Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda

Friedrich Erich Dobberahn:
Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda.

Umdeutung von Bibel, Gesangbuch und Liturgie 1914-1918.
Mit einem Vorwort von Günter Brakelmann.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021

 

Religiöse Kriegspropaganda 1914-1918.
Keine Wiederkehr des Gleichen

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine riesige Sammlung zur religiösen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg ausgehend vom Heft einer Konfirmandin. Kein Kramladen, sondern gut gegliedert und beschrieben. Die zeitgenössischen Stimmen, weit über Pfarrer, Theologie hinaus, sind authentisch zu lesen.

Ausführlich:

Wie können Christen den Krieg nicht nur rechtfertigen, sondern ihn sogar als Heilige Tat für ihren Gott gutheißen? Mit Entsetzen sieht man, wie der russische Patriarch Kyrill den Angriffskrieg der russischen Föderation, zumal seines Präsidenten Wladimir Putin, als Teil der Heilsgeschichte seinen Gläubigen anpreist. Der erste Weltkrieg wurde von allen Seiten durch eine Kriegstheologie zum Heiligen Krieg erklärt, jeden Tag schlossen die Soldaten den Gürtel mit der Koppel „Gott mit uns“, besuchten Kriegsgottesdienste, beteten neu formulierte Kriegsgebete, erhielten den Schwertsegen, zu Hause Dankgottesdienste und zunehmend Gefallenengedenken. Der Krieg wurde zur religiösen Pflicht überhöht, Menschenleben als “Opfer” verklärt.[1] Der Erste Weltkrieg ist nicht nur “die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts” im Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Verkettungen, sondern auch für den Glauben der Christen während des “Dritten Reiches”. Nicht die Splittergruppen der völkischen Religionen, sondern das zur Kriegstheologie transformierte Christentum mit seinem Gott, der zum Diener nationalen Hasses herhalten sollte, war der Nährboden des Verbrechens.[2] Zur Kriegstheologie, die sowohl Protestanten wie Katholiken wie Juden entwickelten und zur Frömmigkeit der Gläubigen gibt es eine umfangreiche Literatur.[3] Das hundertste Jahr nach dem Kriegsbeginn brachte, viel beachtet, neue Forschungen hervor. Ein Nachzügler ist das hier vorzustellende Buch. Trotz des Umfangs versucht der Autor Friedrich Erich Dobberahn in diesem Buch keine Gesamtdarstellung oder die vielfältigen Theologien des Krieges zusammenzustellen (63) – wohl aber in Kenntnis einer riesigen Menge an zeitgenössischen Äußerungen und umfassenden Kenntnis der Forschung –, sondern geht aus von einer Quelle im Familienarchiv. Das Protokollbuch einer Schülerin am Internat in Potsdam, das den Konfirmandenunterricht eines Gemeindepfarrers, Theodor Krummacher in Potsdam, und seiner Konfirmandin Ellen Richter notiert in einem Heft die wichtigsten Inhalte des Unterrichts, der zeitlich mit dem Beginn des Krieges zusammenfällt. Das Heft und eine Art Tagebuch (349), das zunehmend “ins Oppositionelle hineingespielt hat”, ist in der Familie überliefert. FED hat gesammelt nicht nur, was an Gedrucktem zur im engeren Sinne Theologie aus dem Ersten Weltkrieg überliefert ist, sondern auch die Medien, in denen Frömmigkeit und Glaube vermittelt und geteilt wurde: Lieder, Gebete, Postkarten für die Soldaten und aus dem Felde, also intentionale und auch etwas die gelebte Religionspraxis. Er begreift das Ganze unter dem Konzept „ästhetizisti­sches Sprachverbrechen“ (63). Das heißt, die Kriegspredigt, die Kriegspostkarten, -lieder, Konfirmandenstunden im Kriege sind Verpackungen der Lüge vom guten Krieg, vom parteiischen Gott auf der jeweiligen nationalen Seite. Der Krieg wird geschönt, die Ziele des wechselseitigen Tötens für moralisch nötig erklärt, religiös als „Opfer“ zur Pflicht erhoben.[4]

Die Präsentation einer riesigen Sammlung, ein Lebenswerk

In sieben Teilen führt FED seine Forschungen zusammen (Vorausschau Seite 71-75).

Erster Teil: Das theologische Ornament als Verbrechen (101-170)Zweiter Teil: Religionspädagogik und Kriegstheologie (171-388)

Dritter Teil: Gottesdienstliches Leben und Kriegstheologie (389-510).

Vierter Teil: Meinungslenkung und Resonanz der Protestantischen Kriegstheologie (511-632).

Fünfter Teil: Auswirkungen der Kriegsideologie und -theologie nach dem verlorenen Weltkrieg – die weiteren Lebenswege Krummachers und seiner Konfirmandin. (633-674)

Sechster Teil: Schlussanalyse und Ausblicke (675-774).

Der siebte Teil bietet die Transkription des Heftes der Konfirmandin, das in der Familie überliefert ist (776-801).

Der Verfasser Friedrich Erich Dobberahn (*1950) ist ein äußerst gelehrter Theologe und Germanist mit außergewöhnlichen Interessen und Kenntnissen.[5] Das Buch umfasst mit seinen 1286 Seiten neben dem Text einen Anhang (siebter Teil) mit der Transkription des Konfirmandenheftes (27 Seiten) rund 350 Seiten Anmerkungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis auf 110 Seiten, ein Namensregister, 48 Abbildungen.

Schwächen in der Konzeption: „Kontinuität“ und Differenzierungen

Bevor ich meine Begeisterung über dieses Buch und die umfassende Sammlung von Materi­alien in der gut geschriebenen Darstellung zum Ausdruck bringe, will ich ein paar grund­sätzliche Fragen notieren, die ich an den Grundlinien dieser Konzeption anders sehe:

  • Es gebe eine Kontinuität, eine ungebrochene Kontinuität der Kriegstheologie seit der konstantinischen Wende (seit 312 n.Chr.), die geradewegs zum verbrecherischen Angriffskrieg Hitler auf ganz Europa und den Weltkrieg führte. Theodor W. Adorno zitierend ist der Erste Weltkrieg der vorletzte Schritt, auf den „der Schatten des Hitler‘schen Reichs“ voraus [!] fiel und schon „seinen Bann ausübte“,[6] ja FED geht soweit, dass die Entwicklung der protestantischen Kriegstheologie ab 1914 auch für den Holocaust-Eliminationismus in Deutschland mit verantwortlich war.[7] In dem augenblicklichen Streit um die Frage, wie weit das Kaiserreich schon die Weichen gestellt habe für das „Dritte Reich“, hat Christoph Nonn in seinem Buch gezeigt, dass das Kaiserreich zwei Entwicklungen hervorgebracht hat: die nationalistische autoritäre Herrschaft und das Ende der Monarchie, die Stärkung des Parlaments, den Weg zur Demokratie.[8] Richtig kann man von Kontinuität sprechen im Bezug auf die Poetik des Krieges seit den Napoleonischen Kriegen, die FED in Kapitel 11 und 12 behandelt (511-555).

Immer wieder zitiert FED – ohne die genaueren historischen Kontexte – Texte aus unterschiedlichen Epochen. Für das Wortspiel malitia – militia (Bosheit – Kriegsdienst) beispielsweise zitiert er (61 + Anm. 292) Matthias Heimbach (1666-1747) in seiner Schaubühne des Todes. Dass der Trierer Dompredi­ger nach dem Dreißigjährigen Krieg kein Beispiel für protestantische Kriegstheologie sein kann, entgeht FED. Das Wortspiel übernimmt der Jesuit aus Bernhard von Clairvaux, der es prägte in De laude novae militiae (kurz vor 1130) zur theologischen Rechtfertigung für den gerade entstandenen Ritterorden, also die Elitetruppe der Kreuzzüge, deren Mitglieder sowohl Mönche als auch Berufs­krieger waren. Was die meisten Theologen bis dahin abgelehnt hatten, den bewaffneten Krieg, weil er malitia Bosheit erzeugt, und stattdessen den Krieg gegen die (eigenen) Sünden als militia Christi der unbewaffneten Nonnen und Mönche propagiert hatten, das verbanden beides die Ritterorden und Bernhard gab die theologische Rechtfertigung – und andere widersprachen (Deus non vult „Gott will nicht [die Kreuzzüge]“.[9] – Ein zweites Beispiel: Der ungeheure verhängnisvolle Einfluss Luthers (63): Längst hat man die Rede vom ‘Einfluss’ oder der ‘Wirkung’ oder der ‘Macht’ als falsch erwiesen. Im Unterschied dazu muss man von Rezeption sprechen: Nicht Luther ist der Aktive, sondern diejenigen, die seine Rechtfertigung für das preußisch-protestantische Deutsche Reich anwendeten. Luther riet dazu, dass die Berufsarmeen die Revolution von 1525 („Bauernkrieg“) verhindern sollten und konnten, aber man muss auch Luthers Entsetzen und Reue mit reflektieren, als er vom Gemetzel erfuhr. Das war nicht die erhoffte Ordnung Gottes. Die nationalistische Rezeption des ‚germanischen‘ Luther ab Luthers 400. Geburtstag 1883 auf der einen, die Kritik de Lagardes, dass Luther die deutsche Reformation verhindert habe, auf der anderen Seite sind nicht „der Einfluss Luthers“.

  • Ambivalenzen und Zäsuren. Auch ich sehe in der Kriegstheologie der Ersten Welt­kriegs das Saatbeet für die christliche Akzeptanz des Nationalsozialismus und seines gewaltbereiten Militarismus weit über die Deutschen Christen hinaus.[10] Aber es gibt da entschiedene Zäsuren und Transformationen. Das eine ist die Neuformulierung einer Kriegstheologie in den Kriegen gegen Napoleon. Hier wird der „Heilige Krieg“ ausgerufen.[11] Das andere ist das Epochenjahr 1917/18. Was längst schon Realität geworden war, dass der Krieg technisiert wurde, d.h. dass die Soldaten sich nicht mehr sahen, Mann gegen Mann, sondern eine Kilometer entfernt abgefeuerte Granate in den Unterstand einschlug, Giftgas sich in die Schützengräben senkte, Flugzeuge Bomben abwarfen, Stahlkolosse auf Ketten alles zermalmten: Da war kein Held mehr, der ‘mit seinem Schwert’ in der Hand in einem Geniestreich eine Schlacht entscheiden konnte. Auch in den Köpfen hatte sich etwas radikal verändert: Der Krieg hatte gesellschaftliche Konventionen aufgelöst und entlarvt. So verlangte das Epochenjahr 1917 neue, radikale Entwürfe.
  • Die Unterscheidung von ius ad bellum religio ad bellum und religio in bello: also die Rechtfertigung zum Krieg, juristisch und religiös – im Unterschied zur Religion im Krieg, die seelsorgerlichen (paränetischen) Formen des Zuspruchs für die Sterben­den, die täglich vom Tode Bedrohten und die Familien, von denen ein männliches Mitglied gefallen ist, oft damals ‚der Ernährer‘, oder gar verkrüppelt selbst Unter­stützung braucht.[12] Wichtig ist auch die von FED gezeigte Möglichkeit der Alter­native, indem die Konfirmandin als erwachsene Frau sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss (658-673), während der alt gewordene Konfirmator seine Kritik kaum äußerte, weil die Kirche ohnmächtig sei (633-657).

Alle Kritik ist eine Kleinigkeit angesichts der unglaublichen Fülle an ausgebreitetem und ausgezeichnet belegtem Wissen, das über Jahre gesammelt, in den Lebensstationen im Ausland, in der frappierenden Kenntnis von Sprachen[13] und dank der Sammelleidenschaft in diesem umfangreichen Buch. Darunter befinden sich auch 48 Abbildungen, die nicht schon überall abgebildet zu finden sind. Ein Schatz ist entstanden mit so vielen Details, die man nicht missen möchte, die zeitgenössischen Stimmen bzw. die veröffentlichte Meinung. Und das nicht in einer Kiste zum Kramen, sondern sehr gut in die Argumentation eingebunden. Auch dem Verlag (und den Geldgebern) ist zu danken, dass er nicht darauf drängte, das Buch zu kürzen, sondern das Buch in seiner überbordenden, trotzdem lesbaren Form mit all den Gedichten, Liedern, Postkarten, Predigten gedruckt hat. Dabei beschränkt sich FED aber nicht streng auf kirchliche Literatur, sondern bezieht sich auch immer wieder auf Robert Musil, Karl Kraus oder Kurt Tucholsky. So bleibt der Dank für eine bereichernde Lektüre zur religiösen Geschichte des Ersten Weltkriegs, in dem auch etwa jüdische Stimmen (492-510) und (französische bzw. belgische, seltener englische) Stimmen zu Wort kommen. Das ist mehr als die etwas hastige Zusammenstellung von Martin Greschat[14] oder die Konzentration nur auf die Predigten. Die Nähe zum Kaiserhof von Konfirmator und Konfirmandin sind gut reflektiert. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf eine Religionsgeschichte des Ersten Welt­kriegs, aber es bietet eine hervorragende, detaillierte Vorarbeit dazu.

 

Bremen/Wellerscheid, Januar 2023                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:  auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Zu Opfer im Ersten Weltkrieg (mit dem Beispiel eines französischen Juden, der sich selbst opfert für die ‘Auferstehung’ Frankreichs) Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.

[2] Thomas Schirrmacher (Sprecher der evangelischen Allianz und der Evangelikalen weltweit) hat in seiner religionswissenschaftlichen Dissertation (2007 bei Karl Hoheisel in Bonn) versucht, Hitlers Christentum als Kriegsreligion als das Gegenteil zum Christentum zu erklären, hat dabei aber nicht die Kriegstheologie der Kirchen im Ersten Weltkrieg erkannt.

[3] Zur Religionsgeschichte nenne ich nur die exzellente Lokalstudie Roger Chickering: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914 – 1918. Paderborn: Schöningh 2009. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen: Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 2006. Zur aktiven Fortführung zwischen den Kriegen (mit meiner Rezension) Der Friede, der nur ein zeitweiliger Nicht-Krieg war. Die Bedeutung der Religion im öffentlichen Diskurs Münchens 1914-1939. Andreas Holzem; Antonia Leugers: Krieg und Frieden in München 1914-1939. Topgrafie eines Diskurses. Darstellung und Dokumente. Paderborn: Schöningh 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/07/23/krieg-und-frieden-in-muenchen/ (23.Juli 2021).

[4] Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023, Kapitel 8, S. 197-228.

[5] Die Biographie (S. [1287]) nennt seine Bonner Promotion zu äthiopischen Zauberpapyri (Dr. phil.) und einem Vergleich alttestamentlicher mit islamischer Prophetie (Dr. theol.). Er lehrte nach seinem Pfarramt acht Jahre in Sao Leopoldo/Brasilien Altes Testament, dann am Missionsseminar in Hermannsburg und an der CVJM-Hochschule in Kassel. – Den Namen kürze ich im Folgenden mit den Initialen FED ab.

[6] Seite 67. Das Zitat ist Anm. 349 nachgewiesen „Adorno 2016, S. 111“. Theodor [Wiesengrund] Adorno ist 1969 gestorben. Die Jahresangabe 2016 für das Buch ist korrekt, aber um den historischen Kontext zu finden, in dem Adorno diese Aussage getroffen hat, ist die Angabe irreführend. Dazu braucht es das Jahr der Erstausgabe. Die fehlt bei vielen bibliographischen Angaben. Wenn man wie FED von einer ungebrochenen Kontinuität ausgeht, dann ist das nebensächlich, für historische Differenzierung aber unbedingt notwendig. Wie etwas rückwärts “seinen Bann ausüben” kann, ist historisch unmöglich.

[7] FED 67 „…, dass die Entwicklung der protestantischen Kriegstheologie ab 1914 – insbesondere in der apokalyptisch-darwinistischen Ausformung durch Reinhold Seeberg (1859-1935) – mitverantwortlich war für die Grundlegung des von Daniel Jonah Goldhagen definierten Holocaust-Eliminationismus in Deutschland.“ [„Eliminatorischer Antisemitismus“ ist der Begriff für den rassistische begründeten Antisemitismus, dessen Ziel die Vernichtung/Elimination aller Juden sei]. Die Forschung hat heraus­gestellt, dass der von den Nationalsozialisten verübte Genozid an den Juden Europas nicht die unaus­weichliche Konsequenz des überall in Europa grassierenden Antisemitismus war. Vielmehr kam es erst dazu, als die staatliche Herrschaft den ungeheuerlichen Beschluss fasste und organisierte. Goldha­gens These, dass ‚die Deutschen‘ Hitlers willige Vollstrecker gewesen seien, hat sich als viel zu ein­seitig erwiesen.

[8] Christoph Nonn: Zwölf Tage und ein halbes Jahrhundert. München: Beck 2020. Vgl. auch die Entwick­lung von Ernst Troeltsch, der vom Ende der Monarchie überrascht war, dann aber mit voller Kraft sich in der Regierung der Weimarer Republik engagierte. Dazu die Briefe-Ausgabe in der Kritischen Gesamtausgabe Band 21 (Berlin: de Gruyter 2018), vgl. Band 22, 504 v.a. mit der Einleitung von Friedrich Wilhelm Graf (und die Biographie, München: Beck 2022).

[9] Christoph Auffarth: Heilsame Gewalt? Darstellung, Notwendigkeit und Kritik an Gewalt in den Kreuzzügen. In: Manuel Braun; Cornelia Herberichs (Hg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginati­onen. München: Fink 2005, 251-272.

[10] Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des National­sozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442. – Falsch ist die Zuschreibung einer dem Christentum fundamental widersprechenden Hitlers Kriegsreligion, wie sie Thomas Schirrmacher Bonn 2000 sorgfältig aus Zitaten herausarbeiten wollte, ohne andere Stimmen zu berücksichtigen. Und auch hier wieder ist das kein protestantisches Phänomen. Vgl. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/11/12/pastoren-schleswig-holstein-in-der-ns-herrschaft/ (12.11.2022).

[11] Wichtig Klaus Schreiner und Friedrich Wilhelm Graf, etwa in Klaus Schreiner (Hrsg.): Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich. (Schriften des Historischen Kollegs 78) München: Oldenbourg 2008 (auch online das PDF).

[12] Wie ein Bremer Pastor das ius ad bellum, die Rechtfertigung des Krieges als Verbrechen brandmarkte, aber in seinen Predigten religio in bello praktizieren musste, die Familien trösten, die einen aus ihrer Mitte beklagten, s. Auffarth: Religion in Bremen im Ersten Weltkrieg: Zuspruch und Widerspruch. In: Lars U. Scholl (Hrsg.): Bremen und der Erste Weltkrieg. Kriegsalltag in der Hansestadt. = Jahrbuch der Wittheit 2012/13. Bremen: Falkenberg 2014, 146-160. Auch ich habe die Konfirmation als die zentrale Gelegenheit im Lebenslauf protestantischer Christinnen und Christen gewählt.

[13] Das gehört zu den überbordenden Stücken, dass FED die Pädagogik des Konfirmandenunterrichts vergleicht mit eine Griechisch-Stunde im Nationalsozialismus (337-346). Aber auch das ist mit großer Kenntnis, sorgfältiger Nachrecherche dargestellt und mit Anmerkungen versehen (die ich aus der Arbeit zu meinem Aufsatz zum Gräzisten Werner Jaeger gut kenne und nicht ergänzen muss).

[14] Martin Greschat: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick. Stuttgart: Kohlhammer 2014.

1 Gedanke zu „Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda“

  1. Sehr geehrter Herr Professor Auffarth,

    erst einmal sage ich Ihnen herzlichen Dank für Ihre freundliche und lobende Rezension, in welcher Sie sogar von Ihrer „Begeisterung“ sprechen, sowie für Ihre einzelnen Kritikpunkte und wertvollen Literaturhinweise. Ihr sehr lesenswertes Buch „Opfer“, das am selben Tag erschienen ist wie die zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage meines Buches, hat mir meine Frau übrigens zu Weihnachten geschenkt, weil in letzterem das Thema „Opfer“ ebenfalls einen hohen Stellenwert einnimmt. Ich gebe Ihnen unten die betreffenden Seitenzahlen zum Begriff „Opfer“ an. [1] Was nun Ihre Kritikpunkte betrifft (es sind in Wahrheit doch keine „Kleinigkeiten“), so erlaube ich mir, ein paar ausführlichere Anmerkungen beizubringen. [2]

    1) In Ihrem Abschnitt „Präsentation einer riesigen Sammlung“ fehlt der Hinweis auf die Prolegomena A und B (S. 27-75.76-100), in denen ich meine Arbeit als rezeptionsästhetische Untersuchung vorstelle und eine Definition des Terminus „Kriegstheologie“ als „genitivus subjectivus“ (= die Theologie wurde 1914-1945 „Kriegswerk“) anhand von Bildbetrachtungen versuche. Ich erwähne das deswegen, weil Sie in Ihrem „zweiten Beispiel“ zu dem (wie ich es ausdrückte) „ungeheuren verhängnisvollen Einfluss Luthers“ ja monieren, dass ich nicht (genügend) von „Rezeption“ spräche, was ich doch aber (S. 38 ff.45 ff.49 ff) ganz massiv getan habe. [3] Umgekehrt scheint mir, dass Sie den direkten „Einfluss oder […] Wirkung“ und den sich geistesgeschichtlich anschließenden „Rezeptionsprozess“ gegeneinander ausspielen. Der direkte „Einfluss“, die direkte „Wirkung“ Luthers ist nicht zu leugnen; „Einfluss / Wirkung“ und „Rezeption“ gehen im „worldmaking“ durch Sprache (S. 30.206.560.707.772) kontinuierlich ineinander über (S. 676). Ohne „Einfluss“ keine „Rezeption“, und ohne „Rezeption“ keine weiteren Wirkungen und „Einflussnahmen“, wobei in solchem Zusammenspiel bei durchgehaltenen Konstanten oft auch Überreizungen, Steigerungen und Radikalisierungen zustande kommen, sich also „Kontinuitäten“ ergeben können, die sich sogar vom Ursprung, vom Anfangspunkt entfernen (S. 287 ff.331 ff.408 ff.634 ff). Mörderische Ideologien entwickeln sich nicht im luftleeren Raum. Zu solchem direktem Einfluss Luthers, sowie zur verzerrenden „Luther-Rezeption“ verwies ich S. 28.63.830 (Anm. 64).910 (Anm. 601) auf Dietz Berings Abhandlung „Luther im Fronteinsatz“. [4]

    Ich vermag die initialen, direkten verderblichen „Aktivposten“ Luthers in der deutschen Kriegstheologie also nicht so zu minimieren – vor allem nicht nach Karl Barths [5] und Helmut Thielickes [6] Analysen zur Theologie Luthers. Das (neben den Inkonsistenzen seiner Zwei-Reiche-Lehre [7]) ethische Kern-Problem, das im Protestantismus bei Luther beginnt und als „Aktivposten“ auf ihn zurückgeht, ist die seiner Theologie inhärente Behauptung, dass man mit Gottvertrauen und gutem Gewissen das biblisch-ethische Wort des Fünften Gebotes und der Bergpredigt zurücktreten lassen dürfe hinter das alleinwirksame Weltregiment Gottes in der konkreten – oft ganz abscheulichen! – Wirklichkeit rein weltlicher Ordnungsverhältnisse (S. 597.1075 mit Anm. 112). Luthers Äußerungen haben nach Karl Barth und Helmut Thielicke eben auch den Grundstein gelegt für ganz verhängnisvolle Entwicklungen, die nicht ausschließlich auf eine völlig „aus der Luft gegriffene“ Lutherrezeption abzuschieben sind. Luthers Entsetzen und Reue über seine mörderischen Reden in den Bauernkriegen habe ich übrigens durchaus mitbedacht (S. 30 f.807, Anm. 29); gleichwohl behauptet er dort [8] (man beachte sein 1521-1523 formuliertes, übersteigertes Selbstbewusstsein, S. 319), Gott selbst habe ihm befohlen, derartiges zu reden; davon wäscht ihn keinerlei unangemessene Lutherrezeption rein. So hat ja auch Luthers über die Maßen ekelhafte und mörderische Judenpolemik, die schon Heinrich Bullinger und Andreas Osiander verabscheuten [9], starke Wirkung und Einfluss ausgeübt. Julius Streicher behauptete am 29/04/1946, dass statt seiner Luther auf der Anklagebank in Nürnberg sitzen müsste. [10] Und wie ich S. 733 ff.739 ff ausgeführt habe, gehört der „Ansbacher Ratschlag“ (1934), die Entfernung von Luther durch die „Ja-Aber-Theologie“ eines Otto Dibelius, Werner Elert und Paul Althaus, zwar zur unangemessenen Luther-Rezeption, ist aber ohne ihn (d.h. ohne „die Verehrung jeder obrigkeitlichen Ordnung selbst in der Entstellung“, S. 740 [11]) nicht denkbar.

    2) Das Thema solcher „Kontinuität“ aufzuzeigen – also die rezeptionsästhetische Linie „Luther-Holocaust“, in der sich (S. 30) Einfluss und Rezeption im üblen Zusammenspiel steigerten – , war mir in der Tat (wie die Rezeptionsästhetik und das „worldmaking“ durch Sprache) ein wichtiges Anliegen. Auf S. 46 f sprach ich von dem Gedankengut aus Altem Testament, der Antike und von dem, was sich seit der „Konstantinischen Wende“ auch sonst noch alles an „kriegsaffinen Schrift- und Bildwerken „aufgestapelt“ hatte und schließlich „für jeden Krieg Vorspanndienste aller Art leisten konnte.“ [12] Das Alte Testament erlebte 1914-1918 in der deutschen Kriegstheologie eine folgenschwere Renaissance als Taktgeber für den Nationalkrieg; es rückte zur maßgeblichen Instanz der Kriegspredigt auf, weil das Alte Israel seine Kriege nationaltheologisch auffasste (Deut. 20, 1-4 [13]; S. 311.391.498.504.594.597. 646), während 1914-1918 das Neue Testament (Jesu Feindesliebe in der Bergpredigt) eine dramatische Abwertung erfuhr und aus Jesus ein deutscher „generalissimus“ gemacht wurde (S. 76.97 f.142.491.505.875, Anm. 34).

    Auch wenn ich Schwächen meines über 1200-seitigen Buches nicht leugnen will, kann ich nach meinen detaillierten Ausführungen zum rezeptionsästhetischen Prozess (S. 38 ff), von „ungebrochener“ Kontinuität und einem „Geradewegs“ seit der „Konstantinischen Wende“ bis hin zum deutschen Eliminationismus (Daniel Jonah Goldhagen) nicht gesprochen haben. Das Zusammenspiel von direkter Einflussnahme und Übernahme im rezeptionsästhetischen Prozess – auch im makrogesellschaftlichen Kontext (S. 39, 2. Abschnitt) – verläuft mit starken Vorwärtsschüben, aber auch im Duell mit gegenläufigen Tendenzen (S. 39 ff), was natürlich nicht nur für 1914-1945 (S. 45 ff.49 ff), sondern ebenfalls für jede andere Epoche gilt. Ich grenze mich von jeder historizistischen Konstruktion teleologischer Geschichtszyklen als zu eklektizistisch und ideologisch verzerrend ausdrücklich ab (S. 288) und arbeitete auch heraus, dass die mörderischen ideologischen „textes et images de rupture“ (S. 56.564 f.568 ff.572), die sich 1914-1918 in den rezeptionsästhetischen Prozess einflochten, im Kirchenvolk scheiterten (S. 577 ff.596 ff.608 ff.619 ff.625 f.629 ff). Sie scheiterten in den Kreisen der Bekennenden Kirche auch 1934-1945. Zuletzt hat Eckart Conze – auf das 2020 noch anstehende 150-Jahr-„Jubiläum“ der Kaiserproklamation vom 18/01/1871 vorblickend – den mit schweren geistigen Hypotheken belasteten „deutschen Sonderweg in die Moderne“ angesprochen. [14] Ich bin nicht der einzige, der – wie Thomas Mann in seinen Tagebucheinträgen von 1937-1938 – von der deutschen „Ur-Renitenz“ und „ewigen Halsstarrigkeit“ seit Luther gegen den „mittelmeerischen Universalismus“ (S. 265) und von Hitler als „keinem Zufall, keinem illegitimen Unglück, keiner Entgleisung“ spricht. Thomas Mann schrieb 1938: „Von ihm [= Hitler] fällt ‚Licht‘ auf Luther zurück, und man muß diesen [= Luther] weitgehend in ihm [= Hitler] wiedererkennen. Er [= Hitler] ist ein echtes deutsches Phänomen.“ (S. 250). Einleuchtend waren mir hier gleichfalls die Ausführungen Nietzsches (zur Linie Luther bis Bismarck), Robert Vansittarts, Heinrich Manns, Hans Carossas, Victor Klemperers, Wolfram von Hansteins (S. 249 ff).

    In der Gesamtschau muss man, so meine ich, für die deutsche Geschichte eine phasenweise zurückgedrängte, zwischenzeitlich sogar bekämpfte, „gebrochene“, dann aber auch immer neu auflodernde [15] Kontinuität von „metaphysischen Krachschlägereien“ (so Musil) anerkennen, die schon seit Luther als ideologische Brandnester der „identités meurtrières“ (Amin Maalouf [16]) bis zum Holocaust fortschwelten und auch anderswo – wir erlebten es an Putin und Kyrill I. – ideologisch den „permanenten Kriegszustand in ‚Friedenszeiten‘“ (so Slavoj Žižek) verursachten (S. 262 ff.265 ff), bis es dann 2014 (Besetzung der Krim) und am 24/02/2022 zum offenen Kriegsausbruch kam. Im Epilog der zweiten Auflage [17] habe ich mich bemüht, die für mich ganz offensichtlichen Parallelen der identitären Kriegstheologie Kyrills I. zur deutschen Kriegstheologie bis hin zum Eliminationismus, der jetzt der ukrainischen Bevölkerung, ihrer Kultur und Staatlichkeit droht, herauszuarbeiten. Es ist die „Wiederkehr des Gleichen“. Schon im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt habe ich diese selbe Position vertreten [18] – auch in einer epd-Pressemitteilung (epd-Nachrichten Nr. 239, 12/12/2022, S. 1 ff). Die Zeilen 13 ff der Seite 772 meines Buches lesen sich inzwischen wie eine Prophetie auf Putin und seinen Kriegstheologen Kyrill I. [19]

    3) Es ist mir nicht im Traum eingefallen, das Zitat aus der „Schaubühne des Todes“ (Matthias Heimbach), das ich aus dem historischen Kontext gerissen hätte (was ich „immer wieder“ täte; ist das so?), als Beispiel für die protestantische Kriegstheologie zu nehmen. Da haben Sie mich völlig missverstanden. Das den Krieg entlarvende Wortspiel „malitia / militia“ habe ich S. 61 parenthetisch und rein assoziativ als „Anti-Legomenon“, als Gegen-Wortspiel zu dem zuvor genannten, den Krieg ästhetisierenden Wortspiel von François Rabelais „bellum / belleza“ eingefügt. Das geht m.E. aus dem Kontext der Zeilen 18 ff (S. 61) einwandfrei hervor.

    4) Zu „Ambivalenzen, Zäsuren und Transformationen“: Auch die Zeitgleichheit von Technisierung des Tötens und der Beibehaltung der verbrecherischen „Ornamente“, der „Umdeutung der maschinellen Schande des mechanisierten Massentötungskriegs zu einem mit Schild und Lanze geführten Ritterkampf“ in Schwertleitegottesdiensten, Schulbuch-illustrationen und zeitgenössischen Schlachtengemälden bis in den Zweiten Weltkrieg hinein behandele ich (S. 367 ff). Und das war ja gerade das Furchtbare, dass sich durch die Ornamentik, wie Karl Kraus (S. 152; 2. Auflage auch S. 1290) immer wieder hervorhob, in den Köpfen der ennuyierten Weltbrandintellektuellen, der Kriegstreiber (s. Abbildung Nr. 44, S. 677 in meinem Buch; jetzt auf dem Cover des zweiten Bandes der Neuauflage), sowie mancher einfacher Soldaten (im kräfteaufreibenden Frontalltag) so gut wie nichts (schon gar nicht „radikal“) veränderte / verändern konnte; s. S. 110 f.603. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür bietet auch Sigmund Freud im Dialog mit Albert Einstein. Sein Brief vom September 1932 an Einstein zur Frage „Warum Krieg?“ bestätigt die Abhängigkeiten in Bezug auf den Ästhetizismus und seine alten „Ornamente“. Der humane „Prozeß der Kulturentwicklung“, so erklärte Freud zwar, habe ihm selbst diejenigen psychischen Einstellungen „aufgenötigt“, denen nun der Krieg „in der grellsten“ Weise widerspreche; deswegen sei er zum Pazifisten geworden. Freud ließ dann aber trotz aller humanbedingten Abneigung gegen den Krieg (er sprach von „Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung“) auch seine „Zurückgeworfenheit“ auf das kulturell ebenso hergebrachte, von ihm nicht getilgte Ornamentwerk des Kriegsästhetizismus erkennen, den „alten […], in ungezählten Toasten abgenutzten Männerglanz“ (Musil). [20] Freud bekannte, dass „die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges“ – worunter er beileibe nicht bloß den Schmutz, Schmerz, Gestank aus Blut, Eiter und Verstümmelung verstand, sondern dass dieser „in seiner gegenwärtigen Gestaltung keine Gelegenheit mehr“ böte, „das alte heldische Ideal zu erfüllen“ – für ihn nicht viel weniger [!] Anteil an seiner Ablehnung des Krieges hätten als dessen „Grausamkeiten“: nämlich dass dieser „hoffnungsvolle Menschenleben vernichte, den einzelnen Menschen in Lagen bringe, die ihn entwürdigten, ihn zwänge, andere zu morden, was er nicht wolle, kostbare materielle Werte, Ergebnis von Menschenarbeit, zerstöre und anderes mehr.“ [21] Freud bewies hier, wie tief auch in ihm die Verfehltheit des ornamentalen Ästhetizismus des Krieges noch verwurzelt war. Er vermochte sich nicht von der kriegerischen Wertvorstellung zu lösen, dass – wie es Fritz Pistorius in seinem Jugendbuch „Das Volk steht auf!“ [22] und Wilhelm Ritter von Schramm 1930 in einem von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelband [23] als Ideal propagierten – man im Krieg „wirklich […] von Mann zu Mann und von Truppe zu Truppe“, Schwadron gegen Schwadron in „hohe[r] Gesinnung des echten Soldaten“ zu kämpfen habe: mit „Wille[n] zur Form und zum Stil, dem sich so leicht kein männliches Herz entziehen konnte“, wo also noch „Glorie und Ideal winkten“. An einem solchen, prominenten Beispiel wie Sigmund Freud lässt sich also in der Tat demonstrieren, wie sehr auch die desillusio-nierende Position Adornos zur „Abdankung des Subjekts“ (S. 713) zutreffen kann, so dass sogar ein zum vehementesten Widerstand gegen den Krieg entschlossenes Subjektsein immer noch Gefahr läuft, in der traditionsverhafteten Blindheit für Ornamente unterzu-gehen. Freud gelang es nicht, sich in das mörderische Kriegselend selbst imaginär hinein-zuversetzen, was dagegen Frontsoldaten gelang (vgl. S. 39 zu Ernst Toller und Erich Maria Remarque). Freud huldigte weiterhin den alten Idealen, den „Ornamenten“.

    5) „Die Unterscheidung von ius ad bellum, religio ad bellum und religio in bello“: dass es hier auch eine andere Kirche gab, habe ich – auf meine Weise allerdings – (auch mit Beispielen) deutlich angesagt: S. 29.31 f.51 ff.55 ff.581.598.600 ff. Zu Alternativen zur Kriegstheologie s. Kap. XVIII, auf den Seiten 697-762 (Der Theologe und Sozialethiker Prof. Günter Brakelmann, der auch das Geleitwort zu meinem Buch schrieb, empfahl mir dringend, dieses Kapitel einzuschieben, wodurch mein Buch um weitere 150 Seiten anschwoll); zu den Alternativen zur staatsloyalen Unterstützung vgl. Markus Wriedt, ThLZ [s.o.], Sp. 582.

    6) „Wie etwas rückwärts ‚seinen Bann ausüben‘ kann …“ (Anm. 6 Ihrer Rezension): Adorno, der bisweilen von der Qabbala beeinflusst denkt [24], spricht hier natürlich aus der Retro-spektive heraus. [25] Nach jüdischer Terminologie liegt die Zukunft im Rücken (‘aḥarīṯ, z.B. Jer. 29, 11); sie liegt bereits hinter einem, und man lebt im Schatten der Prophetie, eines zusammengeballten, unweigerlich Kommenden, während man die vor einem liegende Vergangenheit betrachtet (S. 747 ff.1140, Anm. 431, Lit.). Der von Adorno gemeinte „Schattenwurf“ des späteren Endergebnisses des antizivilisatorischen Prozesses in Deutschland suggeriert „zurückfallend“, dass die keimhaften Ursprünge für den tiefer Blickenden die Zukunft antizipieren und diese auf solche Weise umso klarer hervortreten lassen. Oder, um mit Heinrich Heine, selbst Jude, zu reden: Vom „Blitz“, den man zuerst sieht (= den vom deutschen Idealismus genährten Vortrefflichkeitswahn), kann man „zurück“ auf den hiermit verbundenen, zukünftig noch heranrollenden „Donner“ (= Hitler) schließen (vgl. S. 31.761): Heine sagt zu den Verursachern des Donners, zu den „Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen“ (S. 262 ff.265 ff): „Der deutsche Donner ist freilich auch ein deutscher, und ist nicht sehr gelenkig, und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals [!] in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht.“ Das hat sich in der Tat 1933-1945 auch exakt so ereignet. Wenn man so will, hatte Heine den „vorausfallenden Schatten“ erkannt. Vgl. a. Sebastian Haffner (S. 762, er schrieb seine Jugend-Memoiren 1939) und dazu das Gedicht Heinrich Vierordts von 1914, erste Strophe (S. 248), das erst von den zukünftigen Krematorien in Auschwitz rückwärts grell beleuchtet wird („Hinschlachte Millionen der teuflischen Brut, / Und türmten sich berghoch in Wolken hinein / Das rauchende Fleisch und Menschengebein!“). Das Adorno‘sche Diktum vom „vorausfallenden Schatten“ (S. 67.71.672.847, Anm. 224) habe ich mir (S. 902, Anm. 496) auch an Überlegungen Viktor von Weizsäckers zur proleptischen Struktur der Biographie evidenziert: dass es so-etwas geben und dass so-etwas geschehen kann, das „nur und nur aus reinem Zukünftigen plausibel wird.“ [26]

    7) „Goldhagens These“ (Anm. 7 Ihrer Rezension): Unausweichliche Konsequenzen von Ideologien gibt es natürlich nicht. Denk- und Handlungsalternativen sind immer denkbar. [27] Vom Historizismus habe ich mich (gestützt auf Karl Popper) ausdrücklich abgegrenzt. [28] Die Beschreibung der „gallertartigen“, will sagen: übermäßig anpassungsbereiten, konformistischen, „willigen“ Existenz des Menschen, und eben vorzugsweise des Deutschen, durch Musil (S. 733) hat mir aber doch zu denken gegeben; vgl. hier auch S. 37 (Karl Kraus).45 ff (sowie die Verse Richard Nordhausens).49.564 f (zu den rasant steigenden Auflageziffern des „Stürmers“ und den weit in der Vergangenheit liegenden Gründe hierfür). Unwillig waren die damaligen Deutschen also beileibe nicht; sie waren sogar willig schon in vorauseilendem Gehorsam (so z.B. in der rassenkundlichen Schul-Pädagogik, S. 331 ff). Eine ganz niederschmetternde Lektüre ist in genau diesem Sinn allgemeiner „Willigkeit“ [29] auch der Dokumentationsband „Gott mit uns“ – Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, hg. v. Ernst Klee / Willi Dreßen / Volker Rieß, Frankfurt a.M., 1989. Dort, auf S. 41 und 43 (mit S. 245) liest man dazu auch Auszüge aus Verlautbarungen des deutschen Episkopates vom 10/12/1941 an die Reichsregierung und das Telegramm des Geistlichen Vertrauensrats der deutschen Evangelischen Kirche an den Führer vom 30/06/1941. Die Nachweise der Kirchen-Willigkeit (vgl. a. S. 639 ff) sind überwältigend. [30] Und noch in den allerletzten Kriegstagen, am 08/04/1945, gab es hier in Celle noch eine „Hasenjagd“, ein grauenhaft überflüssiges Abschlachten von Juden, dem mindestens 170 KZ-Häftlinge zum Opfer fielen. Ein Räumungstransport (Bergen-Belsen liegt im Landkreis Celle) war bombardiert worden, wodurch die Überlebenden zunächst in Freiheit gelangten, danach aber verfolgt und schließlich ermordet wurden (Wikipedia). – – –

    Noch eine Bemerkung zum Abschluss: In den bisher auch sonst durchweg sehr freundlichen und anerkennenden Rezensionen zu meinem Buch (Bert Rebhandl, FAZ vom 14/01/2022, S. 10; Markus Wriedt, ThLZ [s.o.]; Ulrich Tietze, ZKG, Jg. 133, Heft 1, 2022, S. 143-145) ist ein mir wesentliches Anliegen, eine mir wichtige These nicht aufgegriffen worden: Der zur deutschen, essentialistischen, identitären Kriegstheologie alternative Ansatz der kosmopolitischen Bestimmung Deutschlands als einem „Herzvolk“ Europas, das gedeihliche Unionsschöpfungen (vor allem mit Frankreich [31]) einzugehen habe und mit dem sog. „Bismarckianismus“ und der Verpreußung Deutschlands zu einem nationalistischen, waffenstarrenden Machtzentrum in Europa auf dem abschüssigen Weg zur eigenen Entstellung und Verstümmelung war (S. 714 ff: Adelbert von Chamisso; S. 722 ff: Ludwig Börne, Victor Hugo; S. 519 ff.751 ff.759 ff: Antoni Chołoniewski, auch schon Humboldt, Goethe, Schiller, Madame de Staël („il faut, dans nos temps modernes, avoir l’esprit européen“), Jean Paul, Karl Christian Planck, Bogumil Goltz, Nietzsche, Friedrich Wilhelm Foerster, Ricarda Huch, Thomas Mann (den Willen „nicht zu einem deutschen Europa, sondern zu einem europäischen Deutschland“ kundzugeben). Die neuere und jüngste Geschichte Deutschlands in Europa (und der Welt) lehrt uns, dass wir Deutschen jetzt endlich wieder zurück auf dem richtigen Weg unserer kosmopolitischen Bestimmung als Kulturvolk angekommen sind (S. 768 f).

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    Anmerkungen

    [1] S. 31.49.57.68.92.100.112.122 f.131 ff.134.142.148.151.159 ff.212.216.235.237.239.255 f.258 f.284. 294. 301.308.315.321.323 ff.327.340.343.359 f.362.367 f.372 ff.397 ff.401 f.411.416. 420.424.427.432. 444.454. 457.459.469.480.483.488.490.494 f.497 ff.501 f.507.519.539.543 f.547.553.569.578.582 ff.589 ff.593.597.604. 608.620.626.629 f.635. 638.644.647.656.663. 682 f.694.702.705.709.726.732.741.760.767.779.876. 904.931. 935. 941.952.958.969. 988. 1002.1010.1014.1016.1027.1038 ff.1042.1044 f.1055 f.1066.1070. 1115 f.1130. 1155.1175.

    [2] Herrn Professor Auffarth hatte ich am 21/01/2023 persönlich geschrieben; er ermutigte mich am 23/01/2023, meine Anmerkungen in der Kommentarfunktion öffentlich zu machen. Ich sende hier eine nochmals überarbeitete Fassung.

    [3] S.a. Markus Wriedt (Goethe-Universität Frankfurt a.M.), ThLZ, Jg. 147, Heft 6 [Juni], Leipzig, 2022, Sp. 582.

    [4] Dietz Bering, Luther im Fronteinsatz – Propagandastrategien im Ersten Weltkrieg“, Göttingen, 2018, passim.

    [5] S. 250 f mit Anm. 506 f, S. 903.

    [6] S. 597, mittlerer Abschnitt, mit Anm. 112, S. 1075.

    [7] S. 600.1075, Anm. 127 (Thielicke).

    [8] WA Tr. III, Nr. 2911b, S. 75, Z. 19-23.

    [9] Lyndal Roper, Luther – Der Mensch Martin Luther, Die Biographie, Frankfurt a.M., 2016, S. 498 ff.

    [10] Vgl. S. 250 (wie furchtbar auch die Äußerungen der genannten sieben deutschen Landeskirchen vom 17/12/1941!).565.

    [11] Ich erinnere nur an die beiden fast vergnüglich zu lesenden „Exempel“, die Luther in seinem Traktat von 1526 „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“ im Zusammenhang von WA 19, S. 634 ff erzählt (S. 639 f).

    [12] Vgl. a. Friedrich Erich Dobberahn, Gewalt im Alten Testament – unser Unbehagen und Unverständnis, in: Ders. / Peter Schierz (Hgg.), Raum der Begegnung – Perspektiven der Bildung, Forschung und Lehre im Spannungsfeld multikultureller und multireligiöser Gesellschaft, Festschrift für Kurt Willibald Schönherr, via verbis verlag, 2., veränderte Auflage, Taufkirchen, 2013, S. 119-152.

    [13] Gerhard von Rad, Der Heilige Krieg im Alten Israel, Göttingen, 1951, passim; freilich ist das längst nicht mehr die allgemeine Auffassung des Judentums; s. Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1988, S. 341 (§ 327) und 368 f (§ 358).

    [14] S. 69.250 f.515; Eckart Conze, Schatten des Kaiserreiches – die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München, 2020, S. 199 ff.

    [15] Zu den wirtschaftlichen Hintergründen – die identitären Mythen wurden / werden zur Verhetzung den ökonomischen Konflikten sekundär aufgesetzt – verwies ich verschiedentlich (S. 36.551.810, Anm. 79) auf Albrecht Koschorke, Wie werden aus Spannungen Differenzen? – Feldtheoretische Überlegungen zur Konfliktsemantik“, in: Heinz Fassmann / Wolfgang Müller-Funk / Heidemarie Uhl (Hgg.), Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989, Göttingen, 2009, S. 271-285.

    [16] Vgl. jetzt auch das Buch von Omri Böhm, Radikaler Universalismus jenseits von Identität, Propyläen, Berlin, 2022.

    [17] S. 1161-1179, insbes. S. 1175 ff: „Putins Krieg und die abscheuliche Wiederkehr der theologischen Ursünde“.

    [18] DtPfrBl. Jg. 122, Heft 7 [Juli], Speyer, 2022, S. 399-403.

    [19] Vgl. zum „Prophetischen“ a. die Rezension von Markus Wriedt, ThLZ, op. cit., Sp. 581.583.

    [20] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg, 1988, Bd. II, S. 1978.

    [21] Sigmund Freud, Werkausgabe in zwei Bänden, hg. v. Anna Freud / Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a.M., 1978, Bd. II, S. 492 f.

    [22] Fritz Pistorius, Das Volk steht auf – Erlebnisse eines deutschen Jungen 1806-1813, Leipzig, 1905, S. 119 f.198.282 f: „Mann gegen Mann. Mit dem Degen in der Faust […]. Ein heißes Ringen Mann gegen Mann, ein Schreien und Stöhnen, ein Hohnlachen mit brechendem Auge. […] Mann gegen Mann kämpfen die Soldaten, mit Bajonett und blanker Waffe, hin und her, wild und endlos.“

    [23] Wilhelm Ritter von Schramm, in: Ernst Jünger (Hg.), Krieg und Krieger, Berlin, 1930, S. 39.41 f („Schöpferische Kritik des Krieges“); vgl. a. Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus, in: Kritiken und Rezensionen, werkausgabe Band 8, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, edition suhrkamp. Frankfurt a.M., S. 240.244.

    [24] Ansgar Martins, Adorno und die Kabbala, Pri ha-Pardes, Bd. 9, Potsdam, 2016.

    [25] Gewiss hätte ich auch die „Erstausgabe“ angeben sollen (s. Ihre Anmerkung 6). Öfter habe ich das auch so gemacht (wie z.B. bei Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“, die erst 2000 erschien, aber schon 1939 geschrieben wurde). Ich habe mich aber irgendwann – bei den insgesamt über 2000 zitierten Titeln – entschieden, die Bücher so zu zitieren, wie sie auf meinen Schreibtisch kamen, und habe dem kundigen Leser die ungefähre historische Einordnung zugetraut. Längst trifft auch nicht immer der Zeitpunkt des jeweiligen Niederschreibens mit dem Zeitpunkt des Erstdrucks zusammen, wenn z.B. (wie gerade in Kriegs- und Fluchtzeiten) Texte aktuell nicht gedruckt werden konnten oder erst posthum aufgefunden und veröffentlicht wurden.

    [26] Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen, 1967, S. 255 ff.

    [27] Zu Robert Musil s. S. 38 f.713.

    [28] S. 263 mit Anm. 609 (S. 911), S. 269 mit Anm. 672 (S. 916); Karl Popper: „Das Elend des Historizismus“, Tübingen, 1969.

    [29] Friedrich Erich Dobberahn, Wie man vom Genozid reden muss – Epigrafische Zeugnisse aus dem Celler Landkreis, in: Celler Chronik – Beiträge zur Geschichte und Geographie der Stadt und des Landkreises Celle, Bd. 24, hg. v. Museumsverein Celle e.V. (Andreas Flick / Sabine Maehnert), Celle, 2017, S. 134.

    [30] S. a. Georg Denzler / Volker Fabricius, Die Kirchen im Dritten Reich – Christen und Nazis Hand in Hand?, Fischer 4320/4321, Bd. I-II, Frankfurt a.M., 1988.

    [31] In Anbetracht der sog. „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich habe ich wesentlich mehr französisch-sprachige Kriegsliteratur zitiert als englische.

    Friedrich Erich Dobberahn
    Dr. theol. Dr. phil.
    Schlüpker Weg 22
    29320 Südheide,

    25/01/2023.

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