Die Bestimmer

Ein ganz wunderbares Buch über Ausgrenzung und sich-zur-Wehr-setzen – ganz friedlich und mit nur einem Wort …

Ein Buch über Ausgrenzung und sich-zur-Wehr-setzen

Lisen Adbåge
Die Bestimmer

Getröstet

Die Bestimmer, das sind die, die bestimmen – die ANDEREN. Und WIR, das sind die, die nicht mitmachen dürfen. Die Bestimmer kommen und sagen, wer dabei sein darf, sie vertreiben uns, sagen, was wir zu tun haben, machen kaputt und verderben einem den ganzen Spaß. Wir wehren uns nicht, wir gehen dann einfach. Immer wieder …

Plötzlich wendet sich das Blatt: Für ein Spiel brauchen sie uns. Aber brauchen wir sie???

Die Kinder verstehen plötzlich: Wenn wir NEIN sagen, sind die Bestimmer machtlos! Keiner hat das Recht, uns Angst zu machen, uns zu unterdrücken. Wir müssen nur den Mut finden NEIN! zu sagen.

Wir alle kennen solche Bestimmer, die andere ausschließen. Die Kinder warten in diesem Buch lange, bis sie sich endlich wehren. Diese Geschichte, die eigentlich überall passieren könnte, wird von ganz eigenwilligen Bildern begleitet: lustig, bunt, verrückt und frech. Ganz anders als viele andere Bilderbücher.
Mir gefällt, dass sich die Kinder nicht durch Gewalt oder Schimpfwörter wehren. Sie lösen das Problem friedlich, mit nur einem Wort!
Es ist wichtig NEIN zu sagen. Vielleicht verstehen wir jetzt auch besser, warum man jedes NEIN akzeptieren muss, so schwer das auch sein mag …

Ein Buch für alle.

Hier findet ihr eine Leseprobe

Mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Verlages

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Löse mindestens Level 1 des P@ulus-Online Spiels unter

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Viel Spaß!

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Vertovec: Superdiversität

Steven Vertovec: Superdiversität: Migration und soziale Komplexität.

[Superdiversity: Migration and Social Complexity]
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Berlina.
Suhrkamp.
364 Seiten.
€ 32.
978-3-518-58815-4.

 

Unterschiede in der Gesellschaft wachsen:
Das sei mehr eine Chance, als die Angst vor Abstieg uns weismachen will

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Vor 17 Jahren brachte Steven Vertovec das Konzept der Superdiversität auf, wie Gesellschaften immer mehr Diversität entwickeln. Ob die Diversitäten (Arm-Reich, Schwarz-Weiß, Ausländer-Eingesessene, Flüchtlinge-Wohlhabende, Diktaturen-Demokratien) so viele werden, dass sie sich gegenseitig aufheben, oder Ängste schüren, das ist in diesem Buch sozialwissenschaftlich beschrieben und begriffen, leider wenig anschaulich.

Ausführlich:

Während ich dieses Buch lese, rotten sich in England die Rechten zusammen und machen Jagd auf Muslime, nachdem ein Mann drei Mädchen am 29. Juli 2024 getötet hatte. Muslime greifen ihrerseits zu Gewalt.[1]

Der Autor des Buches Superdiversity ist ein hochgelobter Forscher und Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften.[2] Er beansprucht, den Begriff erfunden zu haben gegenüber dem einfachen Diversity-Begriff, der in der Regel nur das Kriterium der Ethnizität anwende und den er deshalb superseded – ‚ersetzte‘, ‚übertrifft‘.[3] Ein aussagekräftigerer Begriff fiel niemand ein – und so wird er auch im Deutschen einfach übernommen. SV entwickelte (50-jährig) das Konzept in einem Zeitschriftenbeitrag 2007. Nach 16 Jahren hervorragender Forschungsbedingungen erscheint nun das englische, ein Jahr später das ins Deutsche übersetzte[4] Buch, gewissermaßen zum Abschied aus dem Direktorenamt.[5] Das Fundament des Buches bildet der genannte Aufsatz Superdiversität und ihre Auswirkungen (als Kapitel 2, S. 37-75, nach einer Einleitung), der vor allem am Beispiel von London und dem Vereinigten Königreich das Konzept entwickelt: Während die älteren Analysen (sowohl die Erhebung von Daten für Statistiken als auch die Analyse der Daten) sich auf das Herkunftsland, die Nation v.a., beschränkten, die Ethnizität der Migranten erläutert SV, dass sehr unterschiedliche Menschen immigriert sind, selbst wenn sie aus dem gleichen Staat kommen. Hinzu kommen müssen also andere Kriterien wie Sprachen, Religionen, Migrationskanäle und -status, Gender, Alter, Space/Place (der Text erläutert dann: gemeint ist die Ansiedlung in einem Viertel als Diaspora oder verteilt in verschiedenen Vierteln, der Nähe zum Arbeitsplatz wegen) und Transnationalismus. Daraus ergeben sich methodische Herausforderungen für die Datenerhebung, für die Sozialwissenschaften und die Politik (Programme, Gesetze, Zugang zum Gesundheitswesen etc.).

War das Grundsatzkapitel noch relativ konkret und anschaulich, so wird im Folgenden deutlich, dass die Grundlage seiner Forschungen Statistiken sind. Die interessante Stufung der Diversität/Superdiversität als Kategorie von Städten führt zu einer Einteilung in fünf Stufen: Wie viele Migranten wohnen ein einer Stadt welcher Größe mit welcher Wirtschaftskraft in BIP (Brutto-Inlandsprodukt) und Industriebetrieben? Wie hoch/gering ist der Arbeitslosenanteil? Zu jedem dieser Stufen auf der Skala von superdiverse cities bis non-diverse cities (die englischen Begriffe bleiben unübersetzt). Für jede Stufe nennt er drei bis vier Beispiele. Aber nur die Namen. Warum Neapel non-divers geblieben ist, Chemnitz zu den low-migration cities, Amsterdam zu den superdiverse cities zählt, vor allem aber warum es dazu gekommen ist – SV betont ja immer, dass es sich um ‚emergente Prozesse‘ handelt – bleibt ohne Konkretionen und erst recht ohne Geschichte.[6]

Chemnitz war eine boom-town in der Gründerzeit. Die neu gegründeten Industrien verlangten nach Arbeitskräften weit über die Region hinaus. Wie im Ruhrgebiet die Polen, so wanderten in Chemnitz im südwestlichen Sachsen Tschechen aus der benachbarten Region und aus Polen ein, die beide erst nach dem Ersten Weltkrieg eigene Nationalstaaten bilden konnten. Wie haben die gut organisierten deutschen Arbeitergewerkschaften die Dumpinglöhne der ‚österreichisch-ungarischen‘ Konkurrenten aufgenommen? Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war Chemnitz Teil der DDR. Arbeiter aus den ‚kommunistischen Bruderstaaten‘ kamen, vor allem aus Vietnam. Nach dem Beitritt der östlichen Bundesländer zum Grundgesetz kamen die Chefs der Behörden und der für wenig Geld erworbenen Industriegelände aus dem Westen, die Arbeiter aber, aus dem SED-Staat entlassen, entluden ihren Frust an den Migrant:innen, die AfD in Sachsen bietet ihnen ein Sprachrohr und politische Vertretung, der Fußballverein die Bühne für Aktionen. Wo wohnen die Afrikaner im superdiversen Stadtteil Sonneberg, wo die Vietnamesen, wo die diversitätsoffenen Chemnitzer im Alternativen Jugendzentrum. Solche kleinen Biographien von Städten fehlen. Nur für London bietet SV im Grundlagenkapitel so etwas.

Das Buch widmet sich der Frage: Wie wurde mein Konzept (in dem ‚ursprünglichen‘ Aufsatz) rezipiert? In der Tat sind 8200 Zitationen eines einzigen Aufsatzes sensationell (bis Juni 2022 SV 95f). Kapitel 3 unterscheidet verschiedene Bedeutungen des Begriffs bzw. Konzepts. Kapitel 4 beschreibt Diversifizierungsprozesse, darunter die Einstufung der Aufenthaltstitel für Migranten, die die Nationen jeweils vorgeben und damit Stratifizierung der Migrant:innen erzeugen. [1]

Eine Kritik, die SV 107f aufgreift, wirft ihm Naivität in Bezug auf Rassismus vor. SV geht davon aus, dass die Gesellschaften immer diverser werden, besonders in den jüngeren Generationen (153-155). Daraus zieht er einen Optimismus, dass damit auch Rassismus und Xenophobie, Othering u.a. abnehmen würden. „Zum Kontext gehört auch das, was wir als diskursive Sphäre der Diversität bezeichnen könnten: Jüngere Generationen wachsen in einem öffentlichen Raum auf, der – insbesondere durch viele verschiedene Medien und Bilder – starke Botschaften über die Werte der Diversität und der Anerkennung von Unterschieden trägt (siehe Vertovec 2012).“ (SV 155, differenzierter SV 204). Kapitel 5 thematisiert Reaktionen auf Diversifizierung (SV 163-209), Abstiegsängste, die nicht auf realem Abstieg beruhen. Die Wahrnehmungen und die öffentliche Diskussion über die Gefahren der Migration, über Verwendung von Steuergeldern stünden in keinem Verhältnis zur Realität. (Björn Höcke und die AfD: VS 187; zur Wahl von Donald Trump 190-195). – Im sechsten Kapitel geht es um Soziale Komplexität, die immer schwerer zu durchschauen ist. Das macht vor allem denjenigen Angst, die kaum Diversität in ihrer Lebenswelt begegnen und mit einer Gegenbewegung (backlash) reagieren. SV 225 nennt ihn ‚konservativ‘ und ‚defensiv‘; das gilt sicher nicht für die Politik der Rechten und den Trend zu autoritären Regierungen oder den Trumpismus, die Unterschiede wieder auf höchste Salienz[7] der öffentlichen Debatten heben. Unterschiede, die auf wirtschaftlichen Diversitäten beruhen und Macht behalten oder gewinnen wollen. SV macht deutlich, wie sich Identitäten erst herausbilden etwa am Beispiel einer Nigerianerin, die in die USA eingewandert ist, und dort lernte ‚eine Schwarze‘ zu sein (SV 231). Ähnliches gilt für Gender und Sexualität, Religion (SV 239-241), Sprache. Erstaunlich finde ich, dass die Generationenfolge der Migrant:innen so gut wie keine Rolle spielt, erst recht fehlt die Schule als die Institution, die alle jungen Menschen besuchen müssen und dort ebenso Anleitung zur Integration wie Ablehnung und Mobbing erfahren. Auf dem Gebiet gibt es umfangreiche Forschungen, die in dem Buch nicht vorkommen.

Religion spielt kaum eine Rolle. Die Einsicht ist wichtig, dass die Schublade „Weltreligion“ zu falschen Vorurteilen führt. Wie im ‚ursprünglichen‘ Aufsatz gesagt: „Londons muslimische Bevölkerung von 607 083 Menschen ist wahrscheinlich die diverseste der Welt, abgesehen von Mekka“, schrieb der Guardian 2005. (SV 53). – Eine sehr anschauliche, lesenswerte Einführung, in der auch Vertovec‘ Superdiversity vorgestellt und verarbeitet ist, haben zu dem Thema Martin Baumann und Alexander Nagel geschrieben.[8]

Nach der Lektüre der Kapitel des Buches helfen die Kategorien und Abstufungen der genaueren Unterscheidung der gesellschaftlichen Diversität, eine Sprache zu finden für die Phänomene (28). Es enttäuschen mich aber die wenig konkretisierten Aussagen (am besten noch im ‚ursprünglichen‘ Aufsatz, der sich auf London und England bezog). Welch schöne kleine Stadtbiographien von Migranten und Eingesessenen wären möglich gewesen! Stattdessen Statistiken und Forderungen nach neuen Forschungen. Die berichteten Debatten sind aus England[9] und den USA, kaum die in Deutschland und den EU-Ländern, auch wenn internationale Daten verwendet sind. Wer nach dem ‚ursprünglichen‘ Aufsatz, der konkret soziale Verhältnisse und Entwicklungen in England und London beschreibt, ähnliche Beschreibungen für andere Lebenswelten erwartete, findet die in dem Buch nicht.

 

Bremen/Wellerscheid/Merades (Kreta), August 2024                                                                                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Messerattacke in Southport im United Kingdom am 29. Juli 2024. Es gibt bereits einen wikipedia-Artikel dazu. Vergleiche die Berichte der Tageszeitung (taz) Rechter Mob in Großbritannien: Stichwortgeber für die Schande – taz.de. Ausgeglichener der Artikel der Neuen Zürcher Zeitung Strassenschlachten in England: Rechtsradikale gegen Islamisten (nzz.ch) (alles abgerufen 13.08.2024).

[2] Das Max-Planck-Institut zur Erforschung multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften wurde 2007 gegründet. (Es trat an die Stelle des MPI für Geschichte, das eine hervorragende Arbeit leistete mit vielen Langzeitprojekten und der Überwindung nationaler Ideologien in der Geschichtswissenschaft durch die Angliederung von französischen, polnischen, britischen Abteilungen. Es war ein wichtiger Pfeiler der Geschichtswissenschaft, der jetzt fehlt: m.E. die falsche Entscheidung). Die Daten im Wikipedia Artikel). Direktor der Abteilung zu multireligi­ösen Gesellschaften war bis 2021 Peter van der Veer Religious diversity | Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (mpg.de). Für multiethnische Gesellschaften ist Steven Vertovec der Direktor: Steven Vertovec | Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (mpg.de). Eine dritte Abteilung zu Recht und Ethik war geplant und von 2015-2020 geleitet von Dr. Ayelet Shachar (alles abgerufen 14.08.2024). „Hochgelobt“: die vielen bedeutenden Institutionen, die ihm Forschungsmöglichkeiten boten, ersieht man aus seinem Lebenslauf. Im Folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen ab. SV mit einer Zahl bedeuten die Seitenzahlen im Buch.

[3] SV 31 „Die emergente Natur der von Migranten angetriebenen Diversifizierung hat die vorangegangenen Konfigurationen der Diversität in Großbritannien abgelöst – it superseded them – daher das Wort Superdiversity.“ Ähnlich wenig aussagekräftig ist New diversity.

[4] Die Übersetzerin Alexandra Berlina erläutert S 13f ihre Entscheidung, viele englische Begriffe nicht zu übersetzen. Race im Englischen hat nicht die biologisch-genetische Bedeutung wie Deutsch ‚Rasse‘. Während das Wort im Deutschen wissenschaftlich widerlegt ist (und die NS-Forschung trotz intensiver Forschung das nicht belegen konnte), behält das Wort eine unverzichtbare Bedeutung (wie im Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Rasse benachteiligt werden!“, des Rassismus, des racial profiling bei der Polizei, wenn sie Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe besonders kontrolliert. Dennoch wäre für deutsche Leser eine Erklärung je am Ort wünschenswert. Was ist z.B. New Commonwealth? Was sind britische Expats? (91) Oft erläutert der nachfolgende Text implizit den englischen Begriff. Es gibt aber auch Fehler: Das Wort „hierzulande“ meint Großbritannien, nicht Deutschland. Fehler in den Grafiken S. 44-51: Nummer muss heißen Anzahl. In drei verschiedenen Grafiken sind die Tausenderzahlen dreimal verschieden abgetrennt: mit Komma, mit Punkt, mit Spatium.

[5] Das Prinzip der MPIs war, (Als Wissenschaftsorganisator erfand der Kirchengeschichtler Adolf [von] Harnack 1910 das Prinzip für die an den Universitäten noch unzureichend ausgestatteten Naturwissenschaften) beste Forschungsbedingungen und -finanzierungen für je einen hervorragenden Professor und dessen Forschungsprojekt. Nach dessen Ausscheiden kann ein anders Gebiet gewählt werden, im Erfolgsfall wird eine Findungskommission eine Nachfolge bestimmen.

[6] Im Teilkapitel zur Geschichtswissenschaft 103-107 erwähnt SV ein Buch zu Rotterdam, das den Zeitraum von 1600 an beschreibt (van der Laar; van der Schoor 2019). Nur im Literaturverzeichnis genannt, aber nicht im Text beschrieben ist das Handbuch von Dirk Hoerder Worlds in Contact, das 2003 eine globale Migrationsgeschichte versucht von 1100 bis 2000. Grundlage waren seine historisch genauen Untersuchungen von Stadtvierteln in dem Einwandererland Kanada: Wer wohnte neben wem? SV begrüßt die Fragestellung; für Superdiversität komme aber nur die Generation seit etwa den 1970er Jahren als Forschungsobjekt in Frage: also keine Geschichte!

[7] Aufmerksamkeitsstufe, ‚Stellenwert‘. Ein Begriff der Sozialpsychologie.

[8] Dazu meine Rezension: Religion der Migrant:innen als Brücke und als Zaun: ein Lehrbuch: Martin Baumann; Alexander-Kenneth Nagel: Religion und Migration 2023. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2024/03/10/religion-und-migration/(10.3.2024). – Die wichtigen Forschungen von Nagel kennt SV (laut Literaturverzeichnis) nicht, obwohl dieser an der Göttinger Universität forscht und lehrt, keine 500 m vom MPI entfernt.

[9] Schottland, Wales und Nordirland kommen nicht vor. Welche Veränderungen hat der Brexit geschaffen und haben sich die (erlogenen) Erwartungen gezeigt? (VS 181f, 198, 228) Warum kommt es zu den Eingangs erwähnten Ausschreitungen, kurz nachdem Labour wieder regiert?

Wir lernen die Tastatur kennen und schreiben einen Bibeltext

Herzlich willkommen zum neuen Jahrgang der AG Reli digital. Heute geht es los, indem wir die Tastatur an den Laptops ausprobieren. Wie kommt man eigentlich an all die schönen Zeichen wie

@, €, ^ oder °

heran? Wie schreibt man GROSS und klein? Warum schreibt der Computer immer groß, obwohl ich das nicht will? Und wie kann man lernen, sogar blind zu schreiben.

Übungsfeld

Klicke hier, damit wir alle sehen, wie Du schreibst:

https://cryptpad.fr/pad/#/2/pad/edit/ckXFxMBOb8VIIUPUD7ga6vKM/

 

Der Bibeltext wird dann vorn angezeigt.

Für Fortgeschrittene

Wer seine Schreibgeschwindigkeit testen will, kann das hier tun:

https://typing-speed.net/de/

Mit einem menschlichen Gegner um die Wette tippen kann man hier: https://10fastfingers.com/multiplayer

Herzog: Eugenische Phantasmen

Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte.

Suhrkamp Verlag, 1. Auflage 2024.
(Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2021)
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Mit zahlreichen Abbildungen.
390 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. € 36.
ISBN 978-3-518-58814-7.

 

Geschichte der Behinderten:
Verachtung, Mord, Bemäntelung, dann aber Wege zur Inklusion.
Ein elend langes 20. Jahrhundert.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ein eindrücklicher, sehr behutsamer Bericht über die Herabsetzung von Behinderten von 1890 an, der Zwischenkriegs- und NS-Zeit, und wie erst eine ganze Generation später die Euthanasie und Sterilisation genau erforscht wurde und gegen viele Widerstände wenige Vorkämpfer eine neue Biopolitik anstießen: die Auflösung der Massenanstalten und die Inklusion der Behinderten als vollwertige Menschen.

Ausführlich:

Ein aufwühlendes Buch über Behinderte und ihre Verachtung und Wertschätzung vor, während und nach dem „Dritten Reich“, das den Nationalsozialismus in den historischen Kontext stellt: Die Morde im NS waren vorbereitet und hatten eine lange Nachgeschichte, keine Ausnahme! Ausnahme nur in der Hinsicht in ihrer Umsetzung in die Praxis, die Euthanasie, staatlich verordneter und willentlich vollstreckter Massenmord und massen­weise Zwangssterilisation.[1] Das war Staatsziel des Nationalsozialismus: die Ausmerzung schlechter Gene aus dem Volkskörper, der vermeintlich eugenischen Rasse. Obwohl die eigentlichen Ursachen bekannt waren, vor allem Armut, Mangelernährung, mangelnde medizinische Versorgung, wurde seit den 1890er Jahren fast nur noch über die Vererbung innerhalb der Familie diskutiert: veröffentlichte Meinung. „Rassenhygiene“ und Biopolitik waren zwar auch inter­national ein Thema (48-51), wie man durch Gesetze die Rasse rein halten könnte, aber Dagmar Herzog[2] erzählt „eine deutsche Geschichte“.[3]

Behinderte stellen seit dem Wendepunkt des Ersten Weltkriegs ein offen diskutiertes Thema dar: Sollte man Behinderte, auch angesichts der ökonomischen Katastrophe der Folgen des Weltkriegs, nicht besser töten? Veröffentlicht wurde die Behauptung der Unheilbarkeit (Kapitel 1, S. 27-59) etwa 20 Jahre nach dem Boom an Neugründungen von Anstalten für die Behinderten in den 1870er Jahren, durchwegs konfessionelle Einrichtungen, die aus christlicher Nächstenliebe die Fürsorge für die Behinderten sich zum Ziel setzten, unterstützt vom Staat mit einer kleinen Summe. Die Anstalten trugen sich durch Spenden und die Arbeit der Behinderten im Haus, Garten, Landwirtschaft, Pflege weitgehend selbst, dazu die unbezahlte Arbeit der Diakonissen oder katholisch der Ordensmitglieder. Dennoch rechneten die Gegner hohe volkswirtschaftlichen Kosten vor – fiktive Hochrechnungen.

Das Vorbild aus der Bibel ist eine Szene aus dem Johannesevangelium (Joh 9,1-3; bei DH in einer Anmerkung 293, Anm. 1 und S. 222 erwähnt): Als Jesus einen Behinderten trifft (seit seiner Geburt blind), wird er gefragt: „Wer hat gesündigt? Dieser Mensch oder seine Eltern“ Das heißt, als Ursache für die Behinderung wird eine Strafe Gottes angenommen für eine ‚Sünde‘, die auch vererbt sein könnte. Jesu Antwort ist entwaffnend gegenüber dieser Unterstellung: Keiner hat gesündigt. Er ist blind, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden. „Unsere Pflicht ist es, die Werke dessen zu erarbeiten, der mich geschickt hat. (ἡμᾶς δεῖ ἐργάζεσθαι τὰ ἔργα)“ Und heilte ihn. (Den Satz „Unsere Pflicht …“ erwähnt DH nicht). – In der von Friedrich von Bodelschwingh kreativ aufgebauten und immer erweiterten Stadt für Behinderte, dem Vorort von Bielefeld bekamen alle Häuser biblische Namen einschließlich der Stadt selber: Bethel nach Bet-El „Haus Gottes“.

Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Wende. Wie viele andere Bücher nach dem Krieg, die die bisherigen Konsense radikal aufkündigten und ‚entlarvten‘, forderte das Buch von Binding und Hoche Die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens 1920. Das schmale Buch bediente die alten (schon widerlegten) Argumente, auf die der Diktator Hitler ein Gesetz aufbauen konn­te (Kapitel 2, S. 61-97). So unverhohlen die Tötung von Behinderten zu fordern, rief nicht etwa einen Sturm der Entrüstung hervor. Die protestantischen Theologen (also die Betreiber der Anstalten) sahen sich gezwungen, das malthusianische Gesetz der Biopolitik aufzugrei­fen.[4] Mehrheit­lich kamen sie zu dem Kompromiss, dass Christen nicht töten dürfen, aber Sterilisation das Mittel sei, die Eugenik zu fördern[5] (was dann später in der NS-Zeit massen­weise umgesetzt wurde, während die Tötungen versucht wurden zu verheimlichen).[6] DH nennt das Theo-Biopolitik. Nur wenige widersetzten sich dem mainstream, DH hebt aber hervor, dass Katholiken klar widersprachen und ‚der Natur‘ ihren Lauf ließen bzw., dass Gott der Herr über Leben und Tod sei (85f, 125). – Die Einzelheiten der Mordaktion werden gar nicht ausführlich dargestellt, weil, so DH, die genauen Vorgänge erst in den 1980er Jahren erforscht und ans Licht der Öffentlichkeit kamen, lange verheimlicht und sogar gerechtfertigt wurden, Thema des dritten Kapitels: Wie erkennt man ein Verbrechen? (99-134). Statt die Euthanasie als Mord mit Tätern zur Anklage zu bringen, (wie etwa der Ober­staatsanwalt Fritz Bauer die Beweise für einen Prozess vorbereitete, der dann aber nicht verhandelt werden konnte, weil die Organisatoren der Euthanasie sich selbst getötet hatten, geflüchtet oder verhandlungs­unfähig waren: DH 108-110. Bauer wies nach, dass die Täter weit mehr Menschen um­brachten, als auch nach damaligen Kriterien „lebensunwert“ bewertet wurden) wurde die Meinung veröffentlicht, man müsse Mitleid mit den Tätern haben. Das Entschädigungs­gesetz von 1956 gestand allen Opfern des Nationalsozialismus eine staatliche Entschädigung zu, die aufgrund ihres Widerstandes gegen den NS, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung Nachteile erlitten hatten. Galt das auch für Behinderte? Fast alle Gutachter – viele davon hatten in der NS-Zeit Menschen für die Sterilisation ausgesucht – sprachen sich dagegen aus, das habe mit Rasse nichts zu tun. Erst die Habilitationsschrift von Gisela Bock von 1984 erbrachte den Nachweis, dass der ‚anthropologische‘ (gegen Juden und Sinti u.a.) mit dem ‚hygienischen‘ (gegen Behinderte, ‚Asoziale‘ u.a.) Rassismus verbunden waren. Nur die unermüdliche Arbeit für die Behinderten des Psychiaters Klaus Döring und das detektivische Lebenswerk von Ernst Klee (1942-2013) brachten die Verbrechen und ihre verheimlichte Gegenwart ans Licht.[7] Ganz spannend ist dann das Kapitel 4, wie man die NS-Ideologie gegenüber den Behinderten aus dem Köpfen bekam und die Inklusion zum Ziel wurde (135-186). Behinderte wurden seit den 1890er Jahre abgesondert in Anstalten fürsorglich behandelt; in den heruntergekom­menen Häusern herrschten Disziplin, Strafen, schlechte Ernährung. Zwei Professoren für Behindertenpädagogik suchten neue Wege, die Behinderten nicht als Objekt, sondern als „Du“ zu begegnen, das eigene Wünsche hat (Martin Bubers Ich-Du-Beziehung und Karl Marx‘ Ziel, die Entfremdung der Menschen aufzulösen, standen dafür Pate: DH 150-160). Wolfgang Jantzen und Georg Feuser (beide Jahrgang 1941, Professoren an der ‚roten‘ Universität Bremen) betraten neue Wege, mit dem Ziel, die Absonderung und die Massen-Anstalt zu ersetzen durch Wohngruppen in Familiengröße („um einen Tisch“) möglichst in der Stadt. Das bedeutete Inklusion in den Schulen, kleine Häuser in Wohnvierteln, oder völlige Umgestaltung der großen Einrichtun­gen. Der Weg dorthin war steinig, aber veränderte grundlegend die Lebenssituation von der Betreuung zur unterstützten Selbständigkeit. Vorbild war Italien, wo das 1978 gesetzlich umgestellt wurde, dank der Initiative von Franco Basaglio. Die problematische Rolle des „Lebenshilfe“-Vereins wird deutlich. – Das fünfte Kapitel untersucht, wie die Wirklichkeit der Behinderten in der DDR war mit ihrem Versprechen eines sozialistischen Humanismus. Da die Gleichberechtigung von Frauen und Männern bedeutete, dass beide arbeiten mussten, war die Kinderbetreuung von klein auf die Regel. Behinderte Kinder mit erhöhter Fürsorge sollten, ja mussten in Heime eingewiesen werden, die sich in schlechtestem Zustand befanden. DH berichtet aber von drei Prozessen in der DDR, die Behinderte als Menschen sahen und ihre Situation verbesserten: Noch bevor Ernst Klees Euthanasie-Buch die Morde dokumentierte, schrieben zwei Professoren der DDR „Die Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für ihre geistig sehr schwer behinderten Mitglieder“ 1981, in dem sie geschickt die Verbrechen der NS-Zeit, Praxis-Vorschläge und DDR-Ideologie verbanden. Zu einem Fotoband zu Behinderten schrieb der anerkannte Schriftsteller Franz Fühmann einen eindrucksvollen Essay, wie berührt (auch im wörtlichen Sinne) er von den Behinderten war, denen er eine Zeitlang immer wieder begegnete. Eine dritte Geschichte ist die Reformierung des Katharinenhofs (im entlegenen Dreiländereck Polen/ Tschechien/ Sachsen) durch das Kinderärzte-Paar Uta und Jürgen Trogisch. Statt der Abgeschlossenheit der Anstalt besuchten die beiden und ihre Mitarbeiter (es gab in der DDR keine staatliche Ausbildung für Heilerziehungspfleger) mit Behinderten benachbarte Dörfer, Feste, ermög­lichten Urlaubsreisen, teils mit den Eltern. Für die Stasi war die Einrichtung ein Dorn im Auge, weil sie dissidente Jugendliche anzog. Was der Staat nicht wollte, konnten diese drei Eigeninitiativen erreichen: das Thema öffentlich machen und praktische Verbesserungen anstoßen. Die Entinstitutionalisierung und Inklusion, wie sie im zweiten Teil des vierten Kapitels beschrieben ist, war dann der Weg, den die ganze BRD beschritt, nachdem die neuen Bundesländer dem Grundgesetz beigetreten waren.

Was ich vermisse, ist ein Wort zu zwei Entwicklungen: Die neuen Verhütungsmethoden ermöglichen sicheren Sex, statt in den Anstalten zu überwachen, dass es nicht dazu kommt. Das andere ist die regelhafte, fast aufgezwungene Untersuchung des Fruchtwassers bei Schwangeren, die schon pränatal (statt postnatal) Behinderungen vermeidet. Grundlegend aber ist die Entlarvung des Mythos der Vererbung: Behinderungen entstehen meist durch Chromosomen-Anomalien, durch Probleme bei der Geburt oder in der frühen Kindheit.

Die umfangreiche Debatte zu dem Thema ist sowohl in den zeitgenössischen Stimmen, von der Fachzeitschrift, den juristischen und medizinischen Maßnahmen bis zur populistischen Veröffentlichung, als auch in den aktuellen Forschungen aus den Akten mustergültig aufgearbeitet, in Deutsch und Englisch, und ist in den sehr wertvollen Anmerkungen (S. 257-386, also rund ein Drittel des Buches) ausführlich und detailliert dokumentiert. Dort sind auch die genauen Zahlen und die Forschungsliteratur angegeben.

Dagmar Herzog hat ein großartiges Buch geschrieben, hervorragend informiert sowohl zu den Epochen des späten Kaiserreichs, den Debatten der Zwischenkriegszeit, den Verbrechen der NS-Zeit, dem Schutz der Täter und deren Entlarvung weitgehend erst in den Achtziger Jahren, den Prozessen der Auflösung der Massenversorgung und Absonderung der Behinderten und ihrer Inklusion. Das alles beschreibt sie mit Sympathie, aber auch sorgsam abwägend, wie es zu der Wende in der Biopolitik kam. Das Vorwort macht noch einmal eindringlich darauf aufmerksam, dass es der gleiche Rassismus war, der die Juden zu vernichten plante als auch die Behinderten und dass es oft die gleichen Personen waren, die beide Morde planten, organisierten, realisierten. Das Nachwort reflektiert, was die erzählte Geschichte methodisch bedeutet, wenn neue Erfahrungen die Erinnerungen verändern.[8] Das Buch ist Pflichtlektüre in die Abgründe, die nicht plötzlich von den Nationalsozialisten erzwungen wurden, sondern die Geschichte eines Jahrhunderts und mehr, das die Behinderten entwürdigte, verachtete, und schließlich zur Tötung aussonderte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, im Grundgesetz vor 75 Jahren an der Spitze aller Menschen­rechte formuliert, konnte die Geltung für alles menschliche Leben erst dank einzelner Aktivisten und Wahrheitsforscher und dann politischer Entscheider erlangen. Das menschliche Leben ist unvollkommen. Wie dies bestritten, dann aber in inklusive Lebensrealitäten umgesetzt wurde, beschriebt dieses hervorragende Buch. Das sollte jede und jeder lesen.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2024                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Ermordet wurden unter hohem finanziellem und personalem Aufwand fast 300 000 Menschen, davon 210 000 im Reich, 80 000 im besetzten Osteuropa.

[2] Dagmar Herzog, *1961, ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York. Der Wikipedia-Artikel enthält auch den Link zu ihrer Homepage sowie ihre weiteren Bücher einschließlich der deutschen Übersetzungen. Ihren Namen kürze ich im Folgenden ab mit den Initialen DH.

[3] „In keinem anderen Land entwickelte diese Idee [sc. die Tötung von Behinderten] eine solche Zugkraft wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.“ (295, Anm. 8). – Die NS-Gesetze oder geheimen Verordnungen für die „Euthanasie“-Aktion konnten US-amerikanische Vorbilder übernehmen. DH macht auf die Inkonsequenz aufmerksam: Die Alliierten annullierten die Nürnberger Gesetze, obwohl sie ziemlich genau das Jim-Crow Gesetz zur Rassentrennung in den USA übernahmen, ließen das Sterilisierungs-Gesetz von 1933 aber bestehen, weil es entsprechende Gesetze in den Teilstaaten der USA gab, insbesondere in Vermont. Zu der entsprechenden Debatte über den vermeintlichen Untergang der weißen Rasse s. Charles King: Gods of the Upper air. New York: Doubleday 2019 (dt. Schule der Rebellen. Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. München: Hanser 2020. DH meldet bei der internationalen Eugenik Forschungsbedarf an und nennt einige Studien 252 + 371f Anm. 19. – 324 Anm. 52 verweist sie auf das Buch von Omer Bartov, dazu meine Rezension: Der Völkermord an den Juden – konkret mit Menschen in einer Stadt in der Provinz. Omer Bartov: Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz. Berlin: Jüdischer Verlag (im Suhrkamp Verlag) 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/10/13/anatomie-eines-genozids/(13.10.2021).

[4] Das Argument behauptete – ohne das statistisch belegen zu können –, dass von Jahr zu Jahr mehr Behinderte geboren würden. Der Engländer Thomas Malthus hatte das Gesetz in seinem Essay on the Principle of Population 1798 aufgestellt, dass die Bevölkerung exponentiell ansteige, während die Ernährung nur arithmetisch zunehmen könne, und so eines Tages die Lebensmittel nicht mehr ausreichten. Das Gesetz wurde soziologisch so ausgelegt, gerade die ärmeren Familien immer mehr Kinder zeugten, so dass sie die Aristokratie bzw. Elite verdrängten, das Volk also keine Führer mehr hervorbringe.

[5] In Treysa 1931, DH S. 77 und 304-306 Anm. 38-40.  Eine Minderheitenmeinung plädierte dafür, dass Christen nicht töten dürfen, der Staat aber schon.

[6] Die Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen gilt als der Wendepunkt (DH 23). Einen sehr genauen Nachweis, dass die Sterblichkeitsrate in den Anstalten sprunghaft in die Höhe schnellte, erstellte der Pastor Paul-Gerhard Braune (DH in einer Anm. 305) und übersandte die ‚Denkschrift‘ an Hitler. In Württemberg protestierten Eltern, unterstützt von Landesbischof Theophil Wurm, gegen die Todesnachrichten ihrer behinderten Kinder, die alle aus der Tötungsanstalt Grafeneck und meist mit der gleichen Todesursache mitgeteilt wurden. Die These, dass die Euthanasie der Probelauf für die Durchführbarkeit von Massenmorden war, der dann an Jüdinnen und Juden vollzogen wurde, hat sich erhärtet. Die Euthanasie wurde in den einzelnen Anstalten weitergeführt, man schätzt (DH 89), dass nach dem offiziellen Ende von „T4“ noch einmal doppelt so viele Behinderte ermordet wurden. Trotzdem darf man auch den ausgeübten Zwang nicht vergessen: Welche Anstaltsdirektoren sich weigerten, an der Aktion teilzunehmen, drohten die NS mit Schließung der Anstalt DH 122f.

[7] Ernst Klee: Euthanasie 1983 nennt DH ein Meisterwerk und würdigt die Lebensarbeit Klees 116-124, weiter S. 202f; 323-325, Anm. 47-64. Die Forschungen des Leipziger Professors für Kirchengeschichte, Kurt Nowak, der 1978 ein Buch zur Euthanasie schrieb, ist erst 372f Anm. 23 nur erwähnt.

[8] DH verweist auf die Psychoanalyse. Der Historiker Otto Gerhard Oexle beschrieb das als „Problemgeschichte“, dass jede Generation mit ihren Erfahrungen andere Fragen an die Geschichte stellen muss.

Bauman Fragmente

Zygmunt Bauman: Fragmente meines Lebens.

Herausgegben von Izabela Wagner.
Berlin: Suhrkamp;
Jüdischer Verlag 2024.
303 Seiten.
ISBN 978-3-633-54331-1.

 

„Ich hasse Herden“:
Zygmunt Bauman, ein jüdischer Pole und soziologischer Analytiker
der Postmoderne autobiographisch

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Verschiedene Stücke, die sich mit „meinem Leben“ (1925-2017) befassen vom Juden als Kind, vom Kommunisten während und nach dem Zweiten Weltkrieg, bis der real exisitie­rende Sozialismus ihn aus Polen vertrieb und er als Professor in Leeds bestechende Analysen der postmodernen Gegenwart schrieb.

Ausführlich:

Der bedeutende in Polen aufgewachsene, lange erst in Polen, dann in England lehrende Soziologe Zygmunt Bauman hat einige Texte hinterlassen, die Izabela Wagner herausgegeben hat. Zumeist auf Polnisch geschrieben sind sie auf Englisch veröffentlicht worden (My life in Fragments, Cambridge: Polity 2023) und nun für deutsche Lesende auch in einer deutschen Ausgabe übersetzt. Sehr erfreulich ist, dass die Herausgeberin die vielen Anspielungen und Baumans Bezugnahmen auf polnische Zeitungen, Parteien oder Instituti­onen in Anmerkungen erklärt und mit einer kundigen Einführung einleitet.[1]

Zygmunt Bauman (geboren am 19. November 1925 in Poznan/Posen, Polen; gestorben am 9. Januar 2017 in Leeds, England) hat mit seinen zahlreichen Büchern die Gesellschaft und die Individuen in der Gegenwart analysiert und mit  Stichwörtern und Metaphern die Diskurse geprägt: die Postmoderne. So unterschied er die „schwere“ Moderne von der „leichten“ Postmoderne, die sich in einem „flüssigen Aggregatszustand“ befinde. Die Gegenwart sei gekennzeichnet durch heftige Anerkennungskämpfe von Identitäten, die sich je um ihr „Lagerfeuer“ versammeln.

Die „schwere“ Moderne hat ZB in seinen Jahren bis 1971 erlebt. Als Kind im (als Ergebnis des Ersten Weltkriegs) neu gebildeten Nationalstaat Polen machten die Mitmenschen ihn zu einem doppelten Außenseiter, dass er so dick war, weil seine lebhafte Mutter so vorzüglich kochte, und sein Jude-Sein, zumal die Familie in einem Viertel wohnte, wo sie die einzigen Juden waren. Kaum beim Spielen, schon gar nicht sportlich, vergrub er sich in Bücher. Nur dank seiner geistigen Begabung schaffte er es aufs Gymnasium, das nur zwei Plätze für jüdi­sche Schüler anbot. 1939, als die Deutschen Polen überfielen, flohen die Baumans so schnell es ging in den Osten Polens in der Hoffnung, sie könnten in die Sowjetunion einreisen, was schließlich unter großen Mühen gelang. Dank der Kochkunst der Mutter wurde sie an den vielen Orten, die sie immer wieder verlassen und neue suchen mussten, schnell zu einer ge­fragten Küchenchefin, während der Vater, schweigsam und in ungeliebten Berufen, mühsam Arbeit fand. Zygmunt fand Anschluss nicht in der Schule, wohl aber erst in einer zionisti­schen Jugendgruppe, dann an den Komosol und wurde zum überzeugten Sozialisten. Freilich erlebte er den real existierenden Sozialismus in aller Schwere, auch dann als er schließlich wieder studieren, promovieren und als Professor lehren konnte. Seine Stellung in der Armee und in der Partei halfen zur Karriere, erlegt ihm aber auch Aufgaben in den Weg, die er ungern übernehmen musste. „Meine Enkel und jungen Freude fragen mich, wie konntest du nach allem, was du durchlebt hattest, und allem, was du wusstest, wieder den Sozialismus aufbauen, und das auch noch in deinem eigenen Land?“ „Ein Ereignis jagt das nächste, in schwindelerregendem Tempo, ohne Atempause, ohne Raum für Reflexion; […] unmöglich zwischen ‚was mir zustieß‘ und ‚was ich getan habe‘ zu unterscheiden.“ (168). Im Kapitel Reifung stellt ZB die Scherzfrage: Worin unterscheidet sich ein Kommunist von einem Apfel? Die Antwort lautete: Der Apfel fällt, wenn er reif ist. Der Kommunist hingegen reift, wenn er fällt. „Wie wäre mein Leben verlaufen, wie hätte sich mein Bewusstsein entwickelt, wie wäre es gereift, wenn ich nicht ‚gefallen‘ wäre – oder genauer, wenn man mich nicht zum Fallen gebracht hätte?“ (180). Das Fallen kam etwas später, wurde aber zunächst durch das Ende des Stalinismus gebremst, dann nahm es wieder Fahrt auf durch ZBs Veröffentlichungen in der Absicht einer Reform des Kommunismus bis hin zum ‚Prager Frühling‘. Einen den Men­schen zugewandten Reformkommunismus ertrugen die Parteibonzen aber nicht, der ihre Bereicherung und Privilegien offen anprangerte. Panzer in Prag; Provokationen und Fallen des Geheimdienstes in Warschau wurde immer heimtückischer (190-198), so dass ein Arbei­ten an der Universität nicht mehr möglich war, Bauman und seine Frau Jasia verließen Polen. Dass sie zunächst nach Israel auswanderten, bevor ZB an der Universität von Leeds in England eine Professur erhielt, ist nicht erzählt, wohl aber, dass auch der israelische Geheim­dienst ihn und seinen Schwiegersohn im Visier hatten, letzterer ein Anwalt, der sich gegen staatliche Gewalt und parteiliche Gerichte in Israel engagiert (197f).

Kapitel 1 und Kapitel 5 reflektieren das Jude- und Pole-Sein, nicht als Alternative, sondern je in ihrer komplexen Identifizierung, Distanzierung und persönlichen Identifizierung. Jeder habe das Recht über seine Zugehörigkeit und die Art und Weise, wie er auf diesem Planeten leben möchte, selbst bestimmen zu können. Kurz: „Ich hasse Herden“ (46) sagt der Intellek­tuelle ZB. „Ich habe mein Polentum außer Land geschmuggelt.“ (204). Kapitel 6 beschreibt das Wiederaufleben von Nationalismus und autoritäre Herrschaft im Polen der PiS Partei (vgl. Anm. 6, S. 261: „vor den Wahlen im Oktober 2023, bei der die amtierende Regierung der PiS.Partei ihre Mehrheit verlor.“ Vgl. auch Anm. 62, S. 294). Der Religion gesteht er zu, dass sich Menschen auf der Suche nach Wahrheit irren können. Das habe Papst Johannes Paul II. eröffnet und so die Polen zur Befreiung vom Kommunismus ermutigt, während die jetzige Regierung in Polen (die PIS) religionisierte Politik betreibe (240f).

Die Texte sind über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren entstanden. Sie sind keine durch­erzählte Autobiographie, enthalten immer wieder Reflexionen, das Jüdisch-Sein ist ein durchgehendes Thema, aber auch die Utopie des Sozialismus bleibt ein Ziel. Insofern kann man die Kapitel Fragmente nennen, aber er versteht sein Leben nicht als „Fragmente meines Lebens“. Der deutsche Titel scheint mir nicht gut gewählt und trifft nicht den englischen Titel. Seine Frau Janina (Jasia) Bauman hat eine Autobiographie ihrer Jugend geschrieben: Als Mädchen im Warschauer Ghetto: ein Überlebensbericht.[2] Im Unterschied zu Zygmunt hat ihre Familie den Terror und die Morde der Shoa erlitten. Für Zygmunt brachte die Liebe und Ehe mit seiner Frau eine Erschütterung hervor über den Zusammenhang der schweren Moderne und der Shoa, die er im Buch Modernity and the Holocaust bearbeitete.[3] Er erzählt auch die Erfahrung seiner Frau nach der Befreiung von der NS-Besatzung: Als sie im öffentlichen Nahverkehr fuhr, schlug sie nicht mehr die Augen nieder, wie sie es jahrelang getan hatte, um nicht aufzufallen. Sie hörte aber einen Mitfahrenden sagen: ‚Unglaublich! Manche von ihnen sind übrig geblieben. Die deutschen Stümper haben nicht alle vergast.‘ Er sagte das laut in der Erwartung, dass keiner der Mitpassagiere protestieren würde (162).[4]

 

Bremen/Wellerscheid, September 2024                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Izabela Wagner hat eine Biographie verfasst: Bauman: A Biography. Cambridge 2020.

[2] Janina Bauman: Als Mädchen im Warschauer Ghetto: ein Überlebensbericht. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1986, 1995. Englisches Original: Winter in the morning: a young girl’s life in the Warsaw ghetto and beyond 1939-1945.  London: Virago, 1986. Janina Baumann lebte 1926-2009.

[3] Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust. Cambridge: Polity Press 1989, 2008. Deutsch: Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, 2021. – Dazu:

Jack Dominic Palmer; Dariusz Brzeziński (Hrsg.): Revisiting Modernity and the Holocaust: heritage, dilemmas, extensions. – Abingdon, Oxon.: Routledge 2022.

[4] Zur Judenfeindlichkeit, Pogromen und Antisemitismus im Polen nach 1945 s. den Bildband Malgorzata Niezabitowska; Tomasz Tomaszewski: Die letzten Juden in Polen. Schaffhausen: Ed. Stemmle 1987.

Auffarth: Opfer

 

Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023.

251 Seiten.
ISBN 978-3-666-55465-0.

 

Das Ende des Opfers:
Der Mythos vom Ende der Gewalt in der Europäischen Religionsgeschichte

Eine Selbstvorstellung von Christoph Auffarth (s. Anm. 1)

„Opfer“ ist ein Wort, das wir alltäglich hören, sehen, lesen. Empathie ruft es hervor, wenn aus Zahlen (Hunderte oder waren es Tausende, die im Mittelmeer ertrinken?) das Schicksal von Einzelnen mit ihrer Geschichte wird. Dabei ist die heutige Bedeutung des Wortes (Kapitel 1) eine Zuspitzung, den sie im Laufe der Europäischen Religionsgeschichte erfahren hat. Dieser Geschichte geht das Buch nach, indem es die Epochen vergleicht, in denen Opfer als Ritual praktiziert wurden, mit den Bedeutungsänderungen, wenn Opfer als Metapher gebraucht wird, die keine Realität des Rituals mehr kennt. „Das Ende des Opfers“ ist daher der zentrale Wendepunkt in meiner Geschichtserzählung. In der Diskussion der Forscher um die Frage, was macht die Moderne aus, wird das Opfer zur Obsession der Moderne. Der Stolz, das Opfer überwunden zu haben, bringt die Religion auf die Anklagebank, Gewalt zu erzeugen, während die Moderne Gewalt überwunden habe: Welch eine Illusion! Denn im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert erzeugen Kriege, der Verkehr, der Fortschritt, die menschen-erzeugte Katastrophe unserer Lebenswelt, die Atomkraft mehr Opfer an Menschen und die Schlachthöfe mehr Tiere als je zuvor. Die Kriege für die Entstehung der Nationen im 19. Jahrhundert verlangen Menschenleben, die mit dem ‚Opfer am Altar des Vaterlandes‘ den gewaltsamen Tod zu einer positiven Gabe für die Gemeinschaft täuschend verkehren: die Nationalreligion. Um ein Vielfaches gesteigert wird das verführende Wort, wenn alle, die nicht zum Volk gehören, die angeblich das Volk bedrohen durch ihre Andersheit, ermordet werden: der Genozid und das unvergleichliche Verbrechen der Shoah. Die Opfer sind schuld, nicht die Täter.

Die Suche nach einem Denkmal in der neuen Hauptstadt Berlin ‚für die Opfer des Nationalsozialis­mus und der Kriege‘ führte zu einer erbitterten Diskussion. Bei Staatsbesuchen gibt es ein Ritual der Ehrung für die Toten: des unbekannten Soldaten oder sonst ein Militär; seit dem Zweiten Welt­krieg kam allmählich das Bewusstsein auf, dass im ‚Totalen Krieg‘, beim ‚Moral Bombing‘ Zivilisten zu Opfern werden. Der Bundeskanzler ‚der Einheit‘, Helmut Kohl wollte eine Plastik der Künstlerin Käthe Kollwitz zum Denk­mal wählen, allerdings die 40 cm große Plastik um das Vierfache vergrößert. Sie zeigt eine Mutter, die in ihrem Schoß um ihren toten Sohn, einen Soldaten, trauert.[2] Reinhart Koselleck, selbst Kriegsteilnehmer und nun in ein Beratergremium gewählt, das aber nur Feigenblatt-Funktion hatte, protestierte in Zeitungsbeiträgen.

Das alles ist im Kapitel 8 (197-228) meines Buches als eine Entwicklung beschrieben, zu der die Europäische Religionsgeschichte[3] den Entwicklungspfad[4] bildet. Wie kam es zu diesem Entwicklungspfad? Die christliche Einengung des Opfers auf den Opfertod Jesu führt zu zwei Konsequenzen: (1) Der gewaltsame Tod ‚stellvertretend für andere‘ ist das Ideal für alle Christen (also auch für Franzosen für Franzosen im Krieg)[5] und akzeptiert ‚das Leben als Leiden‘. (2) Im Hebräerbrief des Neuen Testaments ist Christus gleichzeitig der Opfernde (Hohepriester) als auch das Opfertier. Das Unmögliche, gleichzeitig passiv Getöteter als auch aktiv sakral Tötender zu sein, ermöglicht  den christlichen Soldaten: Er opfert sich für den Glauben/den nationalen Gott und er tötet andere, um die Seinen zu schützen! In der konfessionellen Trennung wird das ‚Opfer‘ der Unterschied. Katholiken betonen das metaphorische Ritual, Protestanten bestreiten die Wirkung des ‚Rituals‘ (ex opere operato)[6] (Kapitel 7, S. 167-196).

Die historische Rückerinnerung trifft auf das „Ende des Opfers“, auf die Spätantike. Dies ist ein zentrales Kapitel (Kapitel 6, S. 133-166) der Metamorphose vom Opfer-Ritual zur Opfer-Metapher, weil es zeigt, dass das ‚Ende des Opfers‘ (des Opferrituals) auf alle religiösen Traditionen zutrifft. Alle lehnen der Opferritual ab: nicht nur Juden, deren Tempel zerstört, aber die die Bibellesung in der Synagoge gleichwertig feiern.[7] Christen feiern kurzfristig noch das jüdische Opfer am Jerusalemer Tempel, polemisieren dann aber gegen das ‚heidnische‘ Opfer. Nur, auch die ‚Heiden‘ lehnen das Opferritual als Tötung von Tieren als barbarisches Ritual mehr und mehr ab. Kaiser vermeiden das öffentliche Opfer, weil die Spezialisten, die die Leber des Opfertiers ‚lesen‘ , darin den baldigen Tod des Herrschers wahrsagen könnten. Ihre Macht wäre dahin. Das Ende des Opfers erfordert eine umfassende Mutation von Religion, eine „Achsenzeit“.[8]

Diesen drei Entwicklungen der Religionsgeschichte (Moderne mit der National­religion, christliches ‚Selbstopfer‘, Ende des Opfers in der Spätantike) stelle ich ent­gegen die Religionen des praktizierten Opferrituals, die ich aus eigenen Forschungen kenne: die antik-griechische Art des Opferns, u.a. mit dem einzigartigen Ritual des ‚Ochsen-Mords‘ (der Bouphonia. Kapitel 4, S. 79-108). Die Transformation des in der Hebräischen Bibel beschriebenen Opfercodex bis zum ‚Selbstopfer‘ Christi im Hebräerbrief. (Kapitel 5, S. 109-132).

Ein weiteres zentrales Kapitel aber bietet Das Opfer als Gabe. In dem Kapitel 3 (S. 63-78) weite ich das Thema vom Opfer als blutigem Tieropfer, ja Menschenopfer auf die Weite und die soziale Bedeutung in opfernden Gesellschaften, auf die Gabe. Das Opfer ist nicht nur ein Geschenk an die Götter, eine Kommunikation mit den Göttern (die eine fiktionale Erzählung bleibt), sondern auch mit den Menschen, die man soziologisch beschreiben kann. Als Dreieck gewinnt die Graphik eine neue Plausibilität: Was einerseits eine materielle Einbuße für die Gebenden bedeutet, ist gegenüber der Gottheit ein – nur erhoffter[9] – Gewinn, sicher aber gewinnt man soziales Kapital (Anerkennung) in der Gemeinschaft und wird beim nächsten Opfer eingeladen werden, wird also von der Gabe, die nun andere ausgeben, einen Teil (zurück) bekommen.

 

Abb. 1 (aus meinem Buch): Konfiguration des Opfervorgang (S. 18)

Kapitel 1 diskutiert die Semantik des Wortes Opfer/sacrificium/victima und die These von der Höherentwicklung der Kultur. Kapitel 2 stellt gegeneinander die festliche Mahlzeit, zu der Gott einlädt (eine Idee von Julius Wellhausen, 1844-1918), während seine Zeitgenossen im Viktorianischen England W. Robertson Smith, James Frazer u.a. die Gewalt hervorhoben und die Illusion des Opfers, was Sigmund Freud übernahm für seinen Mythos vom Vatermord des Ödipus in Totem und Tabu 1912/13.

Das Buch des Religionswissenschaftlers Christoph Auffarth bietet in dichter Darstellung ein umfassendes Bild der Entwicklung der Europäischen Religions­geschichte am Leitfaden des Opfers vom Alten Orient, dem Alten Israel, über die griechisch-römische Antike und das christliche Zeitalter[10] bis zur (vermeintlich säkularen)[11] Moderne. Die Ausrufung des ‚Endes des Opfers‘, der Gewalt im blutigen Opfer‘ und stattdessen des endgültig, abschließenden christlichen vergisst aber (1) den Fleischkonsum, wenn er nicht mehr sakral reduziert ist und (2) sakral ausgeweitet ist als Menschenopfer im Krieg bis hin zur Shoah und den Genoziden der Moderne.

Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
an der Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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Abb. 6.2 (S. 151) Die Grafik soll zeigen, wie das (frühe) Christentum einerseits aus dem Opferritual herausfällt mit der Ablehnung des blutigen Opfers, andrerseits andere, die kleinen Opfer weiter praktizierte.

Handlung mit welcher Materie? Klassische Kulte Antike Christen Weitere Entwick­lung jüdischer/ christlicher Gottesdienste
Tiere schlachten Rinder Schafe/ Ziegen Ferkel/ Schweine Tauben

 

Im Heiligtum: Geschlachtet und verspeist: Altar (Olympisches O.) – Oder ganz verbrannt oder versenkt. (Chthonisches O.)   Keine kultischen O. auf dem Altar. [Chr. profane Schlachtung. – Jüdisch, geschlachtet nach religiösen Regeln („kosher“)]
Weihungen/ Gaben Etwas zu essen. Modelle aus Ton aufgestellt Modelle aus Ton: Tiere, Beter. Menschl. Glieder Menschliche Glieder aus Wachs
Votive aufstellen Haus für Gott. Götterbilder (Holz, Metall) Edelsteine Münzen Tempelbauten

 

 

 

Geld-Opfer

Ikonen, Apsis-gemälde, Mosaiken ex votos.

Geld-Opfer

Geld „für die Armen“
Libation (Flüssiges) vergossen/ getrunken Wein Milch Honig Wein Milch Honig Wein [metaphorisch: Blut] Brot [metaphorisch: Fleisch] + Agape-Essen Wein und

 

 

 

Brot

Gemeinsames Essen Brot, Fleisch, Oliven, Feigen Brot, Fleisch, Oliven, Feigen
Licht anzünden Lampen mit Öl, Fackeln Lampen mit Öl, Fackeln Lampen mit Öl, Kerzen Lampen mit Öl, Kerzen
Wohlgeruch räuchern Duftrauch Fettdampf des Opfertiers Weihrauch vor den Bildern, bes. des Kaisers Weihrauch Weihrauch vor den Ikonen der Heiligen 

 

[1] Auf Englisch abrufbar: a self-introduction to my German book in English (99+) Auffarth, Opfer: | Christoph Auffarth – Academia.edu (12.08.2024).

[2] Ich habe fälschlich die Statue dem Künstler Ernst Barlach zugeschrieben. Empört über Kohls Entscheidung ereiferte sich der Historiker Reinhart Koselleck: Im Lande der Täter müsste es ein anderes Denkmal geben als dieses, das Rollen festschrieb (trauernde Mutter, getöteter Soldat) und vor allem ein typisch christliches Motiv für alle ‚Opfer des Nationalsozialismus und der Kriege‘ wählte: Maria beweint ihren toten Sohn Jesus, den vom Kreuz abgenommenen Retter der Welt (die Pietà). Vgl. die Rezension Auffarth, Wie wird aus Erfahrung und Erinnerung Geschichte? Zu Reinhart Kosellecks Konzeptionen: Reinhart Koselleck: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung. 2023. Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen 2023 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/09/19/reinhart-koselleck-geschichtskonzeptionen/ (19. Sept. 2023).

[3] Europäische Religionsgeschichte unterscheidet sich von Christentumsgeschichte oder Kirchenge­schichte, indem auch andere Akteure die Religionsgeschichte gestalten, die nicht ‚religiös‘ definiert sind, also Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, aber auch Atheismus, Marxismus, Feminismus etc. Das Prinzip der ‚mitlaufenden Alternativen‘ hat Burkhard Gladigow 1995 entworfen: „Europäische Religionsgeschichte“, in: Hans G. Kippenberg; Brigitte Luchesi (Hrsg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, 21–42. Repr. in Ders.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2005, 289–301. Eine Alternative hat Helmut Zander entwickelt, vgl. meine Rezension dazu: Auffarth, Helmut Zander: ‚Europäische‘ Religionsgeschichte. Religiöse Zughörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich. In: Religious Studies Review 44.1 (2018), 101f.

[4] Mit Max Weber sprach man von „Okzidentaler Entwicklung“ als der am weitesten fortgeschrittenen Entwicklung („Moderne“, „modernity“), der früher oder später die anderen Kulturen würden folgen. Später sprach man von „Sonderweg“. Dann kam die Erkenntnis, dass es keine Fortschritts-Linie gibt, die für alle gleich ist. „Multiple  modernities“ erkannte Shmuel  Eisenstadt von der Perspektive von Jerusalem aus, einst der Nabel der Welt. „Entwicklungspfad“ bedeutet, dass jede Kultur ihre Entwicklung nimmt, indem sie durch eigene Umstände (wie wirtschaftliche, soziale und kulturellen Besonderheiten) eine neue Stufe erreicht, die dann neue Bedingungen schafft (die nicht die gleichen einer anderen Kultur sind), von denen sie sich weiter entwickelt: jede nimmt ihren eigenen Pfad.

[5] Das hat Guy Stroumsa großartig für den französischen Juden Robert Hertz und seinen Lehrer Èmile Durkheim herausgearbeitet (Intellectual 2021 [wie Anm. 7], 19-28). Das christliche Ideal des Opfertods nimmt der jüdische Vater im Ersten Weltkrieg für sein kleines Kind auf sich.

[6] ‚Das Ritual wirkt‘, egal ob man daran glaubt oder nicht.

[7] Guy Stroumsa hat in 2005 das für die Rolle des Rabbi und den Talmud beschrieben, Zunächst aber nicht für die anderen religiösen Traditionen der Spätantike. Auffarth:  Ende des Opfers – eine jüdische Perspektive. Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spät­antike, 2011. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/12/30/das-ende-des-opferkults-die-religiosen-mutationen-der-spatantike-von-guy-g-stroumsa/ (30.12.2011). Dann aber erweitert er die Perspektive im Essay La fin du sacrifice revisited: Meine Rezensionen Auffarth: Jenseits des Eurozentrismus: Der Weltbürger Guy Stroumsa erschließt intellektuelle Blicke auf Religion und die Achsenzeit in der Spätantike: Guy Stroumsa: The Crucible of Religion in Late Antiquity. Selected Essays. (STAC 124) Tübingen: Mohr Siebeck 2021. Guy Stroumsa: Religion as Intellectual Challenge in the Long Twentieth Century. Selected Essays. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/04/27/stroumsa-religion/ (28. April 2023).

[8] Das Konzept hat Jan Assmann genealogisch hergeleitet, vor Karl Jaspers und Shmuel Eisenstadt. Guy Stroumsa hat das zunächst für das (rabbinische) Judentum beschrieben La fin du sacrifice 2005, dann – nach meinen Rezensionen – für alle religiöse Traditionen der Spätantike La fin du sacrifice reviseted in: GS:Crucible 2021 (wie Anm. 7), 151-162.

[9] Das dafür verwendete lateinische Wort do ut des „Ich gebe, damit Du gibst“ unterstellt den antiken Menschen, dass sie in der Absicht opfern, damit sie dank der Großzügigkeit der Gottheit etwas (mehr) zurück erhalten. In der Gabenökonomie (die ich in dem Kapitel erkläre) ist die Gabe/Opfer aber kein Tauschgeschäft, sondern Reziprozität , wechselseitige Anerkennung des sozialen Status.

[10] Die Kontinuität des Opferns im Christentum trotz der scharfen Ablehnung des blutigen (Tier-) Opfers habe ich in der unten stehenden Grafik entwickelt.

[11] In einem neuen Buch erklären Lorenz Trein und ich, dass die Alternative das Säkulare/das Religiöse keinen Gegensatz darstellt: „Ein systematischer Aufriss“, in: Lorenz Trein; Christoph Auffarth (Hrsg.): Säkulare Religion. Ein Beitrag zur Säkularisierungs­debatte. (Religion: Debatten und Reflexionen 3) Tübingen: Mohr Siebeck 2024.

 

Die Reformation – konfessionssensibel?

Wenn ich über Martin Luther in der Schule spreche, sollte dies immer konfessionssensibel geschehen. Wie ich das machen kann, lest ihr hier!

Aber bitte gerne doch!

Warum gibt es überhaupt (noch) zwei Konfessionen?

Oft kommen solche Fragen im Unterricht auf:

  • Wieso haben wir zwei Kirchen?
  • Warum gibt es zwei Gruppen und Lehrkräfte in Religion?
  • Warum feiern die einen Kommunion und die anderen Konfirmation?

Daran ist nur einer „Schuld“: Martin Luther! Eine weitergehende Frage ist:

Warum besteht diese Trennung eigentlich immer noch?

Wir haben uns doch angenähert, viele Streitpunkte wurden ausgeräumt.

In diesem Beitrag werden beide Konfessionen betrachtet – ohne sie gegeneinander abzuwägen oder eine für besser als die andere zu erachten. Besonders in konfessions-kooperativen Klassen ist es wichtig, nicht einseitig zu berichten. Das ist ganz einfach, wenn wir eine andere Person hinzuziehen: Johann von Staupitz! Diese geniale Idee haben sich Horst Heller und Stefan Schwarzmüller ausgedacht:

Johann von Staupitz: Ein Freund Luthers, der katholisch blieb

Johann war Luthers Seelsorger und väterlicher Freund in Erfurt. Er blieb trotz aller Sympathie für Luthers Idee katholisch. Seine Streitpunkte:

  • die maßlose Kritik Luthers am Papsttum
  • die Abendmahlstheologie
  • und Luthers Eheschließung
  • sowie die Verehrung der Heiligen (Luther lehnte es ab, die Heiligen anzurufen)

Es gab also Menschen, die Luthers Idee nachvollziehen, aber ihm nicht folgen wollten. So blieben sie also katholisch.

Das moderne katholische Verständnis

Heute ist das kein Problem mehr, was damals von der katholischen Seite abgelehnt wurde:

  • der Gottesdienst darf in der deutschen Sprache abgehalten werden und die Bibel in der eigenen Muttersprache gelesen werden
  • auch die Erkenntnis Luthers „Allein durch Gottes Gnade kommen wir zu Gott“ – oder „die Versöhnung geht von Gott aus“, wird nicht mehr abgelehnt

Für Johann …

  • war der Papst nicht wegzudenken, denn er vertritt Jesus in der Welt und war wichtig für seinen Glauben.
  • war es wichtig, dass ein Priester nicht verheiratet ist und keine Kinder haben sollte, um sich auf seine Aufgabe voll und ganz konzentrieren zu können.
  • waren auch die Heiligen wichtig. Er sah sie als ein Vorbild und er konnte sie bitten, ihm zu helfen. Luther waren die Heiligen einfach nicht so wichtig – und so verschwanden sie nach und nach aus den evangelischen Kirchen.

Festhalten – aber auch Veränderung

Viele Menschen hielten am alten Glauben fest. Das waren die Katholiken. Andere nahmen den evangelischen Glauben an. Daraus entstand die Evangelische Kirche.

Doch Johann und viele andere erkannten: Die katholische Kirche muss auch einiges verändern. So bewirkte Luthers Reformation vielfältige Anstöße …

Durch den Fokuswechsel (von Martin auf Johann) ist eine gemeinsame Gesprächsgrundlage geschaffen, die Martin Luther nicht verherrlicht oder komplett ablehnt.

Hier findet ihr noch den Artikel von Horst Heller zum Thema Luther & Johann von Staupitz!

Das Böse

New Book from PILGRIM

Hisch, J., Kubiak, P. & Wogowitsch, C. (eds.) (2024):
PILGRIM in Dialogue with Sustainability and Spirituality.
PILGRIM Compendium. PILGRIM-Own Edition: Poland.
ISBN 978-3-9519752-1-4    Information at office@pilgrim.at

The basic intention of the International Education Network PILGRIM is to link the topic of sustainability with the ethical-philosophical-religious dimension of education. This edition presents the content and actions of PILGRIM and explains its pedagogy. In addition, the publication also provides the organisational framework from which PILGRIM proceeds. In addition, the relevant texts are cited as well as spiritual texts from certification events in recent years.

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