Aneignungen Luthers

Thomas Kaufmann: Aneignungen Luthers und der Reformation.

Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.-21. Jahrhundert.

Hrsg. von Martin Keßler. (Christentum in der modernen Welt 2)
Tübingen: Mohr Siebeck 2022.
XIV, 653 Seiten. ISBN 978-3-16-161336-4

 

Aneignungen Luthers zu einem deutschen Helden
und Vorbild für den Nationalsozialismus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Sammlung von Aufsätzen zeigen vorzüglich die Fokussierung auf Luther als den Deutschen, besonders auch in der Zeit des Nationalsozialismus, und die Wissenschaftsge­schichte der (deutschen) Kirchengeschichte als Theologie, aber kaum einen Weg künftiger Forschung.

Ausführlich:

In der Tat spielt die Forschung zu Luther und weniger zur Reformation als ‚Bewegung‘ den zentralen Bezugspunkt der Wissenschaftsgeschichte, zu der Thomas Kaufmanns Aufsatz­sammlung bestens informierte und deutlich im Verhältnis zum Nationalsozialismus wertend Beiträge liefert. Im Mittelpunkt stehen die Deutungen von Ernst Troeltsch und Karl Holl wie seiner ‚Schule‘, was das Zentrum der Reformation ausmache. Ernst Troeltsch hatte in seinem Tausend-Seiten-Buch Die Soziallehren 1912,[1] vorbereitet in 1906, die deutsche Ausnahme­stellung zur Reformation als weltgeschichtliche Wende bestritten. Luther und der Altprotes­tantismus waren, so Troeltsch, noch weitgehend dem Mittelalter verpflichtet, erst mit dem Neuprotestantismus begann die Neuzeit. Übersetzt in die Gegenwart waren das die Schweizer Reformierten in Westeuropa und dann vor allem die nach Nordamerika ausge­wanderten Christen, die Puritaner. Max Weber schrieb seine zwei Aufsätze zu Die protes­tantische Ethik 1904/1905, Troeltsch sein Der Protestantismus und die protestantische Kirche in der Neuzeit. Zusammen mit seinem Fachmenschenfreund Max Weber war er eingeladen zu einem Kongress in St. Louis im Zusammenhang mit der dortigen Weltausstellung. In der Vorbereitung hatten sie sich eingearbeitet in das nordamerikanische Christentum und seine calvinistischen Wurzeln.[2] Damit war ein Streit vom Zaun gebrochen, der am deutschen Selbstverständnis des Kaiserreichs nagte, mit dem Ersten Weltkrieg zum Skandal wurde. Mit der Radikalität, Konventionen aufzukündigen, traten zwei theologische Positionen gegen Troeltsch‘ Geschichtskonstruktion an: Zum einen die Dialektische Theologie mit dem himmelweiten Abstand von Gott und Mensch und auf der anderen Seite Karl Holl und seine Schule, die die gerade edierten frühen Schriften des jungen Luther interpretierten und den Zeitpunkt der „reformatorischen Erkenntnis“, die Rechtfertigungslehre viel früher ansetzten und als massiven Bruch mit dem Mittelalter verstanden.[3] Die Weimarer Republik als ‚gott­losen‘ Staat ablehnend, konnten viele Protestanten sich identifizieren mit dem autoritären Führerstaat und beriefen sich dafür auf Luther. Ein herausragendes Beispiel ist der Berliner Kirchenhistoriker und Reorganisator des theologischen Curriculums, Erich Seeberg.[4] ThK hatte schon in dem großartigen Aufsatz die Seebergs mit den Harnacks verglichen, zwei Professoren-Dynastien, die im Baltikum als Minderheit das Deutschtum vertreten hatten, und nun in Berlin die eine (Harnacks) die Demokratie stärkten bis hin zum Attentat auf Hitler, die andere (Seebergs) in vorderster Front für den Nationalsozialismus eintrat. Besonders eindrücklich ist der Nachweis, wie Werner Elert sein Kriegserlebnis (des Ersten Weltkriegs) im Kampf um das Christentum 1921 und dann in seiner Morphologie des Luthertums verarbeitete, um dann 1934 gegen die Barmer Synode den Ansbacher Ratschlag zu veröffent­lichen, der Rasse als Gottes Schöpfungsordnung theologisch rechtfertigte.[5] Noch aufregender ist das Lutherverständnis Hermann Dörries, der sich nach 1945 als Opposition zum NS stilisierte, aber einen Beitrag in seiner Bibliographie verheimlichte, der bereits 1932 An die Kritiker des NS: ein Schutzwort statt einer Kritik für den damals noch weitgehend geächteten NS schrieb.[6] Differenziert zu Heinrich Bornkamm, dessen wichtige Studie zu Luther und das Alte Testament zwar erst 1948 erschien, er das Thema aber schon im Krieg – gegen die Verwerfung des AT – gewählt und erarbeitet hatte.[7]

Im Schnelldurchgang noch die anderen Aufsätze: ThK weist nach, dass der Antisemitismus Luthers nicht erst durch die Ausgabe 1938 bekannt, sondern in Zitatensammlungen (Florilegien) das ganze 19. Jh. präsent war.[8] Protestantisch-theologische Wurzeln des Personenkults im 19. Jh.?[9] Friedrich August Tholuck kritisiert aus der Sicht der Erweckungsbewegung den Rationalismus und seine Vorgeschichte 59-87. Zum schwierigen Verhältnis von Luthertum und Humanismus [2013], 399-431.

Das Ganze ist erschlossen durch üppige Indices. Die meist mehr als die halbe Seite einneh­menden Fußnoten dokumentieren die Forschung außerordentlich dicht, aber viele Nach­weise sind mit den vollen bibliographischen Angaben redundant und verständlicherweise gibt es Überschneidungen, bes. in Kapitel 10 und 13.[10] Ein Manko ist, dass das Datum der Erstveröffentlichung in den bibliographischen Angaben oft fehlt.[11]

Zwischenfazit: Eine herausragende, bestens dokumentierte Wissenschaftsgeschichte, mit Wertungen, die je mit eindeutigen Zitaten belegt sind. Wissenschaftsgeschichte ist jedoch einzuschränken: Auch wenn die historischen Kontexte oft genannt sind, so geht es doch durchgehend um die Wissenschaft der Kirchengeschichte als eine theologische Disziplin, weitergehende wissenschaftsgeschichtliche Einordnungen sind selten.

Und das ist erstaunlich. Der Band ist eher ein Abgesang an eine verschwindende Epoche, ein spezifisch deutscher Zugang, der durch die deutsche Institution der theologischen Fakultä­ten geschützt ist und immer neu begründet werden muss in ihrer Andersheit zu den ‚Profan­historiker:innen‘.[12] Erstaunlich wenig ist von den neueren Entwicklungen die Rede, beson­ders Berndt Hamms Forschungen sind bibliographisch präsent, aber nicht in ihrer Konse­quenz dargestellt.[13] Ein Ausblick auf Themen, die künftig der Erforschung harren, fehlt völlig. Und das von einem Forscher wie Thomas Kaufmann, der umfassend das Medium Buchdruck/Flugschriften erforscht hat und dafür den kecken, geradezu provozierenden Titel gewählt hat Die Mitte der Reformation.[14] Die Fragestellungen haben sich verschoben auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit, eine Bewegung, nicht ein theologischer Denker, der seinen Studenten den Römerbrief auslegt. Die Reformation auch in Kaufmanns Sinne hat (mindestens) vier Zentren: Wittenberg, Zürich, Genf und Straßburg. Insofern ist der Satz völlig überzogen (506): … der Begriff ‚Reformation‘ wurde von den Pluralisten enteignet, inhaltlich entkernt und umgedeutet – ein Akt der semantischen Expropriation zum Behufe der historiographischen Relativierung, was bisher darunter verstanden wurde.“ Man kann so argumentieren: „Ohne Luther keine Reformation“. Aber Luther ist nicht die Reformation. Die weitgehende Engführung auf die deutsche Forschung, auf die theologische Kirchenge­schichte eröffnet keine Perspektiven. Und die Frage, was die Reformation an ‚Neuem‘ für welche Gruppe erbracht hat, das erscheint auch nicht am Horizont.

Fazit: Die hier herausgegebene Sammlung von Aufsätzen zeigt Kaufmann als exzellenten Kenner der Kirchengeschichtsschreibung mit bohrenden Fragen und scharfen, aber immer gut belegten Urteilen zur Stellung zum Nationalsozialismus samt Vor- und Nachgeschichte. Da ist sie großartig und unbedingt lesenswert. Aber es ist eher ein Grabgesang einer ver­gangenen Epoche als ein Aufbruch zu neuen, frischen Fragen. Und das von einem, der genau solche Aufbrüche wagt.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2022                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Jetzt die fundamentale Ausgabe mit den späteren, geplanten Ergänzungen als Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe (KGA) 9, 1-3, hrsg. [und vorzüglich eingeleitet] von Friedrich Wilhelm Graf u.a. siehe meine Rez.: „Die Soziallehren der christlichen Kirchen“: Ernst Troeltschs Klassiker in der Neuausgabe. Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe. Berlin: De Gruyter. Band 9,1-3 Die Soziallehren. 2021. ISBN 978-3-11-043357-9 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/30/troeltsch-soziallehren/ (30.6.2021).

[2] Das 20. Jahrhundert würde das amerikanische sein, hatte schon Ulrich von Wilamowitz in seiner Rede auf das Neujahr 1900 prophezeit. S. Christoph Auffarth: „Ein Hirt und keine Herde“. Zivil­religion zu Neujahr 1900. In: CA; Jörg Rüpke (Hrsg.): Ἐπιτομὴ τῆς Ἑλλάδος. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier. (Potsdamer Altertums­wissenschaftliche Beiträge 6) Stuttgart: Steiner 2002, 203-223.

[3] Das Thema des „Durchbruchs“ der „reformatorischen Erkenntnis“ reduziert die Reformation auf ein kognitives Ereignis eines Individuums. Bei dem von Karl Barths Dialektischer Theologie geprägten Ernst Bizer wird das zu einer sich verstärkenden Reihen von Durchbrüchen. Sein Lutherbuch fides ex auditu 1958 führte zu einer langen Kontroverse ([2004] 463-489). [Das sind das Jahr der Erstveröffent­lichung und die Seitenzahlen im vorliegenden Buch von Thomas Kaufmann].

[4] Die Harnacks und die Seebergs [2005], 119-170. Erich Seeberg als NS-Theologiepolitiker, 249-270. Der letztere Aufsatz ist eine Zusammenfassung eines 150-seitigen Aufsatzes von 2002. Zum Schüler See­bergs Ernst Benz, der dessen Programm der Umgestaltung der Kirchengeschichte zum Fach Deutsche Frömmigkeit vorantrieb, in der Bonner Republik aber – weiterhin antikommunistisch und anti­katholisch – als Kulturpolitiker die globale Öffnung repräsentierte, s. Auffarth, Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[5] Werner Elert als Kirchenhistoriker [1996], 197-248. Dort auch eine gute Charakteristik der Gemein­samkeit mit Rudolf Otto 224, Anm. 94, sich auf Luthers „unableitbare“ Erfahrung berufend.

[6] Mit angeblichen Lutherzitaten. ThK kann auf den Nachlass von Elert zurückgreifen, den er privat archiviert hat [unveröffentlicht], 371-395).

[7] Heinrich Bornkamm als Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte [2008], 271-320. Ein Blick auf Bornkamms Bruder Günther, Prof. für NT, klarer Gegner des NS, wäre erhellend. Dazu Gerd Theissen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm. Heidelberg: Winter 2009.

[8] [2015], 3-36. Johannes Wallmann hatte das bestritten in zwei Rezensionen, ThK stellt das nicht heraus (4, Anm.2).

[9] [2015], 37-58 verweist auf die Schrift von Carl Ullmann.

[10] 10 Evangelische Reformationsgeschichtsforschung nach 1945 [2007], 321-369 (um den Kritiker Ernst Wolf herum). 13 Die deutsche Reformationsforschung seit dem Zweiten Weltkrieg [2009], 433-461.

[11] Fehler sind sehr selten. 172 A. 1 heißt der Autor Wolfgang Schluchter, nicht Schlachter. Andere Versehen liste ich hier nicht.

[12] Obwohl gerade die Frühneuzeit-Historiker:innen das Thema Religion entdeckt haben, kommen sie in den Forschungsberichten fast nicht vor (außer prominent Peter Blickle). Wo steht etwas zur „Sozial­disziplinierung“ (Gerhard Oestreich) und La grande peur (Jean Delumeau 1978), Schorn-Schütte ist gerade einmal erwähnt, Renate Dürr gar nicht. Die Forschung von Franziska Loetz zu Zürich ergab ein überaus interessantes Bild vom Verhältnis der Ratsherren und der Theologen (Mit Gott handeln, 2002). Gerade erschienen ist ihr Gelebte Reformation. Zürich 1500-1800. Zürich TVZ 2022, 391-409.

[13] Die herausragende Monographie (mit meiner Rezension) zeichnet geradezu ein Gegenbild zu Luther, jedenfalls eine Alternative zu Luthers Menschenbild: Gerechtigkeit in der Stadt – Ein Prediger vor der Reformation. Berndt Hamm: Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation. Ulrich Krafft in Ulm. Ulm: Stadtbibliothek 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/04/19/hamm-spielraeume-eines-pfarrers/ 27.4.2021. Zum „Ablass“ ders.: Ablass und Reformation – erstaunliche Kohärenzen. Tübingen: Mohr Siebeck 2016.

[14] Im Kontext dieses wissenschaftsgeschichtlichen Bandes wäre die „Mitte der Reformation“ die theologische Erkenntnis der (passiven) Rechtfertigung und der Gnadenlehre und die Mobilisierung der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Ablassstreit 1517. ThK hat das in seinem Der Anfang der Reformation begründet (Meine Rezension: Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/02/27/der-anfang-der-reformation ) und in seinem abschließenden Aufsatz Wider die Pluralisierung der Reformation (491-514) noch einmal festgeschrieben., nachdem sein Buch Das Ende der Reformation von der Titelgebung eine Trilogie suggerieren. Meine Rezension zu Die Mitte: Thomas Kaufmann:  Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XX, 846 Seiten. (Beiträge zur historischen Theologie 187) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/19/mitte-der-reformation/ (19.11.2019). Zu diesem gelehrten Buch erschien gerade eine populärere Version: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: Beck 2022.

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