Manfred Gailus:
Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich
Freiburg: Herder 2021.
221 Seiten.
ISBN 978-3-451-03339-1
Religion im Nationalsozialismus:
kein Widerspruch, aber auch keine feindliche Übernahme
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Die Summe des Lebenswerks des Historikers Manfred Gailus, der die Religionsgeschichte der nationalsozialistischen Zeit grundlegend neu erforscht hat. Damit erhält die Kirchengeschichte einen neuen Rahmen.
Ausführlich:
Der Historiker Manfred Gailus hat seit dreißig Jahren grundlegend neue Forschungen unternommen und weitgehend unbekannte Akteure bekannt gemacht, die in der Kirchengeschichte keinen Platz hatten, aber die Religionsgeschichte der NS-Zeit neu zu verstehen veranlassen.[1] Jetzt hat er ein schlankes Buch (das war die Vorgabe des Verlages) mit den Ergebnissen seiner (und anderer) Forschungen in knappen Kapiteln geschrieben und thematisch abgerundet. Dazu gehören die umfangreichen Studien zu den evangelischen Berliner Kirchengemeinden, er hat das Gutachten der Lehrerin Elisabeth Schmitz gegen die Ausgrenzung der Christen bekannt gemacht, die aus jüdischen Familien stammten, er hat die ‚Amtshilfe‘ der Pfarrer untersucht, die aus den Kirchenbüchern den Ariernachweis erstellten und damit beispielsweise in Schleswig-Holstein die Zahl der nach NS-Definition ‚rassischen Juden‘, aber getauften Christen um bald 50% vergrößerte.[2] Er hat den Fall des Juristen Friedrich Weißler erforscht, den die Kirche aus Angst vor der GeStaPo fallen ließ und ihn damit auslieferte, so dass er in der Haft zu Tode geprügelt wurde, u.a. Bei den Forschungen wurde deutlich, dass die Nationalsozialisten keine eigene Religion aufbauten (zur „Doppelgäubigkeit“ gleich), die Bedeutung der völkischen Religion marginal blieb, das Christentum die Religion von 95% der Deutschen und Österreicher blieb (erhoben in der Volkszählung von 1939). Zu ‚Christentum‘ ist folgendes hinzuzufügen: Seine Traditionen wurden und werden im Lichte zeitgenössischer Erfahrungen immer neu interpretiert und dient in seiner staatsgläubigen Auslegung herrschaftsaffirmierend, in seiner bibelgestützten Auslegung ergeben sich gemäßigt kritische Positionen.[3] Die Nationalsozialisten konnten sich auf die Akzeptanz durch die Christen verlassen, verfolgten aber, insbesondere in kleinen Aktionen vor Ort,[4] antiklerikale und in zunehmendem Maße auch antikirchliche Politik. Entgegen der Behauptung der Kirchen nach 1945 und entgegen unserem heutigen Verständnis von Christentum war die NS-Zeit weder atheistisch noch antichristlich, sondern religionsproduktiv, stellt MG als Ergebnis seiner Forschung fest: Es waren „gläubige Zeiten“. Das hat MG mit präzisen Zahlen. Daten, biographischen Skizzen beschrieben und in den Anmerkungen im Anhang umfassend belegt, die den Fortschritt der (auch internationalen) Forschung aufzeigt.
In einem Schreiben an sämtliche Gauleiter im Juni 1941 behauptete der zum Leiter der Parteikanzlei aufgestiegene Martin Bormann, selbst aggressiver Kirchenfeind, dass die nationalsozialistischen und die Christlichen Weltanschauungen unvereinbar seien. Der Einfluss der Kirchen auf die „Volksführung“ müsse endgültig gebrochen werden. Dieses amtliche Schreiben wurde von Kirchenhistorikern als Beleg gewertet, was die NS-Führung nach dem Sieg im laufenden Weltkrieg mit den Kirchen vorhatte. GM ergänzt aber, was mit dem Schreiben weiter passierte. Alfred Rosenberg schrieb in sein Tagebuch von dem ‚unmöglichen Brief‘ Bormanns und kommentierte „Mit Holzhackermanieren kann man 2000 Jahre europäischer Geschichte nicht überwinden.“[5] Und ein halbes Jahr später musste er das Schreiben offiziell zurücknehmen. GM nennt das „Doppelstrategie“, richtiger müssten man von Parteiungen innerhalb der NS-Elite sprechen, denn es gab keine gemeinsame Strategie auch nicht in religiöser Hinsicht mit Vorpreschenden und Bremsern, sondern konträre Positionen in der ‚Polykratie‘ des NS.[6]
Aus meinen Forschungen als Religionswissenschaftler[7] lese ich das Buch als eine ausgezeichnete, in vielem neuartige Religionsgeschichte der NS-Zeit.[8] Die Religionswissenschaft hat zu den Untersuchungen einiges beigetragen, positiv sind zu nennen Hubert Cancik, Horst Junginger, Ulrich Nanko, Schaul Baumann, Fritz Heinrich. Aus der Perspektive der Religionswissenschaft sind folgende Bemerkungen in die interdisziplinäre, problemorientierte Diskussion einzubringen:
Das betrifft zum einen die Religionsgeschichte: Wenn man die NS-Zeit abhebt von Weimarer Republik (als „gottlos“ geziehen) einerseits, der BRD und DDR andererseits, dann ergibt sich das Bild einer Ausnahmezeit. Zieht man allerdings die Linie weiter, dann ergeben sich mehr durchgehende Linien. Der Staat als realisiertes Christentum und Staatsgläubigkeit der Christen kennzeichnete den Nationalstaat nicht nur des preußisch-deutschen Reiches von 1871-1918. Höhepunkt der Gewaltverherrlichung des allmächtigen Nationalgottes entfaltete sich in der Kriegsbegeisterung und Opferbereitschaft des Ersten Weltkriegs. Die Niederlage verlangte nach einer nationalen Eschatologie, die mit dem Begriff des „Dritten Reiches“ 1933 das Eingreifen des Nationalgott erkennen wollte.
Das Judentum nur von außen zu betrachten (MG 89-95) erkennt nicht die innerjüdische Identifikation (revival ist MGs Lieblingswort), wie sie Elias Bickermann 1937 in seinem Buch Der Gott der Makkabäer beschrieb. Der Krieg der Makkabäer gegen die Fremdherrschaft sei ein Aufruf an die Juden, der Warschauer Aufstand 1943 ein Fanal, dass Juden nicht passive Opfer sind.[9]
Ein anderer Punkt ist die Verwendung des Wortes „Hitlerzeit“ (auch Hitlerpartei). Die Geschichtswissenschaft lehnt solche Begriffe ab, weil das suggeriert, dass Geschichte von großen Männern gestaltet werde. Trotz der großen Bedeutung des ‚Hitler-Mythos‘ trifft das auch nicht für die NS-Zeit zu.
Das andere sind religionswissenschaftliche Konzepte:
(1) Europäische Religionsgeschichte ist ein Konzept, komplexe Religionssituationen (wie Europa seit der Renaissance) zu analysieren. Burkhard Gladigow hat es 1995 entwickelt und seither ist es zu einem Forschungsgebiet geworden.[10] Demnach gibt es in solchen Religionssituationen, besonders in der Moderne ‚mitlaufende Alternativen‘, nicht nur andere Religionen, nicht nur andere Konfessionen, nicht nur nach den Revolutionen auch säkulare Religionen wie Nationalreligion, Zivilreligion, Rationalreligion, Kriegsreligion, Kunstreligion, Rassismus (die sich mit Konfessionsreligionen mischen können), sondern auch andere Sinnstifter wie (Natur-) Wissenschaften, Staatsrituale, Tierschutz, etc.[11] (2) Typisch ist, dass Menschen in verschiedenen Situationen verschiedene Werte ‚glauben‘ und vertreten.[12] Was als hybride oder Doppelgläubigkeit für den NS als Besonderheit beschrieben wird, ist also eher der Normalfall. (3) ‚Glaube‘ ist nur eine Dimension von Religion, die freilich nicht nur die kognitive Seite umfasst (Glaube an).[13] Im NS wird das Wort eher zu einer Haltung (Gläubigkeit, Entschiedenheit), die zur Tat drängt. Die Frage, ob der NS auch Moral umfasst, wird gerade kontrovers diskutiert.[14] Harald Welzer hat auf der Grundlage von Forschungen von Christopher Browning herausgearbeitet, wie aus ganz Normalen Menschen Massenmörder wurden. Familienväter, die ihre Kinder taufen ließen, das Abendmahl nahmen, als Polizisten für die Ordnung eintraten, führten in Kameradschaft einen Befehl aus. Wenn die Obrigkeit das für notwendig ansah, dann stand jeder der tausend Polizisten an seinem Platz, Juden aus ihren Häusern zu holen, an einem Platz zu sammeln, auf Lastwagen zu setzen, den Lastwagen zu fahren, die Grube im Wald zu graben, ein paar Dutzend schossen die Juden in den Kopf, Tausenden von Frauen, Männern, Kindern. Das empfanden sie nicht als kognitive Dissonanz. Zu Hause konnten sie das keinem erzählen, vielleicht beichten, aber draußen hinter der Front waren sie die, die für ‚Ordnung‘ sorgten.
Religion in der NS-Zeit ist also als herausragender Fall von Europäischer Religionsgeschichte zu analysieren.
Religion ist ein bedeutender Faktor in einer Gesellschaft. Aber das Thema wird meist ausgespart, wenn man nach dem Erfolg des NS fragt, zuletzt wieder in dem von Magnus Brechtken und Frank Bajohr herausgegebenen Band Aufarbeitung des Nationalsozialismus: ein Kompendium (Göttingen : Wallstein Verlag, [2021]). Das Buch von Manfred Gailus ist hochwillkommen, weil es den Stand der Forschung kompetent und exzellent zusammenfasst, die Perspektive von den Kirchen auf Religion und die praktizierte Religiosität verbreitert, vieles aus eigenen Forschungen erarbeitet, aber fair auch andere Forschungen aufnehmend. Das ist der Ausgangspunkt und Fundament, um weitere Forschungen einzuordnen und die Konzepte aus den Perspektiven der beteiligten Fächer weiter zu diskutieren.
Bremen/Wellerscheid, Dezember 2021 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Manfred Gailus *1947 ist Prof. (em.) für Neue Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Im folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen MG ab.
[2] Rezension des Autors: Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich. Hrsg. von Manfred Gailus. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2008. in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 257-258.
[3] Die Ambivalenz wird deutlich in dem Verhalten des bayerischen Landesbischof Hans Meiser, der einerseits in Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre (richtig wäre zwei-Regimenter-Lehre) auch die NS-Obrigkeit als von Gott eingesetzt verstand, der Christen Gehorsam zu leisten geboten sind (Paulus, Römer 13, nicht Apokalypse 13), andererseits, wenn er Eingriffe der Partei oder des Staates in die Kirche sah, diese vehement und mehrmals erfolgreich abwehrte. Dazu die umfassende neue Biographie, vgl. meine Rezension: Der bayerische Bischof Meiser im ‚Dritten Reich‘ und in der Bonner Republik. Nora Andrea Schulze: Hans Meiser: Lutheraner – Untertan – Opponent (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: B ) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/10/11/bischof-hans-meiser/ (11.10.2021).
[4] GMs Darstellung ist etwas einseitig in Bezug auf Berlin und Protestantismus. Das bedeutet, dass immer noch sehr viel zu untersuchen bleibt, um die vielen Einzelfälle verallgemeinern zu können., d.h. zahlenmäßig und qualitativ zu bewerten. Ein Vergleich wie der zwischen dem Rottenburger katholische Bischof Johannes Baptista Sproll ((1870-1949) und dem evangelischen Bischof von Württemberg Theophil Wurm (1868-1953) ist schon sehr aufschlussreich, s. Dominik Burkard: Der Katholizismus – Profiteur der nationalsozialistischen Kirchenpolitik? Ein Beitrag zum Verhältnis der Konfessionen in Württemberg im ‚Dritten Reich‘. In: Zeitschrift für Württembergische Landeskirche 77(2018), 305-353.
[5] GM 145 mit den Nachweisen. Rosenbergs Tagebuch 1934-1944 wurde 2015 veröffentlicht, hier S. 407, wo Rosenberg aber selbst sagt: “Wir brauchen die geistig-seelische Kraft für die letzte große Auseinandersetzung unseres Lebens: für die Überwindung der christlichen Konfessionen.“ [nicht Christentum, denn das sah Rosenberg schon bei Meister Eckart im Mittelalter im Sinne des NS interpretiert].
[6] Dazu ein Aufsatz des Rezensenten „Parteiungen im Totalitarismus: Christenheiten und Ideologien im ‚Dritten Reich‘“. [voraussichtlich] In: Ansgar Jödicke; Karsten Lehmann; Christian Meyer (Hrsg.): Religion, Partei, Parteiung 2022.
[7] Zusammengefasst in dem Handbuchbeitrag „Drittes Reich“. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449.
[8] Schon weitgehend in diese Richtung weisend Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus. Ditzingen: Reclam 2014. Meine Rezension http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/11/19/die-kirchen-und-der-nationalsozialismus/ (19.11.2014) und Ders./Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020.
[9] Zu Bickermann (im Exil andere Schreibweisen des Namens) Auffarth: Die Makkabäer als Modell für die Kreuzfahrer. Usurpationen und Brüche in der Tradition eines jüdischen Heiligenideals. Ein religionswissenschaftlicher Versuch zur ”Kreuzzugseschatologie” [2]. in: Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Christoph Elsas [u.a.]. Berlin: De Gruyter 1994, 362-390. Zu Juden und Opfer siehe Auffarth, Opfer. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2020, Kapitel 8.4 und 8.5. Auffarth: Christliche Festkultur und kulturelle Identität im Wandel: Der Judensonntag. In: Benedikt Kranemann; Thomas Sternberg (Hrsg.): Christliches Fest und kulturelle Identität Europas. Münster: Aschendorff 2012, 30-47.
[10] Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte [1995] in: BG: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2005, 289-301. Wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet bei Christoph Auffarth; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel. Tübingen: Tübingen University Press 2021.
[11] Eindrucksvoll herausgearbeitet von Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie. 2 Bände. München: Fink 2014-2019.
[12] MG behandelt einerseits SS-Männer unter Parteiglaube und schließt sich der These des Ausschlusses von Ganzheitsansprüchen der Kirche und des ‚Totalen Staates‘ an (69). Andererseits kennt er die Statistik, die Daniel Kuppel: „Das Echo unserer Taten“. Die Praxis der weltanschaulichen Erziehung in der SS. Paderborn: Schöningh 2019, 217f nachweist: „Auch die SS bestand mehrheitlich aus konfessionell gebundenen Männern. 1937 waren in der Allgemeinen SS ca. 62% evangelisch und 21% katholisch. 1938 sank der Anteil an Protestanten auf 54%, derjenige der Katholiken stieg wegen des Anschlusses Österreichs auf ca. 24%. Die Zahl der Gottgläubigen lag 1937 bei ca. 16% und stieg bis 1938 auf ca. 22 Prozent.“
[13] Die Dimensionen von Religion (statt einer Definition, in der Glaube und Transzendenz vorkommt) sind erläutert in Auffarth/Hubert Mohr: Religion. in: Metzler Lexikon Religion 3(2000), 160-172.
[14] Vgl. Auffarth, Rezension Fritze, Nationalsozialistische Moral 2019 + Bialas/Fritze, Ideologie und Moral im NS http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/07/27/moral-der-nationalsozialisten/ (27.7.2020).