Ulrich Vollmer: Carl Clemen und die Religionsgeschichte.
(Religionswissenschaft 23)
Berlin: Peter Lang, 2021.
592 Seiten. [Diss. Bonn 2020]
ISBN 978-3-631-84603-2
Eine Biographie zur Entstehung der Religionswissenschaft
Eine Rezension von Christoph Auffarth
Kurz: Für die Etablierung des Faches Religionswissenschaft an deutschen Universitäten ist diese sehr detaillierte Biographie zu einem der Vorkämpfer, Carl Clemen (1865-1940), ein wichtiger Bezugspunkt voller Informationen, auch zu Bedingungen von Wissenschaftlern dieser Zeit, vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus.
Ausführlich: Zur Geschichte der Faches Religionswissenschaft gibt es viele kürzere Darstellungen; aber ausführliche Diskussionen zu den damals diskutierten großen Themen sind nötig. Denn bis zur und bei der Herausbildung der Disziplin sind die verschiedenen Wurzeln zu unterscheiden: Die zwei im deutschsprachigen Raum bedeutsamsten sind (1) die Klassische Philologie bzw. die Altertumswissenschaft [namentlich: Hermann Usener, Albrecht Dieterich, Martin P. Nilsson, Franz Cumont],[1] (2) die Behandlung nichtchristlicher Religionen in den evangelisch-theologischen Fakultäten [s.u.],[2] daneben die (3) Indologie [Friedrich Max Müller] und (4), wie der französischsprachige (katholische) Bibelwissenschaftler [Alfred Loisy] sich hin zum vergleichenden Religionswissenschaftler entwickelte.[3] Dazu kam (5) die frühe Kulturwissenschaft bzw. Soziologie mit Marcel Mauss und Émile Durkheim, Ernst Troeltsch und Max Weber. Rezipiert wurde die englische ‚anthropology‘ der Viktorianischen Zeit von Tylor, über Marrett zu W. Roberston Smith und Frazer.[4]
In den evangelisch-Theologischen Fakultäten verstand sich eine größere Zahl der Professoren als ‚liberal‘ in dem Sinne, dass es nicht mehr um die Anwendung des (zeitlosen) Wortes Gottes auf die eigene Zeit ging, sondern um die ‚Weiterentwicklung der Religion‘ für die Moderne.[5] Carl Clemen ging seinen eigenen Weg. Ulrich Vollmer[6] hat in vielen Archiven alles gesucht, was zu seiner Hauptfigur zu finden war: in gewisser Weise das Lebenswerk beider, Carl Clemens und Ulrich Vollmers, der dem Pionier der Religionsgeschichte diese umfangreiche Dissertation widmet.[7] 1865 nahe Leipzig geboren in einer Pfarrersfamilie, erhielt Clemen (in Folgenden CC) eine gründliche Gymnasialausbildung und studierte in Leipzig, Tübingen, Halle und ein Jahr in London. Nach der Habilitation 1892 folgten 18 Jahre als unbezahlter Privatdozent erst in Halle, dann in Bonn. Erst mit 45 Jahren wurde er Professor,[8] noch einmal 10 Jahre später Ordinarius mit einem eigenen Seminar, das auf dem Wirken und der Bibliothek von Hermann Usener aufbauen konnte. Sein Nachfolger wurde (nach vielen Stolpersteinen, darunter der Versuch vom Berliner NS-Ministerium, dem gescheiterten Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich das Ordinariat zuzuschanzen S. 409-418) Gustav Mensching. Nach der Emeritierung betrieb CC die Eigenständigkeit der Religionswissenschaft: In der viel gelesenen Rezensionszeitschrift Theologische Literaturzeitung, drängte er darauf, dass sie im Untertitel ab 1939 Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft hieß und damit beanspruchte, die Religionswissenschaft nicht mehr als Unterabteilung der Theologie zu verstehen (419-449).
Seine detailliert recherchierte Biographie ist typisch für viele Wissenschaftler der Zeit und UV gibt auch immer Vergleiche zu Kollegen und Institutionen, also (tendenziell) eine Sozialbiographie.[9] Auf die Biographie (19-114) folgt das Kapitel, wie sich Clemen von der Theologie ablöste zur Religionsgeschichte (115-174). Schon in seinen theologischen Arbeiten wurde Clemen der religionsgeschichtliche Vergleich zunehmend wichtig, zunächst am Neuen Testament (1904, ²1924), dann konzentrierte er sich ganz auf die Religionsgeschichte, nämlich die Grundlagen (175-226) mit der Erstellung einer jährlichen Bibliographie, der Edition von Quellen (Quellen zur persischen Religion 1920 usf.) und Übersetzungen. Kapitel 4 behandelt die einzelnen Religionen (227-302), darunter die Religionsgeschichte Europas (2 Bände 1926; 1931).[10] Und schließlich die große Sammlung Religionen der Erde 1927 (insgesamt 515 Seiten, UV 211-220, Neuauflage 1966 703 Seiten). Die heftig diskutierten Konzepte einer systematischen Religionswissenschaft (303-366) behandeln Magie, survivals und Volksreligion, Mystik, Psychoanalyse und eine beginnende Phänomenologie. Unter seinen vielen Schülern sind die bekanntesten Joachim Wach und Hans Alexander Winkler, dann die – später – im Ahnenerbe NS-Wissenschaft betreibenden Werner Müller und Otto Huth. Als Anhänge (auf knapp 150 Seiten) präsentiert UV Verzeichnisse (die Bibliographie der enorm vielen Schriften Clemens, die Lehrveranstaltungen, betreute Dissertationen [auf Autopsie aller Druckformen oder gar nur handschriftlich eingereichten Hochschulschriften beruhend], der von Clemen herausgegebenen Reihen. Es folgen die Verzeichnisse der Archivmaterialien, Gedruckte Quellen [umfasst v.a. die Forschungsliteratur], Internetquellen. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis ersetzt nicht den leider fehlenden Index.
Die Konzentration auf eine Person hat den Vorteil, dass man allem nachgeht, was den Wissenschaftler betrifft. Im Fall CCs hat UV neben den gedruckten Schriften auch die Nachlässe vieler Kollegen in den Archiven durchsucht. Die Alternative des biographischen Tiefbohrens sind die Diskurse im Fach und den Nachbarfächern.[11] Da sich CC zu fast allem geäußert hat, viele kleine Monographien veröffentlichte, die immer mit Darstellung des Forschungsstandes einsetzen, gelingt UV eine ganz ordentliche Verbindung von beidem. Bemerkenswert ist CCs Kenntnis der internationalen Forschung, ob der französischen (die Durkheim-Schule) oder der englischen anthropology der Viktorianischen Zeit (Lang Tylor, Marrett, W. Robertson Smith, James George Frazer.
Im Unterkapitel Mystik macht UV die Bemerkung „im Anschluss an den Theologen Albrecht Ritschl und den Altphilologen Erwin Rohde – zwei in diesem Kontext und in dieser Kombination überraschende Autoren“ (323). Diese Bewertung verkennt: CC ist in der theologischen Fakultät sozialisiert. Ritschl war nicht nur die Autorität in der systematischen Theologie dieser Zeit, sondern hat mehrfach aus protestantischer Sicht die Mystik abglehnt als katholische Verschleierung des Wortes Gottes – in Auseinandersetzung mit Joseph Görres‘ fündbändiger Geschichte der Mystik, die die Mystik als Kernstück des Katholizismus der Romantik vorgestellt hatte.[12] Erwin Rohde hingegen hatte in seiner Geschichte der griechischen Religion unter dem Titel Psyche einen religionskritischen Vergleich zwischen der Todesverachtung der homerischen Helden und der platonischen Konzeption der unsterblichen Seele in einer jenseitigen Welt (und ihrer Rezeption im Christentum) unternommen. Dabei identifizierte er: die „Mystik war ein fremder Blutstropfen im griechischen Blute“. Den habe das Christentum als orientalischen Import in die griechische (indoeuropäische) Geisteshaltung vermischt. Rohde war enger Freund von Friedrich Nietzsche.[13] Gravierend aber ist, dass Troeltsch’s Mystik-Konzept hier nicht aufgegriffen ist. Das heißt, CC war vertraut mit den großen Diskursen seiner Zeit, entzieht sich aber der tiefergehenden Auseinandersetzung durch eine positivistische Reduktion auf die in den Quellen aufscheinenden ‚Fakten‘. UV macht deutlich, dass CC mit seinen eigenen Übersetzungen durchaus die Interpretation der Quellen schon lenkt (sehr gut UV 323, Anm. 106),[14] aber nicht eigentlich Quellenkritik betreibt. Dass er sich am Ende Ritschl anschließt in seiner Definition der Mystik („Mystik als Einswerden des Menschen mit Gott“) wird anderen Mystik-Formen nicht gerecht.[15]
Ulrich Vollmer hat in jahrelanger Arbeit alles Erreichbare zu Carl Clemen zusammengetragen und so im Genre der Biographie ein überaus informatives Werk über die Entstehung der Religionswissenschaft als Universitätsdisziplin verfasst in dem Strang, der in der liberalen evangelischen Theologie in der Bibelwissenschaft begann und sich zunehmend davon emanzipierte. Die Eierschalen blieben: Religion waren heilige Texte, die der Philologe übersetzt und kommentiert, aber am Ende doch immer an ‚seinem‘ Christentum vergleicht. Die Methode aber, dass jeder Religion die gleiche Phänomenologie zugrunde liege und somit auch das Christentum in den Vergleich einbezogen wird, aber keine Geschichte hat, führte zur Ablehnung der Religionswissenschaft, wie sie sein Schüler Joachim Wach systematisch aufzubauen versuchte.[16] Jede Darstellung der Geschichte der Religionswissenschaft wird von diesem Buch ungemein profitieren.
Bremen/Wellerscheid, Januar 2023 Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail: auffarth@uni-bremen.de
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[1] Dazu ein Strang Christoph Auffarth: Mysterien aus dem Orient: von Friedrich Creuzer 1806 bis Franz Cumont 1906. In: Corinne Bonnet [u.a.] (Hrsg.): Franz Cumont. Rom: Belgisches Historisches Institut [im Druck].
[2] Während katholischerseits Franz Josef Dölger auf dem Lehrstuhl in Münster nur sehr sporadisch Religionen außerhalb des antiken Christentums behandelte, suchte der österreichische Missionar Pater Wilhelm Schmidt Beweise für den Ur-Monotheismus in Religionen auch vor den ‚Hochreligionen‘. Vgl. UV 233-236.238.
[3] Dazu herausragend Annelies Lannoy: Ein neuer Zweig der Geschichte der Religionswissenschaft durch die Erforschung des katholischen Wissenschaftlers Alfred Loisy. Annelies Lannoy: Alfred Loisy and the making of history of religions. A study of the development of comparative religion in the early 20th century 2020. In https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/01/16/lannoy-alfred-loisy/ (16.1.2021). Eine kürzere Fassung und ohne Fußnoten in Zeitschrift für Religionswissenschaft 29(2021), 158-160. Dies.; Danny Praet (Hrsg.): The Christian Mystery 2023. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/11/07/the-christian-mystery/ (7.11.2023).
[4] Eine knappe Synthese, die sich nicht auf das Universitätsfach begrenzt, bei Christoph Auffarth; Hubert Mohr: Strömungen der Kultur- und Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert – ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick. In: Metzler Lexikon Religion, hrsg. von CA; Jutta Bernard; HM. Stuttgart: Metzler 2002, Band 4, 1-38.
[5] In Berlin, wo jeder ‚liberale‘ Lehrstuhl einen ‚positiven‘ Kollegen gegenüber gestellt bekam, wagte sich Otto Pfleiderer weit vor und aus seinem Lehrstuhl wurde die Professur für Religionsgeschichte. In seinem Sinne entstand ein Band: Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion. München: Lehmann 1905 (darin skizzierte der Wiener Indologie Leopold von Schroeder die Kontinuität der arischen Religion bis zur deutschen [völkischen – Er bewunderte Richard Wagner] Religion, 1-39). Eine Sammlung von Autobiographien von Theologen wurde unter dem Titel (von Erich Stange) herausgegeben Die Religionswissenschaft in Selbstdarstellungen. Band 1. Leipzig: Meiner 1925.
[6] Dr. Ulrich Vollmer *1948, war bis 2012 wissenschaftlicher Angestellter am Religionswissenschaftlichen Seminar in Bonn. Im Folgenden kürze ich den Namen mit den Initialen UV ab.
[7] Eine Vorstudie von Ulrich Vollmer: Die Religionswissenschaftler Carl Clemen (1865–1940) und Gustav Mensching (1901–1978). In: Harald Meyer, Christine Schirrmacher und Ulrich Vollmer (Hrsg.): Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften. Bonn: Ostasien-Verlag 2018, 43-64.
[8] Für die Besetzung von Professuren an den preußischen Universitäten wurden zwar die Fakultäten gefragt, Namen zu nennen, entschieden wurde aber in Berlin, wo sich der entscheidende Mann im Ministerium, Friedrich Althoff, von Berliner Professoren beraten ließ. Deren Schüler kamen sehr jung auf Lehrstühle, andere mussten lange sich als Privatdozenten in prekären Verhältnissen halten, unter anderem Wilhem Bousset, Rudolf Otto.
[9] Max Weber hat die Bedingungen der Privatdozenten in seiner Rede 1917 Wissenschaft als Beruf (Kritische Ausgabe in MWG 17) knapp beschrieben. Zu der Alterskohorte gehörten u.a. Hermann Gunkel (*1862), Max Weber (*1864), Ernst Troeltsch (*1865), Wilhelm Bousset (*1865), Nathan Söderblom (*1866).
[10] Im Unterschied zu dem Konzept der Europäischen Religionsgeschichte (Gladigow 1995) behandelt Clemen die einzelnen Religionen in Europa je für sich, nicht als ‚mitlaufende Alternativen‘. Vgl. UV 228.
[11] Musterbeispiele für diese Alternative sind Volkhard Krech: Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871-1933. Tübingen: Mohr Siebeck 2002 oder Michael Stausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. 2 Bände. (RGVV 42) Berlin: De Gruyter 1998.
[12] Joseph Görres: Die christliche Mystik. vier Bände. Regensburg: Manz 1836–1842. Zweite Auflage in fünf Bänden, 1879-1880. Albrecht Ritschl: Über die Mystik, besonders die deutsche im 14. Jahrhundert. Bonn 1853. Ritschls Sohn Otto (1860-1944) war Kollege von CC in der Bonner theologischen Fakultät. Vgl. Marvin Döbler: Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux. (BERG 2) Göttingen: V&R 2013, 30-32.
[13] Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2 Bände. Freiburg; Tübingen: Mohr ²1898. “Fremder Blutstropfen”: Ders.: Die Religion der Griechen. Heidelberg: Springer 1895, 27. Christoph Auffarth: Mysteries from the Orient: One Hundred Years of the History of Ideas from Creuzer 1806 to Cumont 1906. In: Corinne Bonnet; Annelies Lannoy; Danny Praet (Hrsg.): Franz Cumont: Rom: Academia Belgica 2024, im Druck. Zu Rohde: Hubert Cancik: Erwin Rohde. Ein Philologe der Bismarck-Zeit. In: Semper apertus, Band 2. Heidelberg: Springer 1985, 436-505.
[14] Sehr gut die Analyse S. 323 Anm. 106, wenn CC u.a. die Übersetzung mit „Erhebung“ „eine semantisch sehr abgeschwächte Wiedergabe von [griechisch Ekstasis] ἔκστασις“ herausstellt.
[15] UV 323; zurecht spricht UV von „christlich-theologischer Engführung“ 324. Christoph Auffarth: Begabt zu außerordentlichen Erfahrungen: Mystik und Religion. Mystik. Jahrbuch für Biblische Theologie 38(2023[2024]), im Druck.
[16] Dazu Jörg Rüpke: ‚Systematische Religionswissenschaft‘ und ‚Religionsgeschichte‘: von Wach zu Gladigow. In: Christoph Auffarth; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel. Tübingen: Tübingen University Press 2021, 69-87.