Weltreligion im Umbruch

Olaf Blaschke (Hg.)
Francisco Javier Ramón Solans (Hg):

Weltreligion im Umbruch: transnationale Perspektiven
auf das Christentum in der Globalisierung.

(Religion und Moderne 12)
Frankfurt am Main; New York: Campus 2019

ISBN 978-3-593-50858-0

Das Christentum als Weltreligion in der Globalgeschichte und seine Transformation in der Globalisierung

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Globalisierung fordert die Geschichtswissenschaft heraus, andere Fragen und Probleme zu erforschen über die nationale (oder europäische) Perspektive hinaus. Am Beispiel des Christentums als Weltreligion hat Olaf Blaschke das Feld klug eröffnet.

Ausführlich: Ausgehend von zwei Beurteilungen, Religion sei schuld an aktuellen Krisen, erklärt Olaf Blaschke,[1] warum eine historische Sicht notwendig sei: „Beide täuschen in ihrer Kurzsichtigkeit darüber hinweg, wie sehr schon das 19. Jahrhundert von der beschleunigten Globalisierung geprägt und wie radikal das religiöse Feld schon damals umgepflügt wurde.“ (10). Der Titel greift einen anderen auf, nämlich den des 1988 erschienenen Buches von Tho­mas Nipperdey Religion im Umbruch, das die Perspektive der Geschichtswissenschaft auf Religion eindrucksvoll eröffnete – nach langer Abstinenz.[2] Nipperdey hatte die inter­nationalen Einflüsse auf die deutsche Religionsgeschichte durchaus im Blick, auch Judentum beschrieb er, sein Thema war aber die deutsche Geschichte. OB zufolge sollen in diesem Band gerade „transnationale und globalgeschichtliche Fragen an das katholische und evangelische (nicht jedoch orthodoxe, koptische etc.) Christentum angelegt werden“ (11). Dabei unterscheidet OB deutlich zwischen Globalgeschichte (Teil 1 der Beiträge) und Globa­lisierung (Teil 2 „in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzend“ [13]), eine Unterscheidung, die die bedeutendste Global-Geschichte von Jürgen Osterhammel schon einforderte.[3] „‘Globalisierung‘ hat ‚Modernisierung‘ semantisch abgelöst“ (13). Wichtig ist die Überwin­dung des methodologischen Nationalismus, der die Geschichtswissenschaft in ‚Containern‘ gefangen hält, etwas aufgeweicht durch Europa als neue Einheit. Nein, Europa oder der Westen ist nicht mehr „die Moderne“, „Zentrum“, Vorreiter einer Entwicklung, die die anderen Kulturen noch vor sich hätten. Globalgeschichte hat hingegen erkannt, dass das Christentum sich polyzentrisch entwickelt hat, nicht nur aus ‚Rom‘ und ‚Wittenberg‘[4]; so grundlegend Klaus Koschorke.[5] Hinzugefügt werden müsste, dass die Religionsgeschichts­schreibung auch in einem anderen Container gefangen ist, dem der Konfessionen.

Die Einleitung ist aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft geschrieben. Die Frage­stellungen der Religionswissenschaft fehlen nahezu völlig. (Unter den Beiträgern sind drei Religionswissenschaftler vertreten). Da ist zum einen die Frage, ob der Begriff Religion über­haupt für außereuropäische Kulturen verwendet werden kann, um eine Kategorie zum Vergleichen zu haben – oder ob man die Vorstellung des Christentums als Maßstab für Religion anlegt, um damit inkommensurable Größen zu messen und zu werten. Genau das aber war der Grund für die Prägung des Begriffs Weltreligion:[6] Er sollte im Zeitalter des Imperialismus Religionen unterscheiden, die begrenzt waren auf ein Volk, wie Judentum und Hinduismus, und solche, die höher entwickelt und darum als ethische Grundlage für die Welt der Zukunft geeignet waren. Das waren nur drei: Islam, Buddhismus und Christen­tum. Am Ende würde sich das Christentum als die einzige Weltreligion erweisen.[7] Auf drei Ereignissen ist das diskutiert worden:

(1) Waren die Weltausstellungen, die erste 1850, Beweis für die technische Überlegenheit des Westens, so luden Protestanten (Unitarier) 1893 anlässlich der Weltausstellung in Chicago (auch Columbian Fair genannt: Vor 400 Jahren hatte Columbus Amerika ‚entdeckt‘, dem Westen erschlossen) zu einem „Weltparlament der Religionen“ ein.[8] Das Ergebnis war, wie Masuzawa in ihrer Monographie schlussfolgert, die Protestantisierung des Maßstabes auf Religionen.[9] Der Autor der Rezension hat dagegen als Folge des ‚Parlaments‘ erkannt, dass der Hinduismus dank der mitreißenden Rhetorik des Swami Vivekananda zu einer Welt­religion aufstieg, statt drei wurden nun fünf kanonisiert: Zur Globalisierung komplementär und widerständig stehen die verschiedenen Religionskulturen. Am Ende des Ersten Welt­kriegs konstatierte Max Weber „Wie man es machen will, ‚wissenschaftlich‘ zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. […] Heute aber ist es religiöser ‚Alltag‘. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“[10] Polytheismus ist ein hermeneutisch hilfreicher Begriff für die Religion in der Moderne.[11] Weltreligion suggeriert eine Einheit, die den unterschiedlichen religiösen Traditionen innerhalb der Religion nicht gerecht wird. Die Begrenzung auf die eine Weltreligion Christentum ist pragmatisch, aber engt den Blick auf eine Globalgeschichte und die Globalisierung ein.

(2) Die Wichtigkeit des Ersten Vatikanischen Konzils 1870 hat OB sehr gut herausgearbeitet und dessen Ziel, die globale Religion wieder einem Zentrum Papsttum unterzuordnen, also gerade der Globalisierung entgegenzuarbeiten. Der Beitrag von Jan de Maeyer über den Ultramontanismus (273-294) beschreibt das ausgezeichnet am Beispiel Belgien. An dem Fall zeigt sich, dass Globalisierung immer mit dem Komplementär Fragmentierung zusammen zu beschreiben ist (‚Glokalisierung‘).[12] Der Fall der Romzentrierung (Ultramontanismus) auf dem Ersten Vatikanischen Konzil hat Globalität zum Ziel, versucht aber Globalisierung zu verhindern in dem Sinne, dass ein italienischer Katholizismus in unterschiedlichen Regionen und Kulturen nicht heimisch werden dürfe. Die Angleichung der katholischen Religion an die Kultur, wie sie in China die Jesuiten versuchten, schmetterte die Zentrale in Rom ab (sog. Ritenstreit um Matteo Ricci [1552-1610], beschrieben in dem vorzüglichen, von OB nicht genannten Handbuch von Horst Gründer).[13]

(3) Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh versammelte 1910 (nahezu) ausschließlich weiße protestantische Missionare und Missionsinspektoren in einer Konferenz mit dem Ziel, in dieser Generation die Welt zu evangelisieren.[14] Auch hier ist wieder die Komplementarität von Bedeutung: Einerseits zielten die pietistischen Missionsgesellschaften ab etwa 1800 darauf, das Evangelium bis an die Enden der Erde zu bringen angesichts des bevorstehen­den Endes der Welt (mit dem ‚Taufbefehl Jesu‘ Matthäus 28),[15] andrerseits sollten die jeweili­gen Kirchen – entsprechend dem protestantischen Prinzip der ‚Landeskirche‘ – in ihrer eigenen Sprache, mit eigenen Pastoren und Kirchenleitung, in einem gewissen Umfang auch in eigenen Ritualen ihre Religion leben. (Mit Ökumene – so OB 31, vgl. S. 196 – hat das nichts zu tun; auch im Ökumenischen Rat der Kirchen hat sich 1948 die Katholische Kirche ausge­schlossen, versteht sie sich doch selbst als ‚Ökumene‘). Klaus Koschorke hat Edinburgh 1910 in seinem Beitrag 195-217 beschrieben.

Schließlich wird in der Religionswissenschaft seit einem Vierteljahrhundert das theoretische Modell der ‚Europäischen Religionsgeschichte‘ diskutiert, mit dem Burkhard Gladigow eine Analysekategorie eingeführt hat,[16] die für Religion in der ausdifferenzierten Moderne insgesamt eine Theorie zur Verfügung stellt, nicht nur für Religion im Europa der Moderne hermeneutische Dimensionen eröffnet: grundlegend für Pluralität von Religionen und Werteproduzenten.[17] Religionen dürfen nicht als Kollektivakteure verstanden werden, es handeln immer konkrete Akteure mit ihren Interessen in der Konfiguration, die Beiträge haben das in aller Regel konkretisiert.

Inhaltliche Schwerpunkte: Dass Missionsgeschichte eine zentrale Fragestellung ist, hat OB in der Einleitung schon hervorgehoben. Das Quellenmaterial der Archive der Missionsgesell­schaften hat sich als ein Schatz für die Geschichtswissenschaft erwiesen, das auch den Unter­worfenen eine Stimme gibt,[18] anders als die Kolonialarchive. Reinhard Wendt gibt Beispiele für Transfers. David Rüschenschmidt zeigt den Versuch, Katholizismus für die USA zu ‚modernisieren‘ und das Verbot durch den globalen Akteur Papsttum (103-128). Hannah Müller-Sommerfeld führt vor, wie im 19. Jh. Palästina zu einem Fokus der Globalisierung wurde, einmal im Streit der Großmächte um die Restaurierung der 1808 abgebrannten Grabeskirche, dann durch Religions-Tourismus und Migration, deren wenig bekannten russisch-orthodoxen Anteil sie erforscht (Es fehlt die Migration der ‚Templer‘ nach Haifa. – 129-157). Peter Beyer, der sich schon lange mit Religion in der Globalisierung beschäftigt, beschreibt ein religiöses Weltsystem (Bezug auf Immanuel Wallersteins Konzept 167 A 14), das sich mit dem europäischen Christentums als Vorläufer („prime carrier“ 160) „im langen 19. Jahrhundert“ entwickelte. Das ist ein magistraler Überblick, der auch erklärt, wie nicht-christliche Religionen Anerkennung als (Welt-)Religionen fanden statt einer Residualkat­egorie ‚Heidentum‘ oder später ‚Animismus‘.[19] Der Vorbehalt des den ersten Teil abschlie­ßenden Kommentars von Detlef Pollack (181) ist berechtigt, dass Beyers These von der Vorreiterrolle Europas empirisch genauer zu prüfen ist. Überhaupt rät Pollack dazu, statt polemischer Abgrenzungen der ‚unterbestimmten‘ Globalisierungtheorie sie mit einem reflektierten Eurozentrismus und der Modernisierungstheorie weiterzuentwickeln.

Der Zweite Teil zur Globalisierung des Christentums: Diffusion oder Aneignung, Uniformierung oder Partikularisierung? beginnt mit Klaus Koschorkes Aufsatz zur Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 (195-217). Die Erforschung indigener Zeitschriften macht deutlich, dass Edinburgh zwar eine Versammlung weißer protestantischer Missionare war, aber zur gleichen Zeit sich selbstbewusste Bewegungen formierten zu einer nicht-europäischen Aneignung des Christentums, bekannt sind die African Independent Churches oder der Äthiopismus beiderseits des Atlantiks, bekannt durch Bob Marleys Rastafari-Bewegung. Die Beiträge von Jean-Pierre Bastian, Silke Hensel und Francisco Javier Ramón Solans beschäfti­gen sich mit Lateinamerika: Bastian beschreibt die Protestanten in Latein-Amerika (219-240), etwa entlang der Befürworter republikanischen Bürgerrechts gegen autoritäre Regierungen, die katholische Unterstützung fanden.[20] Der massive Erfolg der Pfingstler/Pentecostalism in aller Welt lässt sich kaum mit der größeren Emotionalität erklären, treffender ist der Satz: „Being both transnational and transcultural, it reformulates religion, adapting it to the ideo­logies of self-fulfilment and to a gospel of prosperity‘ based on the culture of miracles, rather than on that of the Protestant ethic as explained by Max Weber.” (236).[21] Aber das müsste in einem Beitrag zu dem globalen Phänomen der Pfingstler und Evangelikalen umfassender beschreiben werden, der im Band fehlt.[22] Hensel fragt nach der Bedeutung des Katholizis­mus in den Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die als Teil der „Atlantischen Revolutionen“ (Amerikanische und Französi­sche) meist unbeachtet bleiben. Ein auch theoretisch gut argumentierter Fall. Ramón Solans stellt die ultramontanen Netzwerke zwischen Europa und Lateinamerika vor (313-339). Aus globaler Perspektive müsste man als Gegenstück den ‚iberischen Katholizismus‘ hinzuneh­men.[23] Bernhard Schneider beobachtet die globalen Verbindungen des deutschen Katholi­zismus im 19. Jh. (241-272). Jan de Maeyer stellt das 1831 neu gegründete Belgien als Muster­knaben des Ultramontanismus dar. Ausgehend von einer äußerst liberalen Verfassung des jungen Staates entwickelte sich der Katholizismus immer kompromissloser hin zur „Schwar­zen Internationalen“ gegen die kleine Schar der Sozialisten im Land. Lokalität und Globalität sind in diesem Beitrag sehr gut herausgearbeitet. Julian Strube erklärt, wie zwei so wider­sprechende Frömmigkeiten wie Tantra und Katholizismus mit einander verbunden werden konnten (341-363). Den Abschluss dieses Teils bildet der Kommentar von Thomas Großböl­ting (365-373). Der folgende Teil über christliche Grenzen und Abwehr von Globalisierung beginnt mit Frederik Schulze zur protestantischen Diaspora in Brasilien um 1900 (377-402). Die Deutschen Auswanderer in Brasilien nährten Ängste vor Verluste der Identität als Deutsche ohne religiöse Betreuung durch ‚Verbrasilianisierung‘ und den wachsenden Ein­fluss der US-Amerikaner. Sven Henner Stieghorst beschreibt, wie seit Wicherns Gründung der ‚Inneren Mission‘ der Diakonie-Gedanke global wurde, kann aber nur transnational-europäische Treffen nennen (403-428). Yvonne Maria Werner und Katharina Kunter werfen eine Gender-Perspektive auf Mission und Konfession (429-450). Der Aufsatz beruht auf Untersuchungen zu katholischen Klerikern in Skandinavien und vergleicht das zugrunde­liegende Männerbild sozial asymmetrisch mit evangelischen Laien-Missionaren, Aufsteigern aus Dörfern. Das differenzierte Buch zu den Missionsbräuten ist ihnen entgangen, keines­wegs Gehilfinnen.[24] Adrian Hermann zeigt am Beispiel der unabhängigen Kirche auf den Philippinen, wie indigen christliche Eliten einen innerchristlichen Globalisierungsschub bewirkten, hier eine – sonst wenig beachtete katholische Bewegung (451-474). Den Abschluss bildet der wichtige Kommentar des Religionswissenschaftlers Volkhard Krech (475-502) zu den Besonderheiten von ‚Religion‘ in den Globalisierungsprozessen, die auf eine ‚Weltgesell­schaft‘ zuliefen, aber „nicht einmal in erster Linie Homogenisierung, sondern zunehmend global vernetzte Interaktion“ (486) erzeugten. Mit Luhmann zeichnet VK methodische Leit­linien für die Weiterentwicklung der Forschung durch segmentäre, stratifikatorische, und funktionale Ausdifferenzierung seit dem 19. Jh. Religion als Modernisierungsgewinner (Hermann Lübbe) sei mit segmentärer Ausdifferenzierung (Bereichsglobalisierung) nicht zu verstehen. Es klingt an, ist aber nirgends konzeptionell ausgearbeitet, dass der Kollektiv­singular Religion eine globale Karriere gemacht hat, mehr als die einzelnen Religionen: Mit dem Konzept der Religionsfreiheit ist weltweit in allen Verfassungen das Eigene privilegiert und wendet sich gegen Imperialismus und Homogenisierung.

Fazit: Der Band[25] eröffnet in einer klugen Einleitung die Dimensionen der Frage nach der Globalgeschichte des Christentums und seiner Transformation in der Globalisierung in den zweihundert Jahren. Es wird deutlich, welchen Gewinn diese Fragestellung nach der „Welt­religion“ erbringt. Die Begrenzung auf Christentum scheint pragmatisch sinnvoll, aber es begrenzt auch die Perspektive und den Vergleich. Für Pluralität von Religionen und Konkurrenz von Werten und Normen braucht es die Expertise der Religionswissenschaft. Man sieht, wie diese Frage noch weitere Forschung erfordert, die durchwegs kompetenten Beiträge können nur Suchschnitte bieten. Besonderes Augenmerk erhält der päpstliche Ultramontanismus als Versuch, die globalen Christenheiten einer römischen Zentralen zu unterwerfen und die regionalen Aneignungen zu unterbinden, eine Art religiösen Imperia­lismus. Gleichzeitig entwickeln sich dagegen nationale, regionale, andere Weltreligionen; die hierarchische Struktur des Katholizismus ist exzeptionell. Da müssten Bhakti-Frömmigkeit, Great Awakening bzw. Pietismus und Erweckungsbewegung sowie Evangelikale und Pfingstler thematisiert werden. So ist es zu begrüßen, dass das Thema auf die Agenda der Forschung gesetzt, mit einem Tagungsband die Fragestellung entwickelt, Forschungen vorgestellt und weitere initiiert werden.

 

 Bremen/Wellerscheid, 3. April 2020

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Olaf Blaschke ist Professor für Neue Geschichte in Münster, wo das Exzellenz-Cluster „Religion und Politik“ besondere Forschungsmöglichkeiten eröffnet. Im Folgenden sind die Initialen verwendet.

[2] Das Buch entstand im Vorgriff auf das Kapitel von Nipperdeys Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München: Beck ²1991, 396-530. Anders als ‚Kirchengeschichte‘ eröffnete Nipperdey sowohl den Blick auf Juden wie die vagierende Religiosität der Wilhelminischen Epoche „Die Unkirchlichen und die Religion“. Die Struktur- und Sozialgeschichte in der BRD würdigte Religion nahezu gar nicht, bis Wolfgang Schieder 1974 auf die Bedeutung der Religion auch sozialgeschichtlich hinwies, bezeichnender Weise mit Karl Marx beginnend, der in seiner Heimatstadt Trier als Kind die Heilig-Rock-Wallfahrt erlebte. Nipperdey musste bis zur Deutschen Geschichte von Franz Schnabel zu­rückgreifen, wo zum letzten Mal Religion ein umfassender Teil-Band (4: Die religiösen Kräfte. Freiburg: Herder 1937; ³1955; danach Nachdrucke als Taschenbuch bei Herder und DTV 1987) gewidmet war, allerdings auf die Kirchen begrenzt. Zu Schnabel (1887-1966) etwa die Monographie von Thomas Hertfelder: Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft : Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910 – 1945). Göttingen: V& R 1998. Schnabel als Kritiker des NS: Peter Steinbach; Angela Borgstedt (Hrsg.): Franz Schnabel – Der Historiker des freiheitlichen Verfassungsstaates. Ausstellungskatalog. Berlin: Metropol 2009.

[3] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009. Das Kapitel zu Religion am Schluss eingefügt, S. 1239-1278.

[4] Auch die Reformation polyzentrisch (Wittenberg, Zürich, Straßburg, Genf) bei Irene Dingel: Geschichte der Reformation. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2017.

[5] Als Leitsatz der inhaltlichen Gesamtdarstellung in der Globalgeschichte des Christentums in der Reihe der ‚Religionen der Menschheit‘, dazu meine Rezensionen Jens Holger Schjørring; Norman A. Hjelm (Hrsg.): Geschichte des globalen Christentums. (Die Religionen der Menschheit 32-34) Erster Teil: Frühe Neuzeit. 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/03/02/geschichte-des-globalen-christentums/ (2.3.2018). Zweiter Teil: 19. Jahrhundert. 2018 in: rpi-virtuell. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/05/geschichte-des-globalen-christentums-2/ (5.8.2018). Dritter Teil: 20. Jahrhundert. 2018 in: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/12/28/geschichte-des-globalen-christentums-teil-3/ (28.12.2018). Als Globalgeschichte eher noch additiv, als Globalisierungsgeschichte erst in den Anfängen.

[6] Christoph Auffarth: „Weltreligion“ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialismus. in: Ulrich van der Heyden; Holger Stoecker (Hrsg.): Mission und Macht im Wandel politischer Orientie­rungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945. (Missionsgeschichtliches Archiv 10) Stuttgart: Steiner 2005, 17-36. – CA: Weltreligion und Globalisierung. Chicago 1893 – Edinburgh 1910 – Chicago 1993. in: Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft 93 (2009[2010]), 42-57.

[7] Weltreligion im 19. Jh. verstanden als Stufe einer Evolutionsfolge: Auffarth 2005, 22f.

[8] Dorothea Lüddeckens: Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert. (RGVV 48) Berlin: de Gruyter 2002. Masuzawa 2005. Auffarth 2005.

[9] Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Presented in the Language of Pluralism. Chicago: CUP 2005. Die beiden, gleichzeitig und ohne Kenntnis voneinander entstandenen Studien von Masuzawa und Auffarth nennt OB 39 A. 96, ohne deren zentrale Bedeu­tung für seine Fragestellung zu erkennen.

[10] Max Weber: Wissenschaft als Beruf. [1917]. MWG I/17, 99f. MWS I/17, 17.

[11] Burkhard Gladigow: Polytheismus. In: Hans G. Kippenberg; Martin Riesebrodt (Hrsg.): Max Webers „Religionssystematik“. Tübingen: Mohr Siebeck 2001, 131-150. Ders.: Polytheismus. In: Hubert Cancik; Burkhard Gladigow; Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Band 4. Stuttgart: Kohlhammer 1998, 321-331.

[12] Ulrich Menzel: Globalisierung und Fragmentierung. Frankfurt am Main 1988 (52015). UM hat hervor­ragende Untersuchungen zu nach-antiken Weltreichen (Chinesische, Mongolisches, Osmanisches, Genua, Venedig, Britisches Commonwealth, portugiesisches, spanisches, niederländisches, französi­sches Kolonialreich, USA) zusammengestellt, gekürzt UM: Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hege­monie in der Hierarchie der Staatenwelt. Berlin: Suhrkamp 2015.

[13] Horst Gründer: Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit. Gütersloh: Gütersloher Verlags-Haus Mohn 1992.

[14] Auffarth; Marvin Döbler: Carrying the Gospel to all the Non-Christian World [1910] Resolution of the [Protestant] World Missionary Conference at Edinburgh. [Einleitung und Textauswahl für] Björn Bentlage; Marion Eggert; Hans Martin Krämer; Stefan Reichmuth (ed.): Religious Dynamics Under the Impact of Imperialism and Colonialism. A Sourcebook. Leiden; Boston: Brill 2016, 509-526.

[15] Historisch falsch ist die von Wendt 81f wiederholte Behauptung, der ‚Taufbefehl‘ „machte das Christentum von Beginn an zu einer missionarischen Religion, die Grenzen überschritt und in Inter­aktion mit lokalen Begebenheiten transkulturierend wirkte“ Vgl. die Kritik von Beyer, S. 159. Die protestantischen, von pietistischen Laien (nicht den Kirchen!) betriebenen und finanzierten Missions­gesellschaften beginnen erst um 1800. Missionsdynamik ging nicht von der Religion aus, sondern von den flächendeckenden Verwaltungseinheiten des Römischen Reiches (Diözesen) aus, die die römische Kirche für ihre Bistümer übernahm. Die ‚Bekehrung‘ des Römischen Reiches war ein Verwaltungsakt des zur Staatsreligion erklärten Christentums: die Romanisierung des Christentums, nicht Christiani­sierung des Römischen Reiches. Dazu Hubert Cancik: Die Romanisierung des antiken Christentums. In: Richard Faber (Hrsg.): Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg: Königshausen&Neu­mann 2005, 35-50.

[16] Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte. In: Hans G. Kippenberg; Brigitte Luchesi (Hrsg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, 71-92. Wieder in B.G.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Hrsg. Christoph Auffarth; Jörg Rüpke (Hrsg.). Stuttgart: Kohlhammer 2005.

[17] Zum Potenzial der ERG die Beiträge von Jörg Rüpke, Christoph Auffarth und Adrian Hermann in: CA; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel. Tübingen: Tuebingen University Press 2020.

[18] Bedeutend Rainer Alsheimer: Zwischen Sklaverei und christlicher Ethnogenese. Die vorkoloniale Missi­onierung der Ewe in Westafrika (1847 – ca. 1890). Münster: Waxmann 2007. Christoph Auffarth: Die Dschagga-Neger „aufgehoben“ zwischen Kolonialherrn und Missionar. Ein religionswissenschaft­liches Ausstellungsprojekt zu Mission und Kolonialismus in Tanganjika um 1900. In: Peter J. Bräun­lein (Hrsg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum. Bielefeld 2004, 223-239.

[19] Voraussetzung ist die Entwicklung eines Kollektivsingulars Religion in der Aufklärung, wie Ernst Feil: Religio. 4 Bände, Göttingen: V&R 1986-2007 herausarbeitete. Weiter ist wichtig für eine Vorstufe der Religionslosigkeit der „Wilden/Primitiven“, wie David Chidester: Savage systems. Colonialism and comparative religion in southern Africa. Charlottesville, VA: UP of Virginia 1996. DC: Empire of religion : imperialism and comparative religion. Chicago: Chicago UP 2014 für das südliche Afrika herausarbeitete. Wie ‚Religion‘ und Religionsfreiheit dann zu einem Recht auf Widerständigkeit gegen Europäische Sendungsideen wurde, zeigt etwa die Monographie von Adrian Hermann 2015.

[20] Der Beitrag stützt sich fast ausschließlich auf französische (bes. die eigene) und wenige spanische Forschungsliteratur. So fehlt etwa David Martin: Tongues of fire: the explosion of Protestantism in Latin America. Oxford: Basil Blackwell 1990. Nur ein Buch ist neuer als 2000. Maria als antirepublikanische Sprecherin in Visionen hat Oliver Grasmück erforscht: Eine Marienerscheinung in Zeiten der Diktatur. Der Konflikt um Peñablanca, Chile: Religion und Manipulation unter Pinochet. Berlin: de Gruyter 2009.

[21] Ihre umfassende Feldforschung zu Terror und Flucht in Kolumbien, Untertauchen in den Groß­städten und das Wiedergewinnen eines Selbstbewusstseins mit der Unterstützung von religiösen Gruppen (bei der finanzielle Hilfen eine wichtige Rolle spielen) hat Friederike Repnik aufgearbeitet: Gewalt, Trauma und Religion in Kolumbien. Perspektiven von Konfliktopfern und vertriebenen Menschen. (Studien zur Friedensethik 62) Baden-Baden: Nomos 2018.

[22] So etwa Michael Bergunders Arbeiten. Er vollendet gerade eine Forschung zu den Veränderungen im indischen Subkontinent vor dem Kolonialismus. Von diesem auch die wichtige Beschreibung des Religionsbegriffs, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19(2011[2012]), 3-55. Ders.: Indischer Swami und deutscher Professor: „Religion“ jenseits des Eurozentrismus. In: Religionswissenschaft. Hrsg. Michael Stausberg. Berlin: de Gruyter, 2012, 95-107. Ebenso könnte Martin Petzke die globale Pfingst­bewegung beschreiben.

[23] Herausragende Perspektiven bei Peter Bräunlein: Passion/Pasyon. Rituale des Schmerzes im europä­ischen und philippinischen Christentum. München: Fink 2010. Rezension Auffarth, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-034 [12. Juli 2011].

[24] Dagmar Konrad: Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission. Münster: Waxmann 2000, 42013. Ebenso ist das Bild der Diakonissen verzeichnet.

[25] Der Band ist sehr sorgfältig korrigiert, von Kleinigkeiten abgesehen. Bibliographisch sind Fehler anzumerken, wie die Einordnung der Karte aus dem Berghaus-Atlas unter „Planiglob“ (52) oder ein Autor „Art.“ [Artikel] (75).

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