Das anthropomorphe Gottesbild

Marianne Wifstrand Schiebe: Das anthropomorphe Gottesbild.
Berechtigung und Ursprung aus der Sicht antiker Denker

(Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 69)
Stuttgart: Steiner 2020.
382 Seiten. € 62.
ISBN 978-3-515-12419-5 kartoniert – 978-3-515-12421-8 e-book

 

Das sind nicht die wahren Götter!
Griechische Philosophen gegen die menschengestaltigen Götterbilder

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Autorin erklärt, wie in der antiken Wissenschaft über das Problem gestritten wurde, dass die Götter wie Menschen dargestellt wurden. Eine eingehende philologische Untersuchung mit vielen neue Argumenten und gut begründeten neuen Positionen.

Ausführlich:

Die Autorin[1] nimmt sich das Problem vor, warum die griechischen (und römischen) Götter immer in menschlicher Gestalt dargestellt werden, ob in der Literatur oder als Kultbild, während die Philosophen das durchwegs für ein Missverständnis anprangern. Es handelt sich also um eine literatur- und philosophiegeschichtliche Untersuchung, nicht um eine archäologische[2] oder religionswissenschaftliche.[3] Der altorientalische Hintergrund fehlt völlig, etwa die Debatte um das scheinbar anikonische Israel und die Bildmetaphern[4] oder die Tiergestalt der Götter in Ägypten, eine für Griechen und Römer inakzeptable Vorstellung.[5] Die spätantike Diskussion über die Körperlichkeit Gottes, wie sie Christoph Markschies in Gottes Körper (2016) detailliert dargestellt hat,[6] hat die Autorin partiell einbezogen. Soweit die Begrenzung der Arbeit. Nun zu ihrem Anliegen und dem, was sie leistet.

„Zwischen dem im Kult und Ikonographie vermittelten öffentlichen Gottesbild und den ver­schiedenen Auffassungen vom Göttlichen, die in der philosophischen Theologie verfochten wurden, bestand das Altertum hindurch eine Kluft, die uns späten Betrachtern schier un­überbrückbar erscheint.“ (11) MWS will dagegen zeigen, dass die Philosophen zur Überbrüc­kung in der Lage waren. Der traditionelle Kult verehrte demnach durchaus Gottheiten, nur mit falschen Mitteln. Die in der Forschung vielfach vertretene Ansicht, dass das philosophi­sche Gottesbild die ‚Götter des Volksglaubens‘ verachtet hätte, trifft also nicht die Kluft. Die besteht in zwei Aspekten: Einmal, dass Götter unmittelbar in das Leben eingreifen mit Belohnung und Strafe, zum andern die Darstellung in menschlicher Gestalt. Dies letztere kommt aber in zwei Richtungen in der philosophischen Diskussion vor: Entweder ist das anthropomorphe Gottesbild grundsätzlich unwahr und irreführend (Kapitel 3) oder diese Darstellung der Götter wurde dafür erfunden, um eine metaphorische Möglichkeit zu geben, die die theologische Wahrheit adäquat ausdrücken kann (Kapitel 4 und 5). Eine Besonder­heit, die aber großen Applaus fand, ist die ‚große Erzählung‘ des Euhemeros, Götter seien ursprünglich die zu Göttern erklärten Ahnen der Könige (Kapitel 6). Das Schlüsselthema für all diese Fragen sei die Ursprungsfrage. „Zeitlich umfasst die Untersuchung die gesamte pagane Periode. […] Die Auseinandersetzung mit dem Christentum bleibt außerhalb des Rahmens, schon aus dem Grund, weil die christliche Polemik gegen die paganen Götter und den paganen Kult sich weitgehend gegen Verhaltensweisen und Vorstellungen wendet, die der intellektuellen Elite fremd sind und von ihr selbst beanstandet worden sind.“ (23) Statt dies auszunutzen, wie die innerpagane Auseinandersetzung nun in interreligiöser Polemik fortgeführt wird, lässt MWS dies beiseite.[7] Eine so interessante Stelle, wie die Wunderhei­lung von Lystra (Apostelgeschichte 14,8-18), bei der Paulus und Barnabas als Götter in Menschengestalt verehrt werden, ist aus der Diskussion ausgeschlossen.[8] Nicht als Götter werden gewertet die Personifikationen etwa von Flüssen (Tiber, Nil), Städten (Tyche von ON), oder Tugenden (Virtus). Schließlich setzt sie sich auseinander mit der Frage der All­egorie/ Allegorese (Xenophanes, Derveni-Papyrus), die eigentlich als Methodenfrage der modernen Forschung eingeführt werden sollte. Zentrale Fragen der Forschung wie Reprä­sentation, Anikonismus,[9] die Kommunikation im Kult, die ‚Macht‘ der Bilder kommen nicht zur Sprache.

Kapitel 2 behandelt die Position Epikurs. Entgegen der klassischen Auffassung, dass die Angst der Menschen den Glauben an Götter habe entstehen lassen, meist seien dies missverstandene Naturphänomene. Bessere Aufklärung würde diesen Aberglauben überwinden. Während die Epikureer später immer als Gottesleugner angegriffen wurden, die damit der Gesellschaft das Fundament entzögen, zeigt MWS, dass sie von einer ursprünglich richtigen Göttervorstellung ausgehen (43). Die meisten Philosophen aber erzählen einen philosophischen Mythos vom Ursprung in drei Versionen: (A) Das ursprüng­liche Gottesbild sei grundsätzlich unwahr (Kapitel 3, 44-137). Dem steht gegenüber (B) Das Götterbild sei wahr, wenn auch nur in einem übertragenen Sinne (Kapitel 5, 199-294). Schließlich (C) Das anthropomorphe Götterbild sei eine gewachsene Tradition und deshalb buchstäblich wahr (Kapitel 6, 295-335). Dazwischen steht der römische Theologe schlechthin, Varro, der A und B miteinander verbindet. (Kapitel 4, 138-198). – In A zeigt MWS die Tradition, die das Abbild der Götter in menschlicher Gestalt entweder als unbewusste (‚spontane‘) Projektion menschlicher Dimensionen auf die den Menschen weit überlegenen Götter übertragen wurde oder dass das eine bewusste Täuschung darstellte. M. Terentius Varro suchte am Ende der Römischen Republik der traditionellen Religionspraxis neue Bedeutung zu verschaffen durch theologische Deutungen. Wie WFS feststellt veränderte sich das Selbstverständnis der Wissenschaft (WFS verwendet durchgehend „Philosophie“): „Hatte man ihr bislang die Rolle zugeschrieben, den negativen Effekten der menschlichen Zivilisation entgegenzuwirken, indem sie falsche Vorstellungen zu korrigieren und ursprüngliche, unverdorbene Einsichten aufzuspüren, zu ergänzen oder zu rekonstruieren hatte, tritt sie jetzt selbst als die eigentliche Urheberin der menschlichen Kultur hervor.“ (139). Nach Varro gab es eine Phase ohne Götterbilder. In seinen drei Formen der Theologie, der mythischen, die die Dichter verwenden, der physischen der Wissenschaftler und der civilen der Völker vermögen zwar die Wissenschaftler eine treffendere, aber nicht allgemein verständliche Darstellung der Götter zu geben, während die religiöse Praxis (civilis) und der Mythos didaktische Hilfestellung geben und in begrenztem Maße der religiösen Praxis Sinn verleihen.[10] Zu (B) der Metaphorik bzw. Allegorese. Eine ausformulierte Theologie des Götterbildes hat Dion von Prusa ‚Chrysostomos‘ dem Bildhauer Pheidias in den Mund gelegt (Rede 12 [um 100 n.Chr.], MWS 241-264).[11] Dazu kommt Maximos von Tyrus, dialexis 2 (MWS 264-292). Unter (C, S- 295-335) kommt der sog. Euhemerismus zur Sprache, wie Euhemeros von Messene in seiner Hierà Anagraphé ἱερὰ ἀναγραφή um 300 v.Chr. die These entwickelte, dass zunächst menschliche Herrscher verehrt wurden, die man später ‚Götter‘ nannte. Götter in Menschengestalt sind also der Ursprung der Religion. Der beginnende Herrscherkult ist als historischer Hintergrund hier zu berücksichtigen, aber nicht als Werbung dafür.[12] Was sonst gerne unter Euhemerismus verhandelt wird, etwa Wetterphänomene als Zeichen göttlichen Handelns zu glauben, oder die Vergöttlichung von Menschen sei nicht das Thema des Euhemeros gewesen.

Die Monographie von Frau Wifstrand Schiebe untersucht drei Positionen und Traditionen der antiken ‚Philosophen‘, wie das Verhältnis von Gottesbild und anthropomorpher Darstel­lung sei: Von der Aufklärung einer lächerlichen Identifizierung, die die Angst geboren habe, über die didaktische Anschaulichkeit bis zur Berechtigung der anthropomorphen Gestaltung im Euhemerismus. Die Hypothese eines ‚Volksglaubens‘ aus den Karikaturen der Intellektu­ellen oder den selbst handelnden Bildern zu erschließen kann diesen nicht erweisen.[13]  So ist diese sehr gelehrte Abhandlung (in einem ausgezeichneten Wissenschaftsdeutsch) das Nach­zeichnen eines Diskurses unter Intellektuellen, dessen Gegenüber religionsgeschichtlich nicht zu erreichen ist und eher eine Karikatur darstellt. Wie im Mythos erdenken sich die Philosophen einen „Anfang“, der von der jetzigen, meist negativ zu bewertenden Realität sich unterscheidet. Von dieser Engführung abgesehen ist das eine sehr präzise philologische Untersuchung zentraler Texte der Antike, vorwiegend der römischen Kaiserzeit. Viele lange diskutierte Probleme erscheinen nebensächlich und stattdessen verweist MWS auf über­raschenderweise vernachlässigte Fragen. Die Forschung ist auf höchstem Niveau fair aber klar zu den Gegenthesen dargestellt und weitergebracht.

Bremen/Much, November 2021

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………

 

[1] Marianne Wifstrand Schiebe war u.a. als Dozentin für Latinistik an der Universität Uppsala tätig. Forschungsschwerpunkte: Vergil und Vergilrezeption, Annius von Viterbo (Fälscher von antiken Texten), philosophische Theologie des Altertums. Im Folgenden abgekürzt mit den Initialen MWS.

Bibliographisch ist sie unter Wifstrand einzuordnen.

[2] Die vorzügliche archäologische Arbeit von Fernande Hölscher: Die Macht der Gottheit im Bild. Göttingen: Verlag Antike 2018 ist der Verfasserin unbekannt. Dazu die Rezension Christoph Auffarth in: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/01/06/die-macht-der-gottheit-im-bild/ (6.1.2020). Ebenso fehlen wichtige archäologische Untersuchungen im – ansonsten üppigen – Literaturverzeichnis (Britta Alroth 1989; Donohue 1988; 1997; Mylonopulos (ed.) 2010). Der einschlä­gige Handbuchartikel im Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum, Band 2. Los Angeles: Getty 2004 von Pascale Linant de Bellefonds: Rites et activités relatifs aux images de culte, 417-507 mit 775 Katalog­nummern zu Abbildungen fehlt ebenso.- Selten finden sich doch archäologische Bezugnahmen, etwa die Darstellung des Palladiums 182 Anm.131.

[3] Die Arbeiten von Gladigow, Auffarth, Bremmer fehlen ganz, von Cancik ein Aufsatz, von Rüpke nicht die treffenden. Hermann Funke: Götterbild. Reallexikon für Antike und Christentum 11, 659-828. Richard Neudecker: Kultbild. Der Neue Pauly 6(1999), 901-907. Die wichtige Monographie von Tanja Scheer: Die Gottheit und ihr Bild. München: Beck 2000 ist hingegen verwendet, ebenso wie Peter Eich: Gottesbild und Wahrnehmung. Studien zu Ambivalenzen früher griechischer Götterdarstellungen (ca. 800 v. Chr. – ca. 400 v. Chr.). Stuttgart: Steiner 2011 (s. S. 21 mit Anm. 25). Fritz Graf: Der Eigensinn der Götterbilder in antiken religiösen Diskursen. In: Gottfried Boehm (Hrsg.): Homo Pictor. Stuttgart: Teubner 2001, 228-243.

[4] Michael Pietsch: Die Kultreform Josias. Tübingen: Mohr 2013. Dazu meine [Rez] Israels Religionsge­schichte am Wendepunkt: Die joschianische Kultreform. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/02/02/michael-pietsch-die-kultreform-josias/  (7.Juni 2013).

[5] Die Argumentation dargestellt bei Christoph Auffarth: Mit dem Getreide kamen die Götter aus dem Osten nach Rom: Das Beispiel des Serapis und eine systematische Modellierung. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 20(2012), 7-34.

[6] Rez. Auffarth: Gottes Hände – Wie handelt Gott? Antike Philosophen, jüdische und christliche Theo­logen debattieren – über was? Christoph Markschies: Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike. 2016. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/09/19/markschies-gottes-koerper/ (19.9.2017).

[7] In meinen Untersuchungen (die MWS nicht kennt) hat sich das als besonders fruchtbar erwiesen:
(1) Das angemessene Bild Gottes: Der Olympische Zeus, antike Bildkonvention und die Christologie. In: Natascha Kreutz; Beat Schweizer (Hrsg): Tekmeria. Archäologische Zeugnisse in ihrer kulturhistorischen und politischen Dimension. Beiträge für Werner Gauer. Münster: Scriptorium 2006, 1-23. (2) The Materi­ality of God’s Image: Olympian Zeus and the Ancient Christology. In: Jan N. Bremmer; Andrew Erskine (ed.): The Gods of Ancient Greece: Identities and Transformation. (Edinburgh Leventis Studies 5) Liverpool 2010, 465-480.

[8] Überhaupt fehlt die Realität hinter den philosophischen Diskurs. Die Stelle in der Apg 14,11 Οἱ θεοὶ ὁμοιωθέντες ἀνθρώποις κατέβησαν πρὸς ἡμᾶς.

[9] Fritz Graf: Der Kult des Eros in Thespiai. in: Plutarch, Dialog über die Liebe. Hrsg. Herwig Görgemanns. Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 191–207. Milette Gaifman: Aniconism in Greek antiquity, Oxford: OUP 2012.

[10] Varro fr. 19 Cardauns. WFS 167 mit Anm. 76. Jörg Rüpke: Religion in Republican Rome. Rationalization and Ritual Change. Philadelphia 2012. MWS’- These, Varo habe im Laufe seines umfangreichen Werkes, der antiquitates rerum divinarum seinen Standpunkt gewechselt, wird zu diskutieren sein.

[11] Dion von Prusa: Olympische Rede oder über die erste Erkenntnis Gottes. Eingeleitet, übers. und interpre­tiert von Hans-Josef Klauck. Mit einem archäologischen Beitrag von Balbina Bäbler (Sapere 2) Darmstadt 2000. [mit griechischem Text]. Discours olympique, ou sur la conception première de la divinité (or. XII). à Athènes, sur la fuite“ (or. XIII). Ed. Gianluca Ventrella. Paris: Les Belles Lettres 2017. Auffarth, Das angemessene Bild 2007.

[12] Simon Price: Rituals and power. The Roman imperial cult in Asia Minor. Cambridge: CUP 1985. MWS setzt sich kritisch damit auseinander 303-316. Thema des Euhemeros sei die Vermenschlichung der Götter, nicht die Vergöttlichung der menschlichen Herrscher.

[13] Karikaturen wie Seneca, epistulae morales 41,1. Selbsthandelnde Bilder Scheer, Bild (wie Anm. 3) 2000, 186-200. Jan Bremmer: The Agency of Greek and Roman Statues: From Homer to Constantine. Opuscula Annual of the Swedish Institutes at Athens and Rome 6 (2013), 7-21. Sehr gute Materialsammlung Funke: Götterbild (wie oben Anm. 3), bes. der Abschnitt Polemik 745-759.

Schreibe einen Kommentar