Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel. Herausgegeben von Frank Crüsemann, Kristian Hungar, Claudia Janssen, Rainer Kessler und Luise Schottroff.

Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel

Herausgeber Frank Crüsemann, Kristian Hungar; Claudia Janssen; Rainer Kessler; Luise Schottroff.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009 [XII, 775 S.]
Illustrationen – Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat eine Lizenzausgabe für ihre Mitglieder gedruckt

 

1) Sozialgeschichte als die fundamentalen historischen Bedingungen von ‚Gottes Wort’

  1. In den siebziger Jahren (also in Gefolge der Achtundzechziger) erreichte auch die Theologie eine Einsicht, dass man die Bibel nicht historisch-kritisch lesen kann mit dem Ziel das Historische abstrahieren zu können und dann das Wort Gottes seiner historischen Begrenzungen und Bedingungen entledigt lesen zu können. Der beamtete und lebensversicherte Pastor versteht den freiwillig Armen, haus- und familienlosen Nachfolger Jesu mit seiner akuten Nahewartung, entmythologisiert, weil es nur um den Skopos der Texte geht.
  2. Die sozialgeschichtliche Auslegung hielt dem entgegen, dass Gott zu Menschen spricht in ihren elementaren Bedürfnissen und Lebensbedingungen, dass es um soziale Gruppen in ihren Herrschaftsverhältnissen, um historische Veränderungen, um Mann oder Frau, um wirtschaftliche ‚Subsistenz’ (vom Hand in den Mund – und nicht mehr), um Nomaden oder Städter geht. Man kann das Wort Gottes nicht davon abstrahieren, nicht von seiner Parteinahme für bestimmte – und nicht immer die gleichen sozialen Gruppen. Dass die Tradition der in den Kanon der Bibel aufgenommenen Erzählungen, Hymnen, Gebete, Gesetzbücher, Tugendlehren durchaus eine Vielfalt, aber selten die Bestätigung der bestehenden Verhältnisse legitimiert: es geht um Gerechtigkeit. Frank Crüsemanns Tora-Buch, Luise Schottroffs Gleichnisauslegung, großartige Arbeiten sind entstanden.
  3. Mag man sie zunächst als marxistisch materialistisch verfemt haben und als atheistisch; längst ist die Perspektive unverzichtbarer Bestandteil geworden, die die Theologie verändert hat – der Widerspruch dagegen ist geblieben. Der Streit um die Bibel in gerechter Sprache (gleicher Verlag 2006), die genau dieses Problem auch in der sprachlichen Gestaltung verdeutlichen will, zeigt das Dilemma, wo es doch um eine notwendige Verbindung beider geht. Das Kompendium zu den Gleichnissen von Ruben Zimmermann (Rezension auf der gleichen web-Seite) hat diesen Doppelschritt konsequenter durchgeführt.

2) Autoren, Themen, Abgrenzungen

  1. Nun ist man gespannt auf die Bilanz nach vierzig Jahren Arbeit mit dieser Perspektive, in der Form eines Wörterbuchs, getragen von den alten ReckIn-nen (natürlich spielt die Genderperspektive eine wichtige Rolle); aber die Achtundsechziger haben Nachfolger mit veränderten Fragen und Antworten. Meine Strichliste über das Alter der 75 Autoren ergab eine sehr gute Mischung von Älteren und Jüngeren, von Frauen und Männern.
  2. Die Lemmata (also Artikel zu den Stichworten; griechisch neutrum singular: Lemma) behandeln, meist im Autoren-Gespann, die fundamentalen Lebensbedingungen erst in der hebräischen Bibel, dann die hellenistisch-römischen Verhältnisse; meist ist der rote Faden vom einen zum anderen Teil durchgeführt: in unterschiedlichen sprachlichen und historischen Kompetenzen das Problem gemeinsam behandelt. Die Bibel ist das Corpus, für das die Auskunft gegeben wird, kaum für außerkanonische Texte, ordentlich berücksichtig sind Qumran-Texte und rabbinische Stellen, praktisch nicht das Corpus hellenisti-cum (gleichzeitige griechische, nicht-jüdische Autoren – obwohl es Stellen gibt wie S. 4 zu Abtreibung, ein sehr wichtiger Artikel – aber nicht im Register verzeichnet). Das Stellenregister und ein Sachregister erleichtern die Suche.
  3. Mir selber würde ein systematischer Index helfen. Denn wo finde ich was in dem Sozialen Feld der „Abgaben“, „Steuern“, „Pacht“, „Eigentum“, „Bettler“ (nicht .Almosen), „Armut“, „Sklaven“? Oder das alltägliche Essen teilt sich in Kulturpflanzen, Wildpflanzen (aber das Negativwort Unkraut (unter dem Weizen) fehlt, nur der Dornstrauch der Jotam-Fabel findet Erwähnung), daneben Wein. Öl, Tiere kommen nicht eigens vor, nur als „nichtpflanzliche Nahrung“ (weil dort auch Honig und Salz behandelt sind) neben Nahrung pflanzlich, Nahrungszubereitung, Brot. Das Stichwort „Opfer“ ist zu sehr geleitet von theologischen Vorverständnissen, die sozialgeschichtliche kommt hier zu kurz. „Bild“ finde ich enttäuschend, weil 2000 Jahre differenzierter zu gliedern wären; die jüdische Entwicklung fehlt. Anderes aus dem Bereich der Kommunikation (Mündlichkeit/Schriftlichkeit; Schriftkultur usf.) ist vorzüglich und teils überraschend („Schimpfwörter“). Für Schifffahrt und anderes suchte ich vergeblich nach dem Grundlagenwerk von Horden/Purcell: The corrupting Sea (2000). Religiöse Bewegungen kümmert sich ausschließlich um das Judentum, nichts zu den Religionen im Hellenismus. Leider dort auch viele alte theologische Vorurteile. (s.v. „Altar“ dämonisierte Kultmähler).
  4. Meine Lieblingsstichwörter, weil dort der Mehrwert der Sozialgeschichte deutlich wird, sind „Auslösen/Erlösen“. „Raum“, „Brot“ von den materiellen Grundlagen bis zum Brot des Lebens, „Fremde Religionen“. Und aus vielen anderen habe ich Neues mitgenommen.
  5. Abbildungen in Form von Strickzeichnungen lassen Beschreibungen plastisch werden. Sehr wertvoll und für den Unterricht eine Fundgrube.

3) Benutzbarkeit

  1. Ein Lexikon ist eine sehr kondensierte Form, Ergebnisse von Wissenschaft zu präsentieren. Hier ist es ein Schlüssel zu Texten der Bibel, die man immer da-neben liegen haben muss, um nachzuschlagen. Der Text des Lexikons vervielfacht sich und will konzentriert in Verbindung mit anderen Büchern aufgenommen werden. Manchmal erschlagen einen die Zitatennester.
  2. Zur Examensvorbereitung sehr nützlich. Aber selten genügt die Behandlung, weil die Bedeutungsebene oft etwas stiefmütterlich behandelt ist oder eher angedeutet als das Ziel und der Gipfel des Lemmas. Mehr Mut dazu!
  3. Der Gefahr, dass zwei Methoden ‚sich ausdifferenzieren’ (hier sozialgeschichtliche Normalität, dort die theologische Norm) und nebeneinander, nicht im fruchtbaren Gespräch miteinander, die Theologie repräsentieren, ist in manchen Artikeln zu greifen. Aber die meisten anderen zeigen, wie Theologie nur zu treiben ist, wenn man zuvor die sozialgeschichtlichen Grundlagen geklärt hat. Und dass theologische Aussagen nur dann getroffen werden können, wenn sie geerdet sind. Umgekehrt sind viele „theologische“ Aussagen falsch, weil sie die Sozialgeschichte nicht beachtet haben.

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22.11.2009
Prof. Dr. Dr. Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

 

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