Frühmekkanische Suren

Der Koran – Handkommentar mit Übersetzung
von Angelika Neuwirth.

Bd. 1: Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie.

 

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011,
751 Seiten. 52,00 €.
ISBN: 978-3-458-70034-0

 

Endlich: ein Kommentar zum Koran

Eine Rezension von Christoph Auffarth und Tilman Hannemann

 

Nach der hervorragenden Einführung Der Koran als spätantiker Text von Angelika Neuwirth[1] im letzten Jahr erscheint jetzt der erste von geplanten fünf Bänden eines Handkommentars. Sie hebt nochmals ihre These hervor, dass sie den Koran als „Mitschrift einer Verkündigung“ (S. 15) versteht, worunter sie nicht etwa ein anderes Wort für die von Gott diktierte Offenbarung an den Propheten meint. Vielmehr geht es um einen Entstehungsprozess über den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von weniger als einer Generation, in den sowohl die Auseinandersetzung mit Intertexten der eigenen arabischen, der jüdischen und christlichen Tradition wie die Gemeinden teilhaben mit eigenen Anforderungen, wie sie die neue Religion leben und in ihrer Lebenswelt umsetzen wollen. Die Mitschriften stehen also im Gespräch mit den Intertexten und mit dem historischen Umfeld. Diese Interaktionen haben in den Mit­schriften Spuren hinterlassen. Mit Intertexten ist also gemeint, dass jüdische und christliche Traditionen nicht ‚als Quellen‘ in die neue Religion eingearbeitet wurden, sondern die neue prophetische Religion ist ein aktiver Prozess, der in verschiedenen Phasen verlief. Die Texte sind nicht aus der geraume Zeit später einsetzenden biographischen Tradition über den Propheten zu erklären, sondern philologisch und historisch, aus dem Text heraus.

Ein ausführlicher Kommentar mit den Handschriftenvarianten und den nur mündlich überlieferten Lesarten in einem umfassenderen Kommentar entsteht parallel und wird nur im Internet veröffentlicht im Rahmen des Programms Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie.[2]

Band 1 kommentiert die frühmekkanischen Suren, also die Texte der ersten Phase. Aus intern-textlichen Gründen war schon Theodor Nöldeke[3] zu einer neuen chronologischen Abfolge der Texte gekommen. Die Anordnung der Suren, wie sie der Koran jetzt bietet, ist ja deutlich eine sekundäre: nach der Länge der Suren. AN beobachtet eine Entwicklung sowohl anhand stilistischer Kriterien (das hatte Nöldeke schon erarbeitet) als auch durch inhaltliche Linien (die AN als weitere Klärung der Entwicklung parallel beobachtet). Während noch die – nach den inneren Kriterien – ersten Suren sich ganz auf den Verkünder selbst konzentrieren, richten sich die folgenden Texte an das Kollektiv und enthalten allmählich auch moralische Kritik an der Lebensführung. Es entsteht ein Interesse an der Eschatologie, wird immer vor­dringlicher und zunehmend mit einer Schöpfungstheologie verbunden. Ab der Mitte der ersten Periode autorisiert sich die Prophetie durch „Schrift“ (S. 16). Es bildet sich eine monotheistische Glaubensgemeinde, die sich über ihre Schrifttradition zu anderen monotheistischen Gemeinden in Beziehung setzt (S. 17). Nur wenn die Entwicklung der Stilistik und die Entwicklung der Themen sich plausibel mit der Veränderung der Gemeinden der neuen Religion verbinden lassen, stimmt das Gesamtbild.

Der eigentliche Kommentar beginnt S. 73 und umfasst knapp 640 Seiten. Er ist mit Blick auf die jeweils untersuchte Sure folgendermaßen aufgebaut (vgl. S. 35–39):

  • Eine Transkription des arabischen Textes. Sie ist als poetischer Text darge­stellt. Das ist eine vorzügliche Verstehenshilfe. Auch wer nicht die arabische Schrift lesen kann, kann so auf die Lexika zurückgreifen – nicht zuletzt auf das Standard­werk der Islamwissenschaft, die Encyclopedia of Islam (EI²), die zumeist transkribierte arabische Stichwörter verwendet.
  • Eine Übersetzung des Textes von AN. Sie soll vor allem die Textstruktur des poetischen Originals wiedergeben, ist also erst in zweiter Linie zielsprachen­ori­en­tiert. Dabei ist sie wenigstens so genau wie Parets Übersetzung – ohne dessen in Klammern eingefügten Alternativen, welche die Lesbarkeit beeinträchtigen; dafür gibt es hier den kursorischen Kommentar.
  • Eine literarkritische Diskussion der Sure, Beobachtung von Brüchen, Zusätzen. Wo ist die Reimstruktur unterbrochen? Das kann auf nachträgliche Einfügungen hindeuten (dagegen aber z.B. ANs Analyse von Sure 96, S. 274–279, die bislang als ein Kompositum behandelt wurde).[4] Das Reimschema wird notiert. In der Abgrenzung der Verse werden unterschiedliche Lösungen der verschiedenen Koranschulen berücksichtigt, ohne dabei die Fälle zu vernachlässigen, in denen textinterne Gründe eine von der Tradition unabhängige Unterteilung erfordern. Die Darstellung der Surenstruktur legt Wert auf die unterschiedlichen Textsorten. AN und ihr Schüler Nicolai Sinai haben dies erarbeitet.[5]
  • Es folgt ein kursorischer (d.h. dem Gang des Textes folgender) Kommentar, Vers für Vers: Lexikalische, grammatikalische Fragen und die Auseinander­setzung mit Intertexten werden diskutiert. Zum ersten Mal seit Parets Konkordanz (1971) liegt nun eine detaillierte Aufarbeitung des Textes vor, die neuere Entwicklungen in der Koranforschung aufnimmt.
  • Damit ist der Weg frei für eine Analyse und Deutung der Sure. Die Einordnung in die vermutete innere Chronologie wird begründet. Dabei sind auch die – philologisch ermittelten – Texterweiterungen einzuordnen. Solche Methoden wurden für den Psalter der Hebräischen Bibel erarbeitet.[6] Weiter fragt dieser Abschnitt nach der Stoßrichtung des Textes: will er paränetisch, apologetisch oder polemisch[7] die Identität der Gemeinde sichern? Auf welche Ereignisse reagiert das Wort des Propheten?
  • Eine Kurzbibliographie zu jeder einzelnen Sure vermittelt einen raschen Überblick des Forschungsstands und der weiterführenden Literatur.

Ab S. 711 sind gelistet: Abkürzungen, das Litera­turverzeichnis, die besprochenen Stellen, die Transliteration und die Reihenfolge der Suren nach der überlieferten Reihenfolge. Kommentiert sind folgende Suren:[8] Gruppe I – 93,  94, 97, 108, 105, 106; Gruppe II – 89, 91, 92, 90, 87, 96, 82, 81, 84, 86, 85; Gruppe III – 73, 74, 80, 79, 75, 70, 78, 88, 83, 77; Gruppe IV – 51, 69, 68, 55, 56, 53, 52.

Im Kommentar eröffnet AN ein weites Spektrum an Perspektiven in die Religionsgeschichte des Vorderen Orients. Anhand von Sure 87 etwa erfährt man etwas zur Eingangsformel (vergleichbar dem Hallelujah), zur ‚Rezitation‘ im Sinne von ,Lesung‘ (mit den Konsonanten q-r- ͗, davon abgeleitet auch das Wort qur ͗ān), jedoch noch ohne das koranischen Korpus (muṣḥaf); hier die Idee einer virtuellen Textvorlage, des Himmelsbuches (ab Q 56:77 kitāb), das dem offenbarten Buch zugrunde liegt. Es geht um die spätantike „Deutung der Welt als eines Zeichensystems“ (AN, S. 270, zu Q 96). In der frühen Zeit ist von Schriftblättern (ṣuḥuf) die Rede (Q 87:18–19); die Schriften ‚des Abraham und Mose‘ könnten verweisen auf die Apokalypse Abrahams, die auch schon das Buch im Himmel kennt. – Jahreszeitliches Grünen und Verdorren der Vegetation und der Weideplätze dient als Bild der Vergänglichkeit dieser Welt und Verweis auf die jenseitige. – Die ‚angsterfüllte Wachsamkeit‘ lässt sich im zeitgenössischen christlichen Mönchstum wiederfinden. – Die Reaktion der Hörenden ist in solche aufgeteilt, die das Gehörte weiter memorieren und rezitieren, und die anderen, die es ablehnen und dafür Lohn oder Strafe im Jenseits erfahren.

Dieser Kommentar bildet den lange gesuchten wissenschaftlich verlässlichen Kommentar. Vor 150 Jahren hatte Theodor Nöldeke die Eckpfeiler für eine historische Aufarbeitung des Koran eingesetzt, aber niemand[9] hat diese Grundlagen in einen brauchbaren Kommentar umgesetzt.[10] Angelika Neuwirth zeigt den Mut und die intellektuelle Kraft, das Material auf der Höhe der internationalen Forschungsdiskussion zu bearbeiten. Das Programm, das sie im umfassenden Einführungsband Der Koran als Text der Spätantike entworfen hat, führt sie hier in den Einzelinterpretationen aus. Ein historisch-kritischer Kommentar des Korans, der den Standards entspricht, die von 150 Jahren biblischer Exegese gesetzt wurden, ist für sich schon eine Meisterleistung. Ihn jetzt anzugehen, ist zum einen mutig, zum anderen aber auch der richtige Moment. Wenn die Ausbildung der Religionslehrer für den islamischen Religionsunterricht und der Imame an staatlichen Universitäten institutionalisiert wird, dann muss das in erster Linie eine wissenschaftliche Ausbildung werden. Genau zu dem Zeitpunkt kommt der wissenschaftliche Kommentar zum Koran, der Kommentar. Großartig!

 

Bremen, 4. Dezember 2011                        Christoph Auffarth/Tilman Hannemann

Religionswissenschaft

Universität Bremen
auffarth@uni-bremen.de

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[1] Der Name der Autorin ist im Folgenden meist abgekürzt mit den Initialen AN. Zum Einführungs­band meine Rez. :  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ (1.März 2011)

[2] http://www.bbaw.de/forschung/Coran

[3] Theodor Nöldeke: Geschichte des Qoran. Göttingen 1860. Dass. Völlig umgearbeitet von Friedrich Schwally. 3 Bände, 1909/1919/1938.

[4] Solche Einfügungen sind bis spätestens zum letzten Drittel des 7. Jh.s anzunehmen. Weitergehende „Spekulationen über eine erst sukzessive Entwicklung des Korantexts“ (S. 24) bewegen sich nicht auf gesicherten Grundlagen.

[5] AN: Studien zur Komposition der Mekkanischen Suren. 1981; ²2007. Nicolai Sinai: The Quran as Process, [2009], S. 422–424.

[6] AN verweist mehrfach auf den vorbildlichen Kommentar zu den Psalmen von Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld. Von drei geplanten Bänden sind erschienen Band 2 (2000) und 3 (2008).

[7] Paränetisch heißt seelsorgerlich, manchmal tröstend den Gemeindemitgliedern Sinn stiften in ihren Fragen und Nöten. Apologetisch bedeutet: die eigene Religion verteidigen gegen Angriffe der Gegner; polemisch meint umgekehrt, die anderen Religionen angreifen und kritisieren.

[8] Nach dem angelsächsischen System notiert AN Koranstellen mit Q [ohne „Sure“], Nummer der Sure, Doppelpunkt, Versnummer, wie z. B. Q 93:7 (Statt Koran, Sure 93,7). Die Gruppierung und Anord­nung ergibt sich aus der von AN erarbeiteten Chronologie.

[9] Das soll nicht die Leistung von Rudi Paret und Adel Theodor Khoury schmälern. Eine Einordnung und Kritik bei AN 28-35.

[10] Das hat auch damit zu tun, dass die Koranwissenschaft lange besonders von jüdischen Gelehrten in Bildungseinrichtungen außerhalb der Universitäten betrieben wurde. Dazu die neueren Arbeiten von Görge K. Hasselhoff, Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums (2010); Dirk Hartwig (Hrsg.), Im vollen Licht der Geschichte (2008); Peter Haber, Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft (2006).

 

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