Beaton Griechen

Roderick Beaton: Die Griechen. Eine Globalgeschichte.
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Blanck-Sangemeister.

Ditzingen: Reclam 2023.
605 Seiten.
38 €.
ISBN 978-3-15-011007-2

 

Griechische Kultur weltweit und mehr als 3000 Jahre:
Eine Globalgeschichte ‚der Griechen‘.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Hier wird erstmals eine Geschichte der griechischen Kultur gewagt von den Palastkulturen Mykenes über das griechische Römerreich (‚Byzanz‘) zum modernen Nationalstaat und den Diasporas weltweit.

Ausführlich:
Eine Globalgeschichte der Griechen! Statt einer Nationalgeschichte, die die Gegenwart der Nation rechtfertigen will. Wer sind ‚die Griechen‘? Als der Münchner Professor für Univer­salgeschichte und Philologie Jakob Philipp Fallmerayer (geboren 1790 in Südtirol, gestorben 1861 in München) Griechenland bereist hatte, schockte er die Elite des Griechenland genann­ten Staates damit, dass er auf seinen Reisen alle möglichen Ethnien und Sprachen gefunden habe, die seit der Völkerwanderung in die Region eingewandert waren, zumal Slawen: Wlachen, Albaner, Türken! Aber keine Griechen mehr[1] Der seit der sog. Revolution 1821 allmählich entstandene Staat war kein Nationalstaat von Griechen![2] Das Einzige, was den Staat zusammenhielt, war auch nicht der von außen aufgedrückte und unbeliebte bayerische König Otto I., sondern die griechisch-orthodoxe Kirche.[3] Griechin und Grieche ist, wer getauft ist. Das hat sich erst teilweise, aber abrupt geändert nach dem Ende der Junta-Herrschaft 1974. Aber bis vor kurzem gab in Griechenland kein Krematorium, weil Einäscherung ein atheistisches Bekenntnis sei. Geschockt aber waren auch, die sich mit den Griechen geistesverwandt empfanden: die Philhellenen, die teils ihr Leben im Kampf für die griechische Freiheit einsetzten, teils aber „das Land der Griechen mit der Seele suchten“, besonders die das (neu-) humanistische Gymnasium besuchten, Schillers Die Götter Griechen­lands lasen oder Goethes Iphigenie. Oder öffentliche Gebäude im Stil griechischer Tempel bauten, wie das Nationalheiligtum Walhalla 1842, nahe Regensburg. Fallmerayer wurde seines Amtes enthoben. Das heißt auch ohne konkrete Menschen, erst recht nicht die heutigen Bewohner Griechenlands, gibt es wichtige Vorstellungen, die aus der ‚klassischen‘ griechischen Kultur in Politik, Medizin, Naturwissenschaft, Logik usf. sich weltweit ausbreiteten.[4] Aber Beaton erzählt auch über die griechischen Kulturen davor, die Minoisch-mykenische Kultur, und die Kulturen danach bis fast zur Gegenwart: eine Globalgeschichte. Die Griechen sind diejenigen, die an der griechischen Bildung teilhaben. Das hat der Politiker Isokrates – schon nach der Glanzzeit seiner Heimatstadt Athen – verkündet und dieses Wort steht über der Gennadios-Bibliothek in Athen.[5]

Roderick Beaton[6] schreibt eine kundige Kulturgeschichte über die Griechen nicht nur in der Antike (zu der es zahllose Bücher gibt), sondern vor allem auch der Griechen vor und nach der (klassischen) Antike.[7] So beginnt das Buch mit einer Beschreibung der Kulturen der Bronzezeit, auf dem griechischen Festland, Mykenische Kultur genannt. Die Forschung dazu ist sehr im Fluss, voller neuer Funde und Revisionen älterer Meinungen. RB gelingt eine bemerkenswert kluge Beschreibung aus gesicherten Details und größeren Linien.[8] Dass die Kultur eine ‚griechische‘ war, hat sich aus der Entzifferung der Tontäfelchen ergeben, die nicht in der altorientalischen Keilschrift, sondern in einer Linear-B-Schrift geschrieben sind, die sich als eine unvollkommene Wiedergabe griechischer Laute erwies. Später haben die Griechen dann noch einmal schreiben gelernt, diesmal in einer Alphabetschrift, die nun weit besser und einfacher zu erlernen das Griechische abbildet, vor allem die Vokale. RB schließt sich der Vorstellung an, dass die Palastkultur durch einen Systemkollaps unterging (also nicht durch Feinde von außen und/oder innen, sondern weil das System zu kompliziert geworden war, um es noch managen zu können). Nicht ganz so treffend sind die Beschrei­bungen der ‚Zeit der Experimente‘, nämlich die Zeit nach den Palästen bis zur ausgebildeten Polis (55-87).[9] Die ‚klassische Zeit‘ bis zum Aufstieg der Makedonen und Alexander dem Großen (88-164) wird mit dem Schwerpunkt Athen beschrieben. Dramatisch führt RB die Entdeckung des Grabes in Vergina 1977 ein: der Mord an König Philipp (185-190). Es folgen die Feldzüge des Sohnes von Philipp, Alexander und seine Idee einer Mischkultur griechischer und persischer Menschen und Institutionen, das, was Gustav Droysen „Hellenismus“ nannte (bei Historikern als Epoche bis zur Schlacht von Aktion 33 v.Chr., die als Beginn des römischen Kaiserreichs gilt), aber Glen Bowersock als Hellenentum bis in die Spätantike als kulturelle Grundströmung beschreibt,[10] die auch die Kultur des römischen Kaiserreichs (247-284) wie der christianisierten Spätantike prägte (285-319). Konstantinopel ist dann das „Auge des Universums“ und die ‚Stadt der Sehnsucht der Welt‘, 1018-1204, bis die Kreuzfahrer 1204 die christliche Stadt eroberten, anstatt Jerusalem zu befreien. Das ist ein größerer Einschnitt in die Transformationen der Antike,[11] zugleich ein enormer Kulturtransfer, weil die. die bislang die griechisch-sprachige Kultur pflegten, in das lateinisch-sprachige Europa flüchteten und ihre Handschriften mit den antiken Autoren mitbrachten. Die Zeit 1453-1669 lebten die Griechen „zwischen zwei Welten“ (398-426). Danach 1669-1833 beginnt die „Griechische Wiedergeburt“ (427-459). Die Monarchie Griechenland wurde in das (west-) europäische Staatensystem eingebunden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, im fürchterlichen Bürgerkrieg, tat der Westen alles dafür, dass die Kommunisten den Staat nicht in das Lager der Satellitenstaaten der Sowjetunion führten (460-492). Die Militärjunta 1967-1974 versuchte noch einmal die ‚Große Idee‘ μεγάλη ἰδέα[12] zu verwirklichen, alle griechisch-sprachigen Landsleute in einen Nationalstaat zu einen: vom Schwarzen Meer über Konstantinopel (Istambul) und die kleinasiatische Küste (Ephesos, Smyrna/Izmir, Halikarnass) bis zur Insel Zypern. Eine krachende Niederlage beendete die Junta, die imperialistischen Träume, die Monarchie und heizten die Feindschaft mit dem türkischen Staat an, der den Norden Zyperns besetzte.

Auf 120 Seiten, ungefähr einem Viertel des Buches, erzählt RB das, was man sonst als ‚Grie­chische Kulturgeschichte‘ bezeichnen würde. Die anderen drei Viertel sind eine gut infor­mierte Kulturgeschichte (mit dem Schwerpunkt auf der politischen und Ereignisgeschichte) der ‚Griechen‘, die erst vor gut 200 Jahren einen Nationalstaat namens Griechenland bilde­ten. Dass man auf dem Gebiet nicht alles aus eigener Forschung kennen kann, und sich hier auf Sekundärliteratur verlassen muss, ist klar. Das gelingt im Ganzen gut. So kann man sich erstmals eine gut recherchierte Geschichte der griechischen Kultur erschließen, was sonst über die Altertumswissenschaften, also Klassische Philologie, Alte Geschichte, die Byzanti­nistik, die Neo-Gräzistik und Geschichtswissenschaft der Moderne zerteilt ist. Das Buch ist gut geschrieben. Die Übersetzung trifft ganz gut, auch die Namen sind korrekt, wenn auch (meist) in der englischen Umschrift.[13] In einem Anhang sind die Anmerkungen, eine Aus­wahl-Bibliographie (ausschließlich englischsprachige Literatur, auch wo es deutsche Übersetzungen gibt, wie z.B. Angelos Chaniotes The Age of Conquest 2018 [man beachte den anderen Titel!] als Die Öffnung der Welt. Darmstadt 2019, ²2022. Übersetzungen von grie­chischen Autoren sind in den Anmerkungen angegeben), Verzeichnisse der 43 Abbildungen und 15 Karten dazu ein ausführliches Register.

Jacob Burckhardt hat in seiner Griechischen Kulturgeschichte immer zwei Seiten einer Eigen­schaft und Entwicklung herausgearbeitet, das Positive wie das Negative.[14] So vielschichtig ist dieses Buch nicht. Aber dafür erwartet die Lesenden vieles, was ihnen neu und interessant sein wird. Es lohnt sich.

 

Bremen/Wellerscheid, Dezember 2023                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] „Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. […] Denn auch nicht ein Tropfen ächten und ungemischten Hellenenblutes fließet in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands.“ Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Ein historischer Versuch, Stuttgart/ Tübingen: Cotta 1830. 1836: Erster Teil: Untergang der peloponnesischen Hellenen und Wiederbevölkerung des leeren Bodens durch slavische Volksstämme. Zweiter Teil: Morea, durch innere Kriege zwischen Franken und Byzantinern verwüstet und von albanesischen Colonisten überschwemmt, wird endlich von den Türken erobert. Von 1250 – 1500 nach Christus. Das Zitat in der Vorrede zum ersten Band S. iii f.

[2] Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. Göttingen: Wallstein 2021. Mark Mazower: The Greek Revolution: 1821 and the Making of Modern Europe. London: Allen Lane 2021. Ioannis Zelepos: Griechischer Unabhängigkeitskrieg (1821–1832), in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2015-06-12. URL: http://www.ieg-ego.eu/zeleposi-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-2015060901 [8. Dez. 2023]. – Die sinnvollen Begriffe der Ethnogenese, Nation-building auf der einen Seite, die griechisch sprechenden Menschen außerhalb der geographischen Region auf der anderen Seite, die Diaspora wären hilfreich anzuwenden gewesen.

[3] Während der Patriarch von Konstantinopel im Osmanischen Reich das Oberhaupt der orthodoxen Kirche war und blieb, bildeten die Bischöfe im neuen Staat Griechenland eine ‚autokephale‘ (eigen­köpfige) Kirche.

[4] Hier greift das Konzept der ‚Diaspora‘, wie es Robin Cohen: Global Diasporas 1997, ³2022 entwickelt hat, das nicht nur Gruppen umfasst, die fern der Heimat leben (müssen – die jüdische Diaspora als Negativbeispiel), sondern auch das Zusammenleben von Menschen gleicher Nation, die freiwillig ausgewandert sind und ihre Identität in ihrer neuen Welt leben. Dazu kommen etwa Musikstile, die auch ohne ‚Träger‘ Kultur verbreiten. RB nutzt solche Konzepte wie Ethnogenese oder Diaspora nicht. Seine Definition ‚Grieche‘ bleibt dünn, immerhin 178-182 zur Frage der griechischen Identität Makedoniens, die der moderne Staat beim Eintritt in die EU gegenüber dem Staat Nordmakedonien behauptet.

[5] Isokrates, Panegyrikos 50 (zitiert S. 175) τό τῶν Ἑλλήνων ὄνομα πεποίηκεν μηκέτι τοῦ γένους, ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι καὶ μᾶλλον Ἕλληνας καλεῖσθαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡµετέρας ἢ τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας ῀Sie (die Stadt Athen) hat bewirkt, dass der Name ‚Griechen‘ nicht mehr im Sinne der Verwandtschaft, sondern im Sinne einer Denkweise verstanden wird. Eher heißen die Menschen Griechen, die an unserer Bildung teilhaben, als die, die gleiche Gene haben.“ – Noch einfacher definiert RB „die Sprecher der griechischen Sprache“ (11). – Die Gennadios-Bibliothek, initiiert durch den Diplomaten (u.a. in Großbritannien und in den USA) und Bibliophilen Ioannes Gennadios, öffnete 1926. Sie enthält Bücher vorwiegend zur griechischen Kultur nach dem Fall von Konstantin­opel 1453. – Dass das Wort paideia/paideusis einmal (S. 6) mit Bildung, einmal – weniger passend – mit Erziehungssystem übersetzt ist, liegt daran, dass das deutsche „Bildung“ kein Äquivalent im Englischen hat. Werner Jaeger nahm den Ausgangspunkt für sein dreibändiges Buch Paideia von Isokrates. Vgl. Christoph Auffarth: Henri Irénée Marrous »Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum«. – Der Klassiker kontrastiert mit Werner Jaegers »Paideia«. In: Peter Gemeinhardt (Hrsg.): Was ist Bildung in der Vormoderne? (Seraphim 4) Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 39-65.

[6] Roderick Beaton war Professor am King’s College in London, zuletzt als Director of Hellenic Studies. Dabei geht es nicht um das Altgriechische, sondern um die griechische Kultur(en) nach der Antike. Beaton hat als Doktorand im (griechisch-sprachigen) Zypern und Griechenland geforscht und hat seither immer den Kontakt mit seinen griechischen Freunden gepflegt. Seine Homepage http://www.kcl.ac.uk/artshums/depts/chs/people/academic/beaton/index.aspx (17.03.2023). Er ist Koraes-Professor, benannt nach Adamántios Koraís, auch Koraés; geboren 1748 in Smyrna, Kleinasien, Osmanisches Reich; gestorben 1833 in Paris, mit dem die neugriechische Literatur begann. Im Folgen­den kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen RB.

[7] Das Mittelmeer und der Vordere Orient sind der Bezugsrahmen, nicht ‚Europa‘. Christoph Auffarth: Religion and Classical Europe (12th century BC – 600 AD). In: The Oxford Handbook of Religion and Europe. Ed. Grace Davie, Lucian Leustean. Oxford: OUP 2022, 19-37.

[8] RB konnte sich da beraten mit dem damaligen Direktor des Britischen Archäologischen Instituts in Athen, John Bennet, der auf die Bronzezeit spezialisiert ist.

[9] Die Erforschung dieser Epoche am Beispiel Athens bei Maximilian Rönnberg: Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v.Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse. Rahden/Westf.: Verlag Marie Leidorf 2021. Meine Rezension in: Frankfurter elektronische Rundschau zur Altertumskunde 50(2023), 152-155. – Als Hellenen, als Gemeinsamkeit, verstanden sich die Griechen erst durch die Perserkriege. Vgl. Allan A. Lund: Hellenentum und Hellenizität: Zur Ethnogenese und zur Ethnizität der antiken Hellenen. Historia 54(2005), 1-17.

[10] Glen Bowersock: Hellenism in late antiquity. Ann Arbor: Michigan University Press 1990.

[11] Bernhard Jussen hält den Begriff des Mittelalters für unpassend und beschreibt die Epoche bis 1453 als Transformation der Antike: Das Geschenk des Orestes. Die Geschichte des nachrömischen Europas 526 – 1535. München: Beck 2023. Thomas Bauer hat die Bezeichnung Mittelalter für den Islam abgelehnt (München:  2018). RB macht deutlich, dass im griechisch-sprachigen Osten das Römische Reich weiter bestand, verwendet aber weiter den englischen Begriff für Mittelalter (Dark Ages, z.B. 323).

[12] Als Eleutherios Venizelos (1864-1936) Kreta 1913 aus der osmanischen Herrschaft befreite, an den Nationalstaat Griechenland anschloss und selbst Ministerpräsident wurde, war das Osmanische Reich im Zerfallen. Zu der Zeit war die Idee eines Nationalstaates über zwei Kontinente nicht ganz undenkbar. In den Balkankriegen, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen, konnte Griechenland sein Territorium fast verdoppeln. Aber die Erwartung, das Wohngebiet der Griechen an der Westküste Anatoliens dem Nationalstaat zuzuschlagen, endete in der Katastrophe 1923. Trotz der den Griechen im Vertrag von Sèvres 1920 übertragenen Verwaltung der Westküste Anatoliens um Smyrna herum erzwang die neue Republik Türkei eine ethnische Säuberung, so dass die kleinasiatischen Griechen nach Griechenland fliehen mussten. Dazu kamen viele der christlichen Armenier, die vor dem türkischen Genozid zum orthodoxen Schwestervolk flüchteten.

[13] Abb. 34 ist der Name von Georgios Gemistos Plethon falsch mit Plethos wiedergegeben, während er im Text korrekt geschrieben ist.

[14] Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte. Das unvollendete Werk hat sein Neffen Jacob Oeri 1905 herausgegeben und wurde in zahlreichen Editionen gedruckt. Die historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Fritz Graf u.a., 4 Bände, erschien Basel: Schwabe; München: Beck 2002-2012.

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