Gerhoch von Reichersberg

Gerhoch von Reichersberg: Opusculum de aedificio Dei.
Die Apostel als Ideal.

Edition, Übersetzung, Kommentar: Julia Becker.

(Klöster als Innovationslabore 8) Regensburg: Schnell + Steiner 2020. 936 (557, 375) Seiten,
ISBN 978-3-7954-3574-5
66 €

Die Kirche als Bau Gottes bedarf dringend der Renovierung:
ein mittelalterlicher Reformer zeigt die Fehler auf

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der Traktat des Gerhoch von Reichersberg in einer mustergültigen Edition und Übersetzung zeigt einen radikalen Reformwillen, der noch über das hinausgeht, was die Reform des Papstes, Gregor VII., im sog. Investiturstreit forderte.

Ausführlich: Gerhoch von Reichersberg (1092/93 – 1169) ist im lang anhaltenden Streit um die ‚Freiheit der Kirche‘ ein wichtiger Vertreter der römischen Seite auf deutschem Boden.[1]  Berühmter ist Otto von Freising, der 20 Jahre jüngere Zeitgenosse, der auf der kai­ser­lichen Seite die Kirche als Bischof vertrat. In der – auch Investiturstreit genannten – Aus­ein­andersetzung ging es nicht vordergründig um das Recht, wer die Bischöfe einsetzen darf. Die Bischöfe aber waren die Konstante der Verwaltungsstruktur, weil sie bis in jede Pfarrei hinein Macht und Einfluss hatten. Die Könige bzw. der Kaiser hatten keine andere, weltliche Struktur, um das riesige Herrschaftsgebiet, das sie beanspruchten, zu regieren. Sie waren selbst ständig auf Reisen, um die Anarchie zu bändigen. Bischöfe waren die regiona­len Vertreter des Kaisers, die er auswählte als – hoffentlich – loyale Vertraute aus dem Adel, oft aus der eigenen Familie. Wenn nun der Bischof von Rom beanspruchte, die Bischöfe ein­zusetzen (Investitur Einkleidung mit dem Bischofsmantel), stellte er die Regierungs­fähigkeit des Kaisers in Frage. Die „Freiheit der Kirche“ (libertas ecclesiae) verweigerte der weltlichen Macht das Recht, Bischöfe einzusetzen; die Legitimität der amtierenden Bischöfe wurde ab­ge­spro­chen: sie hätten ihr Amt gekauft, wie in der Apostelgeschichte der Bibel ein ‚Simon‘  von Paulus die Fähigkeit zu Wundertaten abkaufen wollte (Apg. 8,9-25). Sie seien Häretiker.

Die Streit­schriften fanden die Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit dem „Kulturkampf“, den Repressionen des preußischen Staates gegen seine römisch-katholischen Untertanen nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Berühmt ist der Satz des Reichskanzlers Otto von Bismarcks vor dem Reichstag am 14. Mai 1872 „Nach Canossa gehen wir nicht“. Damals eröffnete die Quellenedition der Mo­nu­menta Germaniae Historica[2] eine eigene Reihe Libelli de lite „Büchlein zum Streit“, in dessen drittem Band 1897 Ernst Sackur Schriften von Gerhoch herausgab, freilich gekürzt und nur die einschlägigen Traktate. Sein umfangreiches Werk ist noch nicht vollständig veröffent­licht.[3] Sackurs Ausgabe lässt das aus, „was allenfalls Theolo­gen interessieren würde“.[4] Mit dem vorliegenden zweibändigen Werk hat Julia Becker das Opusculum de aedificio Dei ediert. Die Übersetzung hat Thomas Insley erstellt. Sie bleibt recht nahe am lateinischen Text, weiß aber Begriffe genau wiederzugeben.[5] Die umfangreiche und sorg­fäl­tige Edition ist im Rahmen des Projektes „Klöster im Hochmittelalter. Innovations­la­bore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ entstanden, das die Heidelberger Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Sächsischen Akademie unternimmt.[6] Das Werk hat der Verlag nach den Regeln der Buchkunst ausgestattet: Fadenheftung, dass man das Buch vollkommen aufschlagen kann für die sorgfältige Lektüre, mit einem ebenso klaren wie großzügigen Satzspiegel des Textes, die Beispielseiten der Manuskripte in vierfarbigen Abbil­dungen, auch auf dem Einband, Vorsätze aus Büttenpapier. Fast 190 Seiten Anhang erschließen das Werk: eine Kapitelübersicht verzeichnet noch einmal knapp den Inhalt der 188 Kapitel. Die Bibelstellen des Alten Testaments (vor allem Psalmen und der Prophet Jesaja, dazu überraschender Weise sehr oft 2. Esra[7]) werden weit übertroffen durch Begrün­dungen aus dem NT. Es folgen Personenregister (leider ohne nähere Unterteilung: Papst Gregor I. wird 250 mal herangezogen; neben Augustin, Ambrosius und Hieronymus die zeitgenössischen Autoritäten des Kirchenrechts Anselm von Lucca, Deusdedit, Ivo von Chartres, Urban II.), Ortsregister. Ein Wortregister zeigt die wichtigsten Begriffe, hier gut unterteilt, ein wertvoller Schlüssel zum Schatz, allein dafür 140 Seiten. Schließlich ein Index Initiorum, wie die ersten zwei, drei Worte, mit denen ein Text eingeleitet wird, gewisser­maßen die Überschrift, auch heute noch in päpstlichen Schreiben verwendet werden (Huma­nae vitae, flagranti cura). Die Bibliographie ist in Band 1, 100-120 verzeichnet.

De aedificio Dei beschreibt das Erbauen der Kirche, also nicht so sehr das fertige Kirchenge­bäude, sondern hebt den Prozess des Handelns, weniger das Ergebnis her­vor. Wie einst die Juden aus dem Exil heimkehrten und den zerstörten Tempel wieder aufbauten, so sei jetzt am Bau Gottes vieles zu renovieren. Als Beispiel für solch eine ‚Baustelle‘ nenne ich: Eine Nonne dürfte nicht ein edleres Kleid tragen, das sie von einer Verwandten geschenkt bekommt – oder gar von einem Liebhaber, unterstellt Gerhoch. Sie müsste es sofort der gemeinsamen Kleiderkammer zur Verfügung stellen. Eigentum also ist strikt verboten, für Bischöfe gelte das auch. Das sei so offensichtlich und die Bischöfe steckten das Schwert des Gerichtes in die Scheide des Ver­schweigens (in vagina silentii 38017). Darüber müssten sie im Jüngsten Gericht Rechenschaft ablegen (c. 96; S. 372-380). Ein sehr umstrit­tenes Thema im Investiturstreit ist die Konstantinische Schenkung, die die römische Seite gerne behauptete: c. 18 (20413 – 20610) und c. 21 (2147 – 21810). Nach der Legende war der Papst der Lehnsgeber der weltlichen Herrschaft und sei rechtmäßig derjenige, der den Zehnten erhalte. Papst Silvester habe kein Geld für Soldaten reserviert.[8] Der Zehnte gehöre allein der Kirche; die weltlichen Dinge werden durch Regalien finanziert. Die guten Kaiser imperatores christianissimi, er nennt Konstantin, Theodosius, usw., Karl (den Großen) und Ludwig (den Frommen), hätten die Trennung von Welt und Kirche beachtet, gleichzeitig die Kirche beschenkt. Dagegen hätten die Ottonen und Heinriche die Bischöfe in Knechtschaft gezwungen. „Jene früheren haben die Kirche beschenkt (dotaverunt), diese sie beraubt (spoliaverunt).“ (20611). Weit hat sich Gerhoch aus dem Fenster gelehnt, als er be­haup­te­te, Sakramente seien nicht gültig, wenn sie von einem Priester gespendet wurden, der von einem Laien eigesetzt wurde, also einem Simonisten. Was für ein Chaos hätte diese radikale Position ausgelöst? Die Römer einigten sich darauf, dass Sakramente Wirkung zeigten, gleich von welchem noch so verkehrt lebendem Priester gespendet (knappe, sehr gute Diskussion JB 62).  Große Bedeutung hingegen hatte Gerhoch mit seiner Forderung, dass Priester und Mönche dem Leben der Apostel nacheifern sollten; im 12. Jh. entstanden vielfältige Lebensformen der vita apostolica. Doch Gerhochs Vorstellungen waren radikal und sein scharfer Angriff wider­sprach den Realitäten des Lebens der Geist­lichen und vieler Bischöfe, an die der lateinische Traktat sich in erster Linie richtete. Sie sollten die Besitztümer, über die sie verfügten, ab­geben und in Armut leben in vita communis[9] entspre­chend den Regeln des Augustinus. Wie konnte er es wagen, solche Forderungen aufzustellen und gegenteiliges Verhalten mit der dem Verlust des Seelenheils zu bewehren? Das wagt er, indem er das ganze Werk durchge­hend mit einer ‚Wolke von Zeugen‘ umstellt. Der Text ist am Rande mit Texten von Päpsten, Kirchenvätern, Kirchenrechtsgelehrten bewaffnet, die teilweise den eigenen Text überwu­chern, wie die Abbildungen der Handschriften eindrucks­voll vor Augen stellen (92-99). In der Edition hat sich JB entschieden, sie im zweiten Band zu drucken, so dass man sie neben den Haupttext legen kann und anhand der folio-Nummer parallel lesen kann (220 Seiten eigener Text [10]stehen 88 Seiten lateinischem Text der Autoritäten gegenüber).

Den Text hat Julia Becker mustergültig ediert, über eine Übersetzung leicht zugänglich gemacht, mit ausführlichen Indices erschlossen. Nicht nur für Mediävisten, ob Theologen, Historiker, Religionswissenschaftler oder Mittellateiner, interessant, sondern auch von einer gewissen Aktualität in der gegenwärtigen Vertuschung und Verschweigen der Verfehlungen von Geistlichen durch ihre Bischöfe.

 

Bremen/Much, November 2020                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de


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[1] Die immer noch wichtigste Forschung unternahm Peter Classen: Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie. Wiesbaden 1960 und in den folgenden Jahren weitere wichtige Aufsätze (verzeichnet S. 22 Anm. 74. Siehe auch https://konstanzer-arbeitskreis.de/wp-content/uploads/classen_festschrift.pdf [19.10.2020]), zum Teil in Ausgewählte Aufsätze 1983. (Mein Heidelberger Lehrer) Peter Classen 1924-1980 wurde nur 56 Jahre alt.  – Erich Meuthen, Gerho(c)h v. Reichersberg. LexMA 4(1989), 1320-1322.

[2] Die Monumenta Germaniae Historica sind eine Institution, die es bis heute gibt. Sie wurde gegründet 1819, als es noch keinen deutschen Nationalstaat gab und das Reich 1806 durch Napoleon aufgelöst war. Die Denkmäler monumenta sollten ein Fundament des neu zu bauenden Staates sein. In der Geschichte habe sich die deutsche Nation schon im Mittelalter aufgebaut, wie die lateinischen Quellen bewiesen, die die MGH edierte. Als Logo wählten die Gründer Sanctus amor patriae dat animum „die heilige Liebe zum Vaterland gibt den Mut“. Vgl. den Kölner Dom als mittelalterlich-moderndes Denkmal des deutschen Nationalstaates: Christoph Auffarth: Kölner Dom und Kölner Bahnhof. Ankunft und Zukunft: technische Machbarkeit und uner­füllte Heilserwartung. Zeitschrift für Religionswis­senschaft 28 (2020), 39-66.

[3] Das gesamte Werk, die Briefe. Urkunden und die Streitschriften und der Kommentar zu den Psal­men, an dem Gerhoch 1144-1167, also 23 Jahre arbeitete, stellt vor Damien van den Eynde: L’œuvre littéraire de Géroch de Reichersberg. Rom 1957. Ders./Angelini Rijmersdael haben 1955/56 in zwei Bänden Teile des Psalmenkommentars ediert.

[4] Ernst Sackur in: Libelli de lite imperatorum et pontificum saeculis XI. et XII. conscripta. (MGH Ldl 3) Tomus III. Hannover: Hahn 1897, 136-202, hier 136: Opus haud exiguum totum hic edere non placuit. Immo quae theologorum tantum interesse possunt omisimus. „Das nicht sehr umfangreiche Werk in seiner Gesamtheit zu edieren, war nicht erwünscht. Vielmehr haben wir weggelassen, was nur Theologen interessieren könnte.“ Der Text beruht auf den beiden Codices in der Bayerischen Staatsbiblio­thek clm 5129 und clm 4556. Die Edition Sackurs enthält etwa 45% des Gesamttextes, v.a. die zahlreichen Auto­ri­täten (bei Becker im zweiten Band 88 lateinische Seiten) sind nur sehr verkürzt wiedergegeben. Die Bibelstellen und die zitierten Autoritäten hat Sackur meist erkannt.

[5] Beispiele: Hec de villis … 212,21 „Das Folgende über die Landgüter [so korrekt statt etwa: Häuser, Dörfer]“. Muri tabulati übersetzt Insley ‚getäfelte Mauern‘ I 130,4. Das kann ich mir nicht recht vor­stellen. Ich finde die Bedeutung ‚mehrstöckig‘ oder ‚mit Türmen versehen‘.

[6] Siehe https://www.hadw-bw.de/forschung/forschungsstelle/kloester-im-hochmittelalter/ (7.11.2020). Zur (etwas veralteten) Personalseite von Frau Becker: https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/mitglieder/becker.html (7.11.2020)   Die Dissertation handelte von Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117) Tübingen 2008. Sie war dann Mitarbeiterin in dem Heidelberger SFB Materiale Textkulturen beteiligt.

[7] Das Programm für den Wiederaufbau der (jüdischen) Kultus-Gemeinde nach der Katastrophe des babylonischen Exils im Buch Nehemia (in der Vulgata als 2. Esra gezählt, also Fortsetzung des Buches Esra) ist für Gerhoch Vorbild für seine aedificatio.

[8] Die Fälschung dieser angeblichen Schenkung erzählt, dass Konstantin schwer erkrankte und sich an Papst Silvester um Hilfe wandte.  Geheilt schenkte Konstantin daher sein Kaisertum dem Papst und dieser belehnte ihn daraufhin mit dem Kaiseramt, d.h. der Papst besitzt es und überträgt es nur leih­weise an den Kaiser. Äußeres Zeichen ist die Krönung des Kaisers durch den Papst in Rom. Horst Fuhrmann: Konstantinische Schenkung. Lexikon des Mittealters 5(1991), 1385-1387. Kaiser Otto III. lehnte diese Unterwerfung ab. Im Investiturstreit bildet sie ein zentrales Argument. Im Kloster Quattro Coronati in Rom gibt es hervorragende Fresken, die die Legende bildlich darstellen. Abbil­dungen https://de.wikipedia.org/wiki/Santi_Quattro_Coronati (8.11.2020).

[9] Gemeinschaftsleben (griech. κοινὸς βίος koinos bios) als ein Hauptmotiv des mönchischen Lebens, noch über der Askese s. Otto Gerhard Oexle: Koinos bios: Die Entstehung des Mönchtums. in: OGO: Die Wirklichkeit und das Wissen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, 470-495.

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