Neuwirth Koran 2/1

Der Koran. Handkommentar mit Übersetzung von Angelika Neuwirth.

Band 2/1: Frühmittelmekkanische Suren:
Das neue Gottesvolk: »Biblisierung« des altarabischen Weltbildes.

Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2017.

708 Seiten.
ISBN 978-3-458-70039-5.

 

Die unverzichtbare Erklärung des Koran

von Angelika Neuwirth, zweiter Teil

 

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Dringend erwartet erfüllt, übertrifft der zweite Band des Handkommentars zum Koran von Angelika Neuwirth alle Erwartungen: Zugang zum Originaltext auch für nicht des Arabischen Mächtige, präzise Kontextualisierung, knappe, aber umfassende Erschlie­ßung des Inhalts und der Bedeutung der Suren in ihrem zeitlichen Zusammenhang.

Ausführlich: Dieses Mittel zum Studium des Koran ist dringend notwendig.[1] Wer nicht des Arabischen mächtig ist, war bisher auf Übersetzungen angewiesen und die Erklärungen des Übersetzers bzw. der Übersetzerin: wörtlich-scharf, vermittelnd, blumig. Der Zugang zur Original­sprache ist in Angelika Neuwirths Kommentar jetzt eröffnet durch die Umschrift des Origi­naltextes, einer scharfen Übersetzung, der Erklärung über die Entstehung des Textes („Text­kritik“), sowohl in der chronologischen Abfolge der Suren als auch in den wahrschein­lichen Zusätzen (701-704 noch einmal verzeichnet), dann eine Gliederung der Sure („Kom­positi­on“), im Kommentar erst die Erklärung der Einzelverse mit dem Verweis auf mögliche inter­textuelle Kenntnisse und Anspielungen.[2] Diese werden gesammelt in den Texten aus der Umwelt des Koran.[3] Weiter geht sie nach, wie ähnliche Fragen in anderen Suren behandelt werden. Diese Erklärung mündet in dem Abschnitt „Analyse und Deutung“: AN ordnet die Sure ein unter den anderen Suren (im Wesentlichen beruht die angenommene Chronologie auf der von Nöldeke [1860]),[4] eine lokale Bestimmung, etwa des geographischen Umkreises von Sure 50. Es folgt die Bedeutung der in der Sure verhandelten Inhalte und deren Struktur. In Sure 50 (um diese als Beispiel zu nehmen) geht es um Tod und Sterben, das mit Gottes Gericht verbunden wird. Noch gilt die stammesgeschichtliche Tugend, dass freigiebige Unterstützung durch Almosen vor dem ewigen Tod hilft (vgl. Einleitung 27f).  Der Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit fehlt noch. Dazu gehören später zwei Elemente, die hier noch nicht zu finden sind: (1) Der Tod ist ein Übergang, nicht das Ende, dem nur Heroen entkommen. (2) Die Abrechnung im Gericht mit der anschließenden Beloh­nung und Bestrafung. Von diesen beiden leitet sich dann ab, dass schon vor dem Gericht, also im Leben, eine soziale und kari­ta­tive Verantwortung und soziale Gerechtigkeit gelten muss. Abgeschlossen wird der Kom­men­tar je zu der Sure mit der speziell diese Sure erklärenden Literatur. ANs Erklärungen sind knapp (Handkommentar), aber genau auf den Punkt des Arguments. Sie  verfügt souverän über die exegetischen Kompeten­zen der Bibel­wissenschaft und fährt die Früchte einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der arabischen Literatur und Auslegungsge­schichte (nicht nur westlicher Wissenschaftler), die sie aber nicht ausbreitet (oder gar durch Kritik an anderen Wissenschaftlern ihre eigene Leistung hervor­heben würde), sondern nur so viel, um den Leser nachprüfbar ihr Argument erklären zu können. Und das kann sie auch deshalb, weil dahinter das von ihr aufgebaute Gemein­schaftswerk des Corpus Coranicum die Fülle des Wissbaren und viel noch nicht Gewussten ausbreitet.

AN besteht darauf, qur’an mit „Lesung“ (291) zu übersetzen, übernimmt also nicht die These von Reinhard Schulze auf, der Lesung müsse der „Prophetenruf“ voraus gegangen sein.[5] Das würde ihrer Erklärung widersprechen, dass der Koran als spätantiker Text keinen ‚Autor‘ hat (mit den entsprechenden transzendenten Inspirationsquellen, die nicht kritisch betrachtet werden dürfen), sondern ein spätantiker Text sei, der im Wesentlichen in zwei Jahrzehnten in Gottesdiensten entstanden sei.[6] Diese These zeigt AN jetzt an der „Biblisie­rung“ des altarabischen Weltbildes in den früh-mittel-mekkanischen Suren. – Die Fülle der Einleitung (21-81) will ich hier nicht  noch einmal komprimieren. Neben dem Prophetenan­spruch gemeinsam mit der Gemeinde als Resonanz (daher jeweils der Abschnitt im Kom­mentar „Sprecher-Hörer-Interaktion“) stellt AN heraus den Gottesbund und die Konzeption der Transzendenz. Mündlichkeit, liturgische Verfestigung und Komposition der Verschrift­lichung greifen ineinander vom offenen zum geschlossenen Text (37-41). Die wesentlich längeren Suren als die kurzen Gebetsrufe und Preisungen der frühmekkanischen Suren (die vielfach Psalmen aufgreifen) enthalten Relektüren der älteren Suren mit Erzähl­teilen und diskursiven Partien, die AN als Liturgien mit Lesungen und Predigtelementen identifiziert. Die Auseinandersetzung mit Kritikern und Altgläubigen wird als Wechselrede in die Ge­mein­de hineingestellt und zur Entscheidung, zur Identitätsbildung aufgerufen.

12 Suren sind zu den 43 (sehr kurzen frühmekkanischen) Suren des ersten Bandes hinzuge­kommen: Neben der Einleitungs-Sure 1 die Suren 54, 37, 15, 50, 20, 26, 71, 44, 44, 76, 38, 19. Der zweite Teil des Bandes wird die zehn Suren 36, 18, 17, 43, 72, 67, 23, 25, 21 enthalten. Sure 20 etwa umfasst in Parets Übersetzung 7 Seiten, Sure 2, die längste mit 27 Seiten, wartet noch auf die Kommentierung. Wir wünschen der Autorin die Kraft und Gesundheit – nicht nur, aber auch – dafür, dass  sie diesen Kommentar in der Schärfe und Fülle der Erkenntnis zu Ende führen kann. Ein Band wie der vorliegende in seiner Genauigkeit und Erklärungs­mächtigkeit braucht viel Kraft (und die Zeit, die der zweite nach dem ersten von 2011 brauch­te). Der Band war im Verlag wieder hervorragend betreut durch Claus-Jürgen Thornton mit den Indices, darunter ein Sachverzeichnis.

Bremen/Wellerscheid 17. 1. 2019                                                       Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen 

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Rezension des ersten Bandes: Christoph Auffarth: Endlich: ein Kommentar zum Koran. Der Koran – Handkommentar mit Übersetzung von Angelika Neuwirth. Bd. 1: Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011 [Link folgt]

[2] AN hat diese Verbindungen zu älteren Texten – sie nennt sie Praetexte, von Lateinisch prae „vorher“ – statt ‚abgekupfert‘ als kreative Auseinandersetzung mit jüdisch-biblischen und christlich-biblischen, vor allem aber auch apokryphen Traditionen erklärt und damit dem Herausarbeiten eines eigenen Standpunktes im Wissen um die Traditionen in den anderen Gemeinden. Da man keine Bibliotheken voraussetzen kann, in denen solche Texte dem Verfasser oder Bearbeiter genau zu zitieren möglich wäre, spricht sie von einem gemeinsamen Denkraum der Spätantike (vgl. S. 10). Zu Al-Azmeh, der die arabische Tradition betont, zustimmend AN 11, Anm. 7.

[3] Abgekürzt TUK. Das Unternehmen ist im Aufbau und erscheint im Internet https://corpuscoranicum.de/kontexte/uebersicht. Es unterscheidet sich von seinen Vorbildern wie TUAT Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (Nachdruck ist für 2019 angekündigt; die Neue Folge hat bislang 8 Bände.) oder ACA Antike christliche Apokryphen. Vgl. die Rezensionen auf dieser Internet­seite CA: . http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/06/06/markschiesantike-christliche-apokryphen/(6.6.2013). Die Texte sind in Originalspra­che und dt./engl. Über­setzung nicht als Volltexte, sondern als in dem Umfang dargeboten, dass man den – möglichen – Praetext verglei­chen kann, der für einen bestimmten Surenvers bekannt sein kann. (Von dieser Zuord­nung bei Strack-Billerbeck etwa, war schon dessen Vierter Band zur Eschatologie abgekommen).

[4] Würdigung und Kritik S. 30-37. Die Aufteilung des Bandes zu den mittelmekkanischen Suren in zwei Teile ist also nicht nur eine Frage der Handhabbarkeit, sondern auch eine neue Differenzierung.

[5] Dazu C.A.: Die Entstehung des Koran und die Genealogie des Islam. Reinhard Schulze, Genealogie des Koran 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/01/07/schulze-der-koran-und-die-genealogie-des-islam/ (7.1.2017). In der Einleitung sagt AN: „Erst in Mittelmekka erhält die Prophetie diese besondere Gewichtung.“ 25 Anm. 9. Und der Abschnitt „Jenseits des Propheten­anspruchs“ S. 61-67. Aber auch S. 46 „In der Tat ist die Idee der Prophetie die schärfste Waffe, die der Koran gegen die pagane Vielgöt­terei … ins Feld führt.“

[6] In dem großartigen Buch vorgestellt, das (wohl sehr zugespitzt) anderen Entstehungsgeschichten widerspricht AN: Der Koran als Text der Spätantike. 2010. Meine Rezension: Der Koran – als historisch-spätantiker Text gelesen und erklärt: Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike 2010.  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/.   

 

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