2007), 662-666. Legenda aurea Nr. 101 (ed. Bruno Häuptli, FC, Freiburg: Herder 2014, 1306-1315) mit dem Streit, wie lange sie geschlafen hätten. Märtyrerkapelle. Der griechische Text ist in den Texten aus der Umwelt des Koran im Original. Übersetzung und Kommentar zu finden, wenn man Sure 18,9 eingibt: Corpus Coranicum (21.2.2022).

[11] Zu dieser Figur Hannes Möhring: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung. (Mittelalter-Forschungen 3) Stuttgart: Thorbecke 2000, der auch den Mahdi mit behandelt 375-414.

 

Judas und der Antisemitismus

Diskussionsbeiträge – Unterrichtsvorschläge – Kopiervorlagen

Dieser Artikel hat das Ziel, antijüdische Vorurteile anhand einer zweitausendjährigen biblisch-kirchlichen Tradition zur Person des Judas kritisch zu hinterfragen. Geeignet auch für Zeiten eines eingeschränkten Unterrichtsbetriebs.

(Download-Links am Ende dieser Seite)

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Modul 10: „Leiden und Sterben (I)“

Zugangswege
Mut zur Geschichte!
Die Rolle von Römern und Juden im Prozess Jesu
Jesus – ein Gekreuzigter unter tausenden?

Jerusalem Modell, herodianischer Tempel
Jerusalem Modell, herodianischer Tempel. Das Modell befindet sich im Israel Museum beim Schrein des Buches. – Quelle: Wikimedia Commons. Foto: Berthold Werner

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  • Die Rolle von Römern und Juden im Prozess Jesu

Kurzkommentar

Will man das theologisch höchst anspruchsvolle und überaus komplexe Thema des Leidens und Sterbens Jesu Christi im S II-Bereich auf angemessene Weise pädagogisch vermitteln, so ist – wie hier geschehen – die Unterteilung in einen „biographischen“ (Modul 10) und einen theologischen (Modul 11) Bereich naheliegend. Natürlich ist es für die Lehrkraft auch hier mit einer „bloßen Verkündigung“ der wesentlichen Inhalte nicht getan. Vielmehr werden die Schüler/innen im vorliegenden Modul – in dem, wie auch andernorts, kein Lernprogramm, sondern ein je nach Kurssituation umsetzbares Auswahlangebot vorgelegt wird – durch zahlreiche eigene Aktivitäten selbst in die Vermittlung der schwierigen Materie miteingebunden. Eine gründliche logistische Planung ist darum unerlässlich. So sollen z.B. die Schüler/innen, um mit den vielschichtigen Aspekten vertraut zu werden, die biblischen Texte nicht nur lesen – vielmehr steht für sie eine virtuelle Reise durch das heutige Jerusalem auf dem Plan, bei der mit Hilfe des PCs Orte erkundet werden, die in Jesu Passion eine Rolle spielten, und Stätten zu sehen sind, etwa die Treppe an der Südseite des Jerusalemer Tempelberges, an denen sich wohl schon Jesus selber aufhielt. Außerdem werden zu fünf zentralen Aspekten, zu denen so mancherlei Unklarheiten im Umlauf sind (u.a. „Pontius Pilatus“; „Judas Iskarioth“; „Die Strafe der Kreuzigung“; anderes fakultativ), auch kooperativ realisierbare GFS-Themen angeboten. Nicht zuletzt werden die Schüler/innen beauftragt, den so häufig diskutierten – und wie oft so verhängnisvoll entschiedenen (!) – Streit, ob die Römer oder die Juden am Tod Jesu schuld seien, als (auch in größerem Rahmen durchführbare) aktuelle Meinungsumfrage neu zur Sprache zu bringen. Dabei dürfte es ein interessanter Nebenaspekt sein zu beobachten, in welchem Bezugsrahmen sich hier christlich-konservative Frömmigkeit zu einem aufgeklärten Bibelverständnis bewegt. Am Schluss sollen die Schüler/innen im Internet Bilder des „Original“-Felsens vom Berg Golgatha ausfindig machen – und sich damit gleichzeitig einer neuen, anderen Herausforderung stellen: zunächst vielleicht einmal nur als Aussage zu akzeptieren, dass Jesus zwar einerseits ein „Gekreuzigter unter tausenden war“, dass sein Tod aber mit dem biologischen Ende aller anderen Menschen ganz und gar unvergleichbar ist. Damit ist der Weg aufgezeigt zu einer anderen Dimension – und der Schritt hergestellt zum nächsten Modul.

Unterrichtsziele

Durch die intensive Beschäftigung mit den sachlichen und heute nachprüfbaren Inhalten der biblischen Passionstexte erwerben die Schüler/innen eine fundierte Informationsgrundlage, die sie dazu befähigt, bei diesen immer wieder diskutierten Themen kompetent mitzureden. Jenseits aller nur fragmentarischen Kenntnisse, Halbwahrheiten oder gar Unwahrheiten erhalten sie, erarbeitet auch durch eigenes intensives Engagement, in der Religion, der sie angehören, ein solides Basiswissen, das ihnen den Zugang zu theologischen Dimensionen möglich machen kann. Zugleich erkennen sie, dass bei den biblischen Passionstexten trotz deren – auch durch eigene Recherchen nun sichtbar gewordener – vielfältiger historischer Einbindung auf Seiten ihrer Verfasser nicht die sachliche Information im Vordergrund steht, sondern das kerygmatische Interesse. Indem den Schüler(inne)n dieser Vorrang der Verkündigungsabsicht deutlich wird, relativiert sich, zum einen, die mögliche Kritik an der bisweilen fehlenden historischen Korrektheit (z.B. → Pontius Pilatus). Zum anderen verstehen sie, wie dies auch schon früher, etwa bei den Wunderberichten, zu erkennen war, die besondere Hermeneutik biblischer Texte.


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„Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Von Oliver Arnhold


 

 

 

 

 

 

 

Oliver Arnhold
ʺEntjudung“ ‐ Kirche im Abgrund.
Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928 ‐ 1939

und

 

 

 

 

 

 

 

 

„Entjudung“ – Kirche im Abgrund.
Das ʺInstitut zur Erforschung und Beseitigung
des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Lebenʺ 1939 – 1945.


Berlin: Institut für Kirche und Judentum 2010.

ISBN 978‐3‐938435‐00‐7. [xxiv, 926 Seiten. 24,80 Euro]

 

Das Christentum nur für ‚Deutsche’

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Paulus stellt im Galaterbrief den Grundsatz auf, das Christentum kenne weder die Diskriminierung von Frau und Mann, von Sklaven und Freien, noch von Juden und Griechen, sondern sei eine Religion für alle gleich vor Gott, ungeachtet ihrer Unter­schiede (Gal 3, 28). Als die evangelischen Landeskirchen im Jahr der nationalsoziali­sti­schen Revolution diskutierten, das Berufsverbot für Nichtarier im staatlichen Dienst[1] auch in den Kirchen zu übernehmen, da zitierte das Marburger Gutachten (Hans von Soden, Bultmann, Schlier und Jülicher ) den genannten Satz des Paulus. Dabei ging es in dem „Kirchen­kampf“ nicht etwa um den Kampf der evangelischen Kirchen gegen die staatliche Exekution und Legalisierung des Rassismus, sondern um die Minderheit derer, die sich – mit Berufung auf das Evangelium – gegen die Übernahme des ‚Arierparagraphen’ [staatlich 7.April; kirchlich 6./7.Sept. (S. 92)] auf die christlichen Gemeinden wandten. In den meisten Landeskirchen wurden die (ganz wenigen) Pfarrer entlassen, deren (erst die) Eltern sich hatten taufen lassen. Nicht die Angst der Kirchen ‚in vorauslaufendem Gehorsam’, sondern der Ehrgeiz, sich als Nationalkirche an die Spitze der national­sozialistischen Bewegung zu setzen, trieb die Kirchen, dominiert von den „Deutschen Christen“, die dank des Über­raschungs­­­coups der Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 gesetzt hatten.[2] Sie warben einer­seits mit Mitteln der Volksmission die wenigen (ca. 5 %) Nicht-Kirchenmit­glieder zur Mitgliedschaft. Sie sonderten andererseits die nicht wenigen getauften Juden aus der christlichen Kirche aus – und unterschrieben gewissermaßen deren Todesurteil.[3]  Mehrere christliche Institutionen dienten sich dem NS-Staat an, die notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen für die religiöse Begründung des historischen und biologistischen Antisemitismus. Die Institution, die die neue Theologie begründete, die Bibel von ihren jüdischen Denkformen zu reinigen, das Gesangbuch zu einem deutschen Erbe zu gestalten, also einen neuen deutschen Kanon zu definieren, gründeten die Thüringer DC 1939 – am Fuße der Wartburg: der Traum von der Vollendung der Reformation, von einer zweiten Refor­mation. Theologischer Vordenker wurde Walter Grundmann (1906-1976).

Die umfangreiche Arbeit von Oliver Arnhold erschließt nicht nur durch Bibliogra­phi­en und lange Zitate aus den Archivquellen (die teils erst nach der Wende wieder aufgefunden wurden) die Arbeit des Entjudungs-Instituts, sondern macht auch deut­lich, dass man detailliert die Vorgeschichte kennen  muss, um das Programm zu ver­stehen. So macht die (Vor-)Geschichte der Thüringer Deutschen Christen etwa die Hälfte des Doppelbandes aus. Hatte die vorausgehende Forschung mehrfach behauptet, Grundmann sei erst 1938 zum NS-Rassisten geworden, nachdem er, der bei den großen Neutesta­ment­lern Adolf Schlatter und Gerhard Kittel studiert und promoviert hatte, bis dahin gute und ‚reine’ Wissenschaft betrieben hatte (bes. S. 138 A. 140 und 138-142), so kann OA zeigen, dass er Theologie-Wissenschaft als Anti­judais­mus und rassistischen Antisemitismus sehr wohl zusam­men gedacht hat. Grundmann ist nicht als ein abseitiger Häretiker zu verstehen, sondern ein bedeu­tender Wissen­schaft­­ler, der auch nach der Selbstvernichtung des NS-Herrschaft zentrale Thesen beibe­hielt (so S. 22)[4] und damit weite Teile der evange­lischen Theologie und des christ­lichen Selbstverständnisses zwischen 1918 und 1968 repräsentiert.[5] Was Leonore Siegele-Wenschkewitz Mitte der Siebziger Jahre kühn aufdeckte, die Mit­schuld der Christen am Holocaust (OA erkennt ihre Arbeit als grundlegend an), erweist sich nicht als Verirrung von Wenigen, sondern weitgehend als Konsequenz der Wissen­schaft bis zum Generationenwechsel 1968.

OA arbeitete seit 1993 an dem Projekt. 17 Jahre später veröffentlicht das Berliner Institut Kirche und Judentum seine Paderborner Dissertation. Ein beeindruckendes Ergebnis in den ausführlichen Zitaten von veröffentlichten und nicht publizierten Quellen. Die Darstellung ist gegliedert nach der Einleitung 1-40 in Teil I zur Kirchen­bewegung Deutsche Christen 1928-1933 (S. 41-98); Teil II 1933-1939 (S. 99-453) zielt auf den politischen Höhepunkt der Reichspogromnacht, dem die DC die zweite Re­formation zur deutschen Kirche zur Seite stellt. Juden werden physisch und geistlich vernichtet. Teil III (S. 455-762) stellt die Arbeit des Instituts vor als Konsequenz der deutschen Kirche im nationalsozialistischen Staat. Programm, Finanzierung, Perso­nal, die Tagungen und Publikationen: das gereinigte Evangelium, das entjudete Gesangbuch, ein deutscher Katechismus und der historische Nachweis, dass Jesus ein Arier war. Wenigstens noch sieben Seiten zu den Karrieren nach 1945. Der Schluss gibt Folgerungen und Perspektiven (763-783), bevor im Anhang von knapp 150 Seiten das Buch erschlossen wird – neben der umfangreichen Bibliographie – Biogramme die im Buch vorkommenden Personen knapp vorstellt, die Mitarbeiter des Instituts, seine Organisation.

Kritisch ist zu bemerken: Die Zitate belegen nicht immer, was OA an Schlüssen aus ihnen zieht. Die Distanzierung der NS-Führung von der Idee, dass eine überkonfessionelle Nationalkirche den „Glau­ben“ an Volk und Rasse in der „Volksgemeinschaft“ missionarisch religiös binden sollte, bekam Widerspruch und Konkurrenz durch andere NS-Projekte. Das ist nicht als „Distanzierung“ (117) zu deuten, sondern typisch für die Polykratie des NS, die gerne Parallelstrukturen wollte. Eine davon, die Deutsche Glaubensbewegung, kennt OA nicht gut genug – obwohl die einschlägige Literatur zitiert ist: Richtig ist, dass Jakob Wilhelm Hauer, den die NS als deren Führer durchsetzten, aus der evangelischen Jugendbewegung hervorging, aber die DGB definierte sich als nicht-christlich. Dennoch bildet die völkische, erst recht die germanische Religionstradition nur eine winzige Splittergruppe, an der der NS schon bald wieder das Interesse aufkündigte; es bleibt nur Himmlers germanische Religi­osität der SS und SA. – Bultmanns Konzept vom „Christusgeschehen“, das er benutzt an Stelle von (Christus-)Geschichte des geschichtlichen (d.h. jüdischen) Jesus, verwendet OA S. 147, es kommt aber nicht im Zitat der DC vor und unterscheidet sich erheblich!

Für die Arbeit des Instituts ist dann die Abgrenzung vom alttestamentlichen Gottes­bild theologisch der entscheidende Punkt: Gottes-Sohnschaft sei jüdisch undenkbar, darin aber Christus Vorbild für die Christen: Selbstbewusste Helden sollen sie sein, nicht leidende erlösungsbedürftige Schwächlinge (OA 649-47).

Jesus sei ein Arier ist eine Kernaussage der Rassismus-Christen. Hatte sein Lehrer Schlatter das noch als spätere Legende abgelehnt, so versuchte Grundmann das als historischen Beweis aufzubauen.[6]

Oliver Arnhold hat, etwas detailverliebt, einen wichtigen Baustein zur evangelischen Religion in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Die Zitate zeigen einerseits den Anspruch, in der „Volksgemeinschaft“ eine führende Rolle ausfüllen zu wollen, dem NS-Staat die christliche Religion als Sinnstiftung vorauseilend zum einenden Band anzudienen. Auch wenn der Bekennenden Kirche die Behauptung zu weit ging, Gott habe in der Schöpfung den Rassismus geschaffen („Und Gott sprach: es werde Volk! Und es ward Volk.“ Grundmann 1934 zitiert OA 140), so fand die deutsche Reforma­tion Luthers ihren gemeinsamen Nenner (neben dem Antikatholizismus) vor allem im Ausschluss des Judentums. „Gottes Nein zu den Juden“,[7] die Vernichtung der Juden, sei das erschreckende, aber auch – für die Christen – die heilsame Folge jeder Abwendung von Gott (Grundmann zitiert OA 142). Kein fundamentaler Verstoß gegen den Kern des Christentums (Irrlehren 163), kein Betriebsunfall, sondern Kon­tinuität ist das erschreckende Ergebnis. Einer Religionsgeschichte des 20. Jahrhun­derts – ein Desiderat – steht hier ein gut belegter Baustein zur Verfügung.[8]

Dank an das Institut für Kirche und Judentum, dass es erneut ein wichtiges Buch zu einem sehr erschwinglichen Preis veröffentlicht! Auch neben und nach Heschels Buch behält es seinen Wert, gerade durch die Details.

 

August 2011                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, der  sog. Arierparagraph

[2] Im Folgenden DC.

[3] Hier kommen zwei Vorgänge zusammen: 1. die Forderung der DC, ‚getaufte Juden’ in eigenen Gemeinden rassistisch zu trennen. 2. die Amtshilfe für den NS-Staat, die ‚arische Herkunft’ anhand der Kirchenbücher nachzuweisen. Dazu war jeder Pastor verpflichtet. Manfred Gailus: Kirchliche Amtshilfe 2008. Rez. Auffarth in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsi­sche Kirchengeschichte 106 (2008), 257-258. Dass das zum Todesurteil würde, war den Pastoren aller­dings zu der Zeit nicht bewusst. Aber etwa in Schleswig-Holstein vermehrte das die Zahl der „Juden“ um etwa ein Drittel.

[4] Dass Grundmann spät behauptete, er sei gegen den NS gewesen, kann man nur als gängige Rhetorik der Selbstentschuldung verstehen: OA S. 22

[5] Der Rezensent hat in einem Aufsatz die anti-jüdische Geschichtskonzeption von Rudolf Bultmann aufgezeigt, einem führenden Gegner des Antisemitismus der Deutschen Christen (erscheint in dem Band zum 125. Geburtstag von RB, hrsg. von Wolfgang Weiß; Kim Strübind. Berlin 2011, im Druck). Zur Kontinuität s. Gerd Theißen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Born­kamm. Heidelberg 2009.

[6] Das stellt Susanna Heschel: The Aryan Jesus. Christian theologians and the Bible in Nazi Germany. Prince­ton, NJ: Univ. Press 2008 in den Mittelpunkt ihrer Darstellung des Eisenacher Instituts.

[7] Auch wenn Eberhard Busch (Unter dem Bogen des einen Bundes: Karl Barth und die Juden 1933 – 1945. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl. 1996) für das berüchtigte Diktum Karl Barths – noch 1967 – Belege für sein Eintreten zugunsten der Juden anführt, so ist doch eher die Kontinuität auch innerhalb der Bekennenden Kirche (Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. [Diss. Hamburg 1970, gedruckt erst] Berlin : Inst. Kirche und Judentum 1987; ²1993) typisch, dass das Christentum als anti-jüdische Neugründung verstanden wurde.

[8] Wie zum Nationalprotestantismus – leider mit 1933 abschließend – Roland Kurz:  Nationalprotestan­tisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation. Gütersloh: Gütersloher 2007, das OA nicht berücksichtigt.

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