Wolfgang Reinbold
Koran und Bibel: Ein synoptisches Textbuch für die Praxis
Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2022
XXVIII, 940 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-525-63413-4
55.-
Textbuch für eine Religionsfamilie
Eine Rezension von Manfred Spieß
Nur wenige Christen lesen den Koran, nur wenige Muslime lesen die Bibel. Diese – wie ich finde – unbefriedigende Feststellung kennzeichnet sicherlich den gegenwärtigen Stand. Für den interreligiösen Dialog ist hier also noch viel ‚Luft nach oben‘. Zwar gibt es schon länger zahlreiche Dialogveranstaltungen zu Christentum und Islam in Deutschland, die sich mit vielen wichtigen Fragen des gesellschaftlichen Umgangs beschäftigen. Auch theologische Grund- und Grenzfragen werden hin und wieder erörtert; hier beteiligen sich in letzter Zeit verstärkt auch verschiedene islamische und jüdische Organisationen und Einzelpersonen.[1] Etliche Kirchengemeinden und Moscheen haben auf lokaler Ebene gute Kontakte zueinander. Einzelne ‚Leuchttürme‘, wie das Haus der Religionen[2] in Hannover und das im Aufbau befindliche House Of One [3] in Berlin stärken und festigen auch überregional diese Bemühungen. Mit berechtigter Hoffnung kann man also für die Zukunft eine intensivere Dialogtätigkeit erwarten. Für die schulischen Religionsunterrichte und die multikulturelle Situation in den Schulen sollte in dieser Beziehung auch stärkere Unterstützung stattfinden. Gerade der zunehmende Rassismus gegen Juden und Muslime bedarf des entschiedenen Einsatzes für Menschenrechte und Demokratie.[4]
Das besondere Miteinander von Bibel und Koran ist in der Öffentlichkeit allenfalls diffus, zumeist aber noch gar nicht wahrgenommen worden. Zwar erschien mit „Die Bibel im Koran“ von Karl-Josef Kuschel[5] 2017 ein umfassendes Werk, das viele Überschneidungen aber auch Unterschiede aufzeigt. Noah, Abraham, Joseph, Moses, David, Maria und Jesus erscheinen durch Lektüre im Koran auf spannende Weise in neuem Licht. Das Gespräch zwischen Muslimen und Christen darüber ist aber kaum über Anfänge hinausgekommen. Dass es sich bei Juden, Christen und Muslimen um eine „Religionsfamilie“ handelt, wie Wolfgang Reinbold deutlich konstatiert[6], wird noch längst nicht von vielen so gesehen.
Mit dem synoptischen Textbuch zu Koran und Bibel, das Wolfgang Reinbold vorgelegt hat, erschließen sich nun neue Möglichkeiten. Das umfangreiche Buch stellt die 114 Suren des Koran in der deutschen Übersetzung von Adel Theodor Khoury vor – jeweils in der Mitte der Seite angeordnet. Darunter findet sich die Transliteration der arabischen Verse und die Angabe von weiteren Koranstellen[7]. In den Spalten rechts und links wird der Blick auf inhaltlich verwandte Texte aus der Bibel (sog. „Altes“ und „Neues Testament“) und aus anderen antiken Quellen gelenkt: jüdische Schriften mit prohetisch-apokalyptischen Inhalten, Babylonischer Talmud und Mischna, christliche nichtkanonische Evangelien und Erzählungen über Jesus und Maria.[8] Zahlreiche Verbindungen zu den „Hadithen“, den Erzählungen vom Leben und den Aussprüchen des Propheten Muhammad, werden textlich belegt.
Es zeigt sich ein großer Reichtum an Beziehungen zwischen Bibel und Koran. Wir finden sehr viele Anklänge an die ‚5 Mose-Bücher‘ (Pentateuch), an Psalmen[9] und an prophetische Literatur; Jesaja und Ezechiel ragen bei letzterer besonders hervor. Das synoptische Textbuch bietet diese Parallelen in prägnanten Auszügen an. Wer weiter forschen will, kann aufgrund der Quellenangaben (Quellen und Sekundärliteratur: 927-931) tiefer eindringen.[10] Die synoptische Anordnung in drei Spalten macht die Koransuren (in mittlerer, breiterer Spalte) und die Verweise anschaulich lesbar. Leserinnen und Leser werden eingeladen, auch die anderen Stimmen neben den koranischen Texten anzuhören. Für viele wird es Neuland sein, durch Hadithe Erzählungen über den Prophten Muhammad kennen zu lernen. Dass im syrisch-arabischen Raum der Spätantike zahlreiche christliche Schriften beliebt und im Umlauf waren, obgleich sie nicht im Kanon zu finden waren, wird deutlich. Auch die enge Bezogenheit auf biblische und außerbiblische jüdische Überlieferungen fällt ins Auge.
Wolfgang Reinbold verzichtet ausdrücklich darauf, die angeführten Texte zu kommentieren oder sie historisch einzuordnen. Diese bewusste Zurückhaltung ist verständlich, denn aufgrund der Fülle des Materials wäre ein solches Vorhaben dem Anliegen eines praxisorientierten Textbuches nicht dienlich.[11]
Viele Möglichkeiten des Einsatzes tun sich auf. Bei der Ausbildung von Lehrkräften im schulischen und im kirchlichen Bereich kann das Textbuch Koran und Bibel helfen, die interreligiösen Kenntnisse zu vertiefen. Die traditionelle monokonfessionelle Ausbildung bedarf in dieser Hinsicht – wie inzwischen öfter gefordert – einer fundierten Ausweitung. Im schulischen Religionsunterricht christlicher bzw. islamischer Prägung, oder auch religionsübergreifend (wie in Bremen und Hamburg) können, je nach Situationserfordernis, die Quellentexte dieses Buches eine wichtige Rolle spielen.
Für dialogisch interessierte Menschen aus christlichen und muslimischen Gemeinden bieten sich hier ausgezeichnete Möglichkeiten, neue Entdeckungen zu machen. Und einfach neugierige Menschen, die sich informieren wollen, was im Koran zu lesen ist, erhalten mit diesem Buch eine sehr ansprechende Möglichkeit, ihr Interesse zu befriedigen. Denn, so habe ich festgestellt, fängt man an zu lesen, so steigt die Lust, Seite um Seite weiter zu forschen. Neuland kann so spannend sein!
Dr. Manfred Spieß
Oldenburg. Februar 2022
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[1] Hier ist besonders die „Alhambra-Gesellschaft“ mit ihren vielfältigen Aktionen zu nennen. Eine neue jüdisch-islamische Initiative „Schalom Aleikum, Deutschland“ wurde im Jahr 2022 gestartet: https://www.denkfabrik-schalom-aleikum.de/
[2] https://www.haus-der-religionen.de/ . Dr. Wolfgang Reinbold ist 1. Vorsitzender dieses Hauses. Und Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen sowie Beauftragter für Kirche und Islam im Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.
[3] https://house-of-one.org/de
[4] Beispielhaft sei hier verwiesen auf https://www.claim-allianz.de
[5] Karl-Josef Kuschel: Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Patmos-Verlag 2017. – Dieses Buch ist eine ideale Ergänzung zum synoptischen Textbuch „Koran und Bibel“. Denn hier werden die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge vorgestellt, auf die W. Reinbold im Textbuch ausdrücklich verzichtet.
[6] „Das merkt jeder Leser und jede Leserin sofort, die einmal die Bibel und den Koran nebeneinandergelegt hat“ (937).
[7] Die innerkoranischen Querverweise helfen bei der thematischen Erschließung. Viele Themen werden in verschiedenen Suren, die unterschiedlichen Kontexten zugeordnet werden können, erneut aufgenommen, manchmal dabei auch situationsorientiert modifiziert. Da die Anordnung der 114 Suren im Koran keiner zeitlichen Abfolge der Verkündigung entspricht, sondern meist nach der Länge der Suren sortiert ist, helfen die Querverweise bei der Orientierung.
[8] Register II (917-925) belegt beispielsweise „Apokalypse Abrahams“, „Apokalypse des Mose“, „1. Henoch“, Buch der „Jubiläen“, das „Protevangelium des Jakobus“ und viele andere mehr. Gerade hier zeigt sich die Verflochtenheit der koranischen Verkündigung mit der bewegten Religionswelt der Spätantike, insbesondere im syrischen, byzantinischen und arabischen Raum (Hedschas).
[9] Das Register „Bibel“ (IX – XXVII) weist für Psalmen mehr als 300 Bezüge zu koranischen Versen auf!
[10] Zahlreiche Quellen, besonders zu den außerbiblischen Schriften, sind auch im Internet auffindbar.
[11] Diesbezüglich wird im Vorwort auf das große Projekt „Corpus Coranicum“ verwiesen: https://corpuscoranicum.de/de .Dort wird der Koran Vers für Vers historisch-literarisch untersucht und chronologisch eingeordnet. Bereits jetzt liegen Ausarbeitungen zu vielen Suren im Internet zugänglich vor. Eine Initiatorin des Corpus Coranicum ist Angelika Neuwirth. Ihr Werk „Der Koran als Text der Spätantike“ (1. Aufl. 2010) prägte die Grundlagen dieser religionshistorischen Forschung. „Solche Bücher werden nur alle hundert Jahre geschrieben“, lobt der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth in seiner Rezension.