Albert Henrichs: Greek Myth and Religion. Collected Papers II.
Edited by Harvey Yunis.
De Gruyter Berlin; Boston 2019. XXXVII, 606 Seiten.
ISBN 978-3-11-044665-4.
€ 129,95.
Griechische Religion und
der ‚Glaube‘ der Philologen
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Der 2017 verstorbene Klassische Philologe Albert Henrichs hat mit seinen Aufsätzen viele Aspekte der Griechischen Religion untersucht. Jetzt liegen sie thematisch geordnet und im Zusammenhang wieder vor.
Ausführlich: Der bedeutende Philologe Albert Henrichs[1] gehört zu der Generation, die seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Themen der griechische Religion zu einem zentralen Bereich für die Religionswissenschaft machten. Fulminanter Auslöser war Walter Burkerts Homo necans 1972. Dort diskutierte er das griechische Opferritual sowohl auf höchstem philologischem Niveau wie auch in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Wende, vertraut mit Psychoanalyse, Verhaltensforschung, Ritualtheorien, und der boomenden Ethnologie. Die mit ihm wetteifernden Kollegen der Altertumswissenschaften trafen sich auf dem Geburtstagskolloquium zu Burkerts 65. Geburtstag. Die Festschrift versammelt sie, darunter natürlich Albert Henrichs.[2] Schon als Student trat die außerordentliche Kompetenz von AH hervor, mit 23 Jahren war er promoviert an der Universität seiner Heimatstadt Köln, ebenda habilitierte sich der 26-Jährige. Im Jahr darauf lehrte und forschte er an der University Michigan, bis er dann 1973 an die Harvard University berufen wurde, seit 1984 auf einer full professor-Stelle. Sein Können bewies er im Bereich der Papyrologie (in Köln, Michigan, Harvard), die aus den Fetzen von unebenem Papyrus die Buchstaben lesen und das Wort zu vervollständigen versucht. Das erfordert eine Beherrschung der griechischen Sprache, über die nur wenige verfügen. Albert war das Wunderkind. Nur wenige Bücher hat er geschrieben,[3] die Sather lectures, gewissermaßen der Nobel-Preis für Altertumswissenschaftler, hat er gehalten, sie blieben aber unveröffentlicht bis auf das schmale Büchlein „Warum soll ich denn tanzen?“[4] Alles andere sind Aufsätze, darunter die vielen kleinen textkritischen Nachweise in der von seinem Kölner Lehrer Reinhold Merkelbach herausgegebenen Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, seit 1(1967). AHs Werk ist in der Bibliographie (xiii – xxi) zusammengestellt. Die vierbändige Ausgabe wird alle Aufsätze in der originalen Sprache, also viele auf Deutsch, einem gepflegten Deutsch, wieder zugänglich machen und so das Gesamtwerk von AH repräsentieren.
Band 2 enthält in vier Teilen 27 Aufsätze, für die Religionswissenschaft wohl die wichtigsten, neben denen weitere Aufsätze kommen, die hier noch nicht enthalten sind zur Wissenschaftsgeschichte (Band 4, ed. Renaud Gagné, 2021) und zu Nietzsche und dem Dionysischen Band 3, (ed. Scott Scullion 2021). Band 1 (für 2023 vorgesehen) soll die Aufsätze zur Papyrologie enthalten. Hier also Band 2:
Teil 1 umfasst die Arbeiten zu Opfer und Ritual. Grundlegend die Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und Ritual (Dromena und Legomena [Gehandelt und gelesen] Zum rituellen Selbstverständnis der Griechen, 89-128. Besonderheiten der Opferrituals; Menschenopfer als Krisenkult, 37-68, Menschenopfer als Vorwurf gegen Christen, 11-36, die Bouphonien, jenes aufregende Ritual in Athen, in dem der Opfernde vor Gericht gestellt wird als Verbrecher, 85-89.[5] Esoterische Gruppenbildung behandelt Mystika, Orphica, Dionysiaka, 193-216. Die Frage von Opfer als Form von Gewalt ist in den Aufsatz Eumenides 69-84, Blutvergießen am Altar, 149-176 behandelt, Chthonische Opfer 129-148. Dazu ein Porträt What is a Greek priest? 177-192 und zum Orakel in Hierapolis, 3-10. Teil 2 Götter und Mythen fragt einmal grundsätzlich What is a Greek God? 361-382. Götternamen und Anonymität behandeln Despoina Kybele 221-254, den ‚unbekannten Gott‘ in Paulus‘ Areopagrede (Apg 17), 299-334, sowie Lexikonartikel zu einzelnen Göttern. Das Meisterstück ist die Rede über „Die Götter Griechenlands“, in dem AH die Geistesgeschichte dieser besonders deutschen Vorstellung seit dem Idealismus bis zur paganen Theologie Walter F. Ottos beschreibt, 255-298. Teil 3 zu den göttlichen Epiphanien befasst sich mit diesem wichtigen Element griechischer Religion, wie Götter sich zeigen, 429-450, vor allem Dionysos, der ‚kommende‘ Gott,[6] 451-464. Hier kommt allerdings ein Verständnis von Gottheit zum Vorschein, das sich von der systematischen Religionswissenschaft unterscheidet. AH betont, dass die Götter sich zeigen. Sie sind also handelnde Personen, die den Menschen gegenüber treten. Wer das als moderne WissenschaftlerIn tut, setzt also die Existenz, die Person der Göttinnen und Götter voraus, „glaubt“ an die Götter.[7] „Götter sind“ ist die Formel der Philologen, die AH vorstellt. Als Religionswissenschaftler kann ich das nicht teilen: Menschen zeigen Götter, es gibt eine Sprache von Metaphern, die das „sich Zeigen“ behauptet, aber in der Regel als einen Mythos der Vergangenheit, selten als aktuelle „Erfahrung“, die aber auch nur als Erzählung zu greifen ist.[8] Das kann man wissenschaftlich nicht übernehmen, auch nicht dass „die Griechen an ihre Götter glaubten“. Das ist eine Idee des ‚Idealismus‘, etwa Hölderlin, mit einer Spitze gegen den metaphysischen Monotheismus, der sich weniger gegen das Christentum richtet, sondern vor allem gegen ‚Moses‘, den ethischen Monotheismus des Judentums.[9]
Der vierte Abschnitt stellt Manichaica vor (467-606). Ein sensationeller Fund in der Kölner Papyrussammlung war die ‚Autobiographie‘ des persischen Religionsstifters Mani im 3. Jh. Ein winziges Buch beschreibt seine wunderbare Geburt mit einem himmlischen Zwilling. AH beteiligte sich intensiv an der Edition. Eine Frucht des Kontextes ist der Aufsatz Thou shalt not kill a Tree, in der er griechische, manichäische und indianische Erzählungen über den Baum-Mord vergleicht, 503-528.
Aufsätze aus 50 Jahren vom ersten bis zum letzten, thematisch zusammengestellt, sind eine gute Gelegenheit, die Aufsätze im Zusammenhang (in meinem Fall: wieder) zu lesen. Viele haben die Diskussion bereichert und in neue Bahnen gelenkt. Aber sie sind nicht Geschichte, nicht aus nostalgischen oder den Autor ehrenden Gründen wiedergedruckt, auch wenn nur wenige bearbeitet sind. Die meisten behalten ihren Wert auch in der weiter gegangenen Diskussion.
Bremen/Much, Oktober 2020 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Geboren 29. Dezember 1942 in Köln, starb er 16. April 2017 in Cambridge, MA, 74-Jährig. Im Folgenden kürze ich den Namen mit den Initialen ab.
[2] Fritz Graf (Hrsg.): Ansichten griechischer Rituale. Stuttgart: Teubner 1998. Beteiligt waren: Martin L. West (1937-2015), Jan Bremmer (*1944), Albert Henrichs (1942-2017), Peter Blome, Robin Hägg (1935-2016), Nanno Marinatos (*1952), Erika Simon (1927-2019), Gerhard Baudy (*1950), John Scheid (*1946), Philipp Borgeaud (*1946), Fritz Graf (*1944), Henk Versnel (*1936), Hugh Lloyd-Jones (1922-2009), Claude Calame (*1943), Hans Dieter Betz (*1931), Thomas Szlezák (*1940) und Walter Burkert (1931-2015). Als SchülerIn Eveline Krummen (*1956), Christoph Riedweg (*1957).
[3] Die Diss. zu Didymos der Blinde, Kommentar zu Hiob Bonn 1968 und die Habil. Die Phoinikika des Lollianos Bonn 1972 sind Editionen aus Papyri mit ausführlichen Kommentaren. 1973/74 gab er die Überarbeitung von Karl Preisendanz‘ Die griechischen Zauberpapyri bei Teubner, Stuttgart (erste Auflage 1928, 1931, 1941) heraus.
[4] (Lectio Teubneriana 4) 1996, englisch 1995 als Zeitschriftenaufsatz veröffentlicht. Der für die Altertumswissenschaften sagenhafte Teubner Verlag hatte nach der Wende auch wieder neben dem Stuttgarter Sitz in Leipzig sein früheres Stammhaus eröffnet. Die Bibliotheca Teubneriana, führende Textausgaben, ist jetzt beim Verlag de Gruyter. Ebenfalls separat erschien die Rede Die Götter Griechenlands, im vorliegenden Band nachgedruckt 255-298.
[5] Der wichtige Aufsatz (1992) in Auseinandersetzung mit Burkerts Deutung als Ochsen“mord“ folgt wohl im vierten Band der Collected Papers zu wissenschaftsgeschichtlichen Themen: History of Classical Scholarship, hrsg. Renaud Gagné, angekündigt für 2021.
[6] So charakterisierte Walter F. Otto: Dionysos. Frankfurt 1933 die Besonderheit des Dionysos. Otto entwickelte seine pagane Theologie (Die Götter Griechenlands 1929) ausdrücklich gegen das Christentum im Anschluss an Nietzsches Antichrist: Walter F. Otto, Der Geist der Antike und die christliche Welt 1923. Dazu die vorzüglichen Arbeiten von Hubert Cancik und Jan Bremmer.
[7] Das zeigt AH auch in seiner Geistesgeschichte „Die Götter Griechenlands“. Das ist gewissermaßen eine emische Betrachtungsweise, die aber für die Griechen nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Siehe meine Kritik an der Rede von der „Macht“ des Götterbildes in der Rezension Fernande Hölscher: Die Macht der Gottheit im Bild. Göttingen: Verlag Antike 2018. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/01/06/die-macht-der-gottheit-im-bild/ (6.1.2020).
[8] In einem Aufsatz, der auf seinen Druck wartet, habe ich das gezeigt: Vom Kultbild zur Epiphanie: Der Gott von Delphi besiegt die angreifenden Kelten 279/78 v.Chr. in: Raban von Haehling, Matthias Steinhart, Meinolf Vielberg (Hrsg.): Prophetie und Parusie. (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, N.F. 1) Paderborn: Schöningh 2020, ##. Dort auch zu Henrichs Epiphanie-Vorstellung.
[9] Das hat sehr gut und lesenswert herausgearbeitet Bernd Witte: Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Geschichte der deutschen Kultur. Berlin: De Gruyter 2018.