Visitatoren

Joachim Bauer; Dagmar Blaha; Stefan Michel (Hrsg.):
Der Unterricht der Visitatoren (1528).

(Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 94)

Gütersloh: GVH 2020.
376 Seiten.
ISBN 978-3-579-05848-1

 

Ordnung statt Wildwuchs: Die Reformatoren richten die Visitation ein

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Schon früh, aber besonders durch die Revolution von 1525 aufgeschreckt, diskutierten unter der Aufsicht des Kurfürsten die Wittenberger Reformatoren, wie radikale Vorpre­schende und altgläubige Widerständler zu einer Ordnung gebracht werden. Religion wird zu einem Instrument der frühabsolutistischen Staatsbildung.

Ausführlich: Mit der ‚Einführung der Reformation‘ ist zwar ein erster Schritt vollzogen, aber die Durchsetzung oder misslungene Reformation erfolgte erst in mehreren Jahren der Einla­dung von evangelischen Predigern, der Umgestaltung der Liturgie und dem für die Gemein­deversammlung geeigneten Raumveränderung, der Institutionalisierung und der Kirchen­ordnungen (die viele Fragen, etwa des Erbrechts, mit umfasste, die Befugnisse der Prediger als Angestellte der Städte oder der Fürsten anstelle der unabhängigen Priester mit ihren Pfründen), der Lehrbücher (Katechismus) für die Unterrichtung der Gemeinde, etc. Eike Wolgast formuliert: „Einführung der Reformation heißt Neubestimmung des Glaubens- und Konfessionsstandes in einem Territorium, und zwar durch staatliches Handeln und durch obrigkeitlich-administrative Normsetzung, die zugleich alle Devianzen illegalisiert. Einfüh­rung ist Voraussetzung für Durchsetzung, aber nicht mit ihr identisch – Einführung ist ein administrativer Akt, Durchsetzung erfordert Zeit“.[1]

In den von konfessionellen Vorurteilen bestimmten Forschungsgrabenkämpfen hat vor allem Ernst Walter Zeeden (1916-2011) eine neue Forschungsperspektive eingebracht. Es sollte nicht mehr um Reformation und Gegenreformation gehen, also Ereignisse, sondern um den langen Prozess der Kon­fessionalisierung, der Entwicklung von Identitäten, Aushandlungsprozesse, Institutionalisierungen von Kirche und Religion bis in den Alltag hinein.[2] Die Fragestellung hat die Forschung außerordent­lich befruchtet, auch wenn sich jetzt neue Paradigmen auftun.[3] Dabei nahm er als Forschungsprojekt vor, die Visitationsprotokolle beider Konfessionen zu sammeln und zu untersuchen.[4] Die Hoffnung, dabei die gelebte Religiosität statt der vorgeschriebenen Religion dokumentiert zu finden, erfüllte sich aber nicht.

Nach den grundlegenden Programmschriften, die Luther 1520 schrieb,[5] wurde immer klarer, dass die Papstkirche die ausschließliche Berufung auf die Bibel nicht akzeptierte, während die Evangelischen den aus dem Petruswort Matthäus 16,18 erschlossenen Anspruch auf das Papstamt, die Tradition, die Hierarchie, das daraus abgeleitete Kirchenrecht nicht rechtfer­tigen wollten. Nachdem der Kaiser im Interesse des Reichsfriedens die Durchführung von Ketzerprozessen verboten hatte und die Lösung des Konfliktes auf ein Konzil verschoben hatte (das dann erst viel später nach Trient einberufen wurde – ohne Beteiligung der Evan­gelischen), entstand der Bedarf nach einer Ordnung der sich abzeichnenden neuen Kirche. Aber das „Priestertum aller Gläubigen“ konnte nicht die Lösung sein – für Luther; die Reformation in Zürich entschied sich anders.[6] Mit Berufung auf die Reformation hatte sich 1525 eine Revolution ‚des gemeinen Mannes‘ formiert,[7] die, mit Bibelstellen belegt, die Abschaffung von drückenden Steuern verlangte, die der Adel erpresste, ohne Gegenleistun­gen zu erbringen.[8] Luther hatte zunächst Sympathien gezeigt, dann aber sich auf die Seite des Adels geschlagen, dessen Söldnerheere die schlecht bewaffneten Bürger brutal erschlu­gen. Die Parteinahme für den Adel und damit die Preisgabe berechtigter Rechte der Menschen sind ein fundamentaler Bruch in der Reformation. Die Reformation wird zu einem zentralen Teil der Herrschaft der Landesherren, Pfarrer werden Beamte.

Prediger mussten an den Universitäten die Bibel in der Originalsprache studiert haben. In der ersten Generation der evangelischen Pfarrer waren das aber ehemalige Mönche, die meist nicht studiert hatten. In der Diskussion wurde deutlich, dass der Wildwuchs der be­geisterten Anhänger der neuen Lehre nachträglicher Anweisungen bedurfte.  Dafür wurden die Visitatoren bestimmt, die vor Ort die Pfarrer besuchten, gewissermaßen nachträglich das Examen prüften und in der Praxis zurechtwiesen. Die zwei Pole der Visitation sind obrig­keitliche Kontrolle und Seelsorge für die einsam handelnden Pfarrer vor Ort, meist aber steht die Kontrolle im Vordergrund.[9]  Es war Philipp Melanchthon, der für ein Handbuch der Visitatoren den Grundtext schrieb, der dann intensiv von den Wittenbergern diskutiert wurde – kontrovers. Das vorliegende Buch bietet Einblick in diese Diskussion, Entwürfe bis zur Druckfassung, und einen umfassenden Kommentar. Das vorliegende Buch ist die Frucht langer Untersuchungen in Archiven und in Auseinandersetzung mit der Forschungslitera­tur. Die AutorInnen, ein Kirchengeschichtler Joachim Bauer,[10] eine Archivarin Dagmar Blaha[11] und ein Forscher an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Stefan Michel.[12] Das Buch umfasst 1. eine Chronologie zur Entstehung (11-16), 2. eine Einführung zur Suche nach dem reformatorischen Weg in Kursachsen mit den Phasen bis 1525, in der die Aktivitäten von den Gemeinden ausgingen, und der zweiten Phase – nach der Revolution von 1525, die in Thüringen unter Thomas Müntzers Führung besonders erbittert geführt worden war[13] –, in der die Reformation (auch) der Konsolidierung der Landesherrschaft diente (17-63). Es folgten Konferenzen auf Schloss Torgau, wo man die Konsequenzen der ersten Visitationen in dem noch aufgewühlten Kurfürstentum diskutierte, Radikale zensierte und den Gegen­satz zu den Altgläubigen verschärfte. Melanchthon galt als zu nachgiebig, etwa in der Buß­lehre. Ab 1528 wurde das Handbuch vielfach gedruckt und die Neuauflagen verbessert. Der 3. Teil umfasst einen Kommentar (63-222) zu dem Druck von 1528,[14] der hier in der kriti­schen Edition der Martin Luther Studienausgabe vollständig zitiert wird.[15] Der Kommentar verbindet den Gedankengang des Textes mit den Diskussionen der Zwanziger Jahre des 16. Jh.s.
4. Folgt die Edition von Dokumenten zur Entstehung des Unterrichts der Visitatoren (223-351) aus den Archiven zusammengetragen, in denen auch Streichungen und Korrekturen eingetragen sind. Der Band schließt ab mit dem Quellen- und dem Literatur­verzeichnis, sowie einen Personen-, Orts- und Bibelstellenregister.

Durch die neu erschlossenen Dokumente, die in dem eingehenden Kommentar zum gedruckten Text umstrittene Positionen deutlich machen, erweist sich der Text weniger als „ein Konsensdokument der Wittenberger Theologen“ (Wartenberg), sondern als eine Arena von Textvorschlägen, die Luther am Ende redigierte und zu dessen Text der Kurfürst und seine Räte ihr placet gaben. Die Eroberungen auf dem Balkan (mit dem Höhepunkt der Belagerung Wiens durch die Türken/Osmanen 1529) nimmt Luther zum Anlass, in dem Abschnitt „Vom Turcken“ diesen Unmoral vorzuwerfen und die Christen in die Pflicht zu nehmen, der Obrigkeit Gehorsam zu leisten und in den Krieg zu ziehen.

Und die weil die gewalt sol gute werck ehren / und die boᵉsen straffen / zun Roᵉmern am dreyzehenden [Römer 13,4] / vnd ynn der ersten Petri am andern [1. Petrusbrief 2,14] / sol sie auch denen weren / die Gottes dienst / gute Lands Ordnung / Recht vnd gericht wollen wegnemen. Daruᵉmb man schuᵉldig ist / den Tuᵉrcken zu weren / die nicht allein die Lender begern zu verderben / weib und kinder schenden und ermorden / Sondern auch Landrecht / Gottes dienst / und alle gute Ordnung wegnemen / Das auch die ubrigen nachmals nicht muᵉgen sicher leben / Noch die kinder zu zucht und tugent gezogen werden.

Daruᵉmb sol fuᵉrnemlich ein oᵉbrickeit kriegen / das Recht und erberkeit ynn lendrn erhalten werde / das nicht die nachkomen ynn unzuᵉchtigem wesen leben / Denn viel leidlicher were es einem fromen man / sehen seiner kinder tod / denn das sie Tuᵉrckische sitten muᵉsten an nemen[16]

Also: „Für einen frommen Mann wäre es erträglicher, seine Kinder tot zu sehen als dass sie türkische Sitten annehmen müssten“. „Die Prediger sollen die Leute unterrichten, dass es ein rechter Gottesdienst sei, wider solche streiten [in den Krieg zu ziehen] auf Befehl der Obrig­keit“ ist Luthers Fazit. Damit wollte sich Luther dagegen wehren, dass man ihm vorwarf, die Evangelischen seien Pazifisten. Nach Müntzers Niederlage und Tod in der thüringischen Revolution von 1525 hatte sein Begleiter Hans Hut (gestorben Ende 1527) die Gewaltlosigkeit gepredigt, auch gegenüber den Türken. Im Interesse der ‚Ordnung‘ statt Anarchie der ‚radikalen‘ Reformatoren stellte sich Luther auf die Seite der Landesfürsten. Die Visitation musste das für alle Lutheraner garantieren. Die verheerende Wirkung des Paulus-Worts in Römer 13 „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, denn sie ist von Gott eingesetzt!“ im Nationalsozialismus ist eine späte Konsequenz.[17]

 

Bremen/Wellerscheid, 30. April 2020                                                                 Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:   auffarth@uni-bremen.de

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[1] Eike Wolgast: Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa. Gütersloh 2014, 26-39. Meine Rezension dazu: Die Reformation eignet sich die Klöster an: die erste Säkularisation. In: http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2015/10/25/eike-wolgast-die-einfuehrung-der-reformation-und-das-schicksal-der-kloester-im-reich-und-in-europa/ (25.10.2015).

[2] Grundlegend waren Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München: Oldenbourg 1965. Das Zeitalter der Reformation. Freiburg: Herder 1967. Für die Zeit ein Wagnis war als Schluss der Trilogie eine Kulturgeschichte Deutsche Kultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Athenaion 1968. Dazu Michael Maurer: Die Revitalisierung der Kulturgeschichte durch Ernst Walter Zeeden. In: Wilhem Borth (Hrsg.): Ernst Walter Zeeden (1916-2011) als Historiker der Reformation, Konfessionsbildung und „deutschen Kultur“ Münster: Aschendorff 2016, 89-108.

[3] Die weitgehende Begrenzung auf Christentum und Europa ist zu ersetzen durch Globalisierung der Frühen Neuzeit und Religionen. Die Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte haben mehrere Bände dem Forschungsparadigma gewidmet, zuletzt Andreas Peitsch; Barbara Stollberger-Rilinger (Hrsg.): Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Gütersloh: GVH 2013.

[4] EWZ (Hrsg.): Repertorium der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert in Archiven der Bundesrepublik Deutschland. 1: Hessen. 1982. 2: Baden-Württemberg 2 Bände. Stuttgart: Klett-Cotta 1984. 1987.  Ein Fazit: EWZ: Visitationsforschung und Kirchengeschichtsschreibung. Theologische Revue 87 (1991), 353-366.

[5] Dazu die Kommentarreihe, u.a. Thomas Kaufmann: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. Tübingen: Mohr Siebeck 2014. Meine Rezension: Der Papst hat die Kirche gekidnapt: Luthers Adelsschrift kommentiert. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2015/03/19/thomas-kaufmann-an-den-christlichen-adel/(19. März 2015)

[6] Emidio Campi hat die Unterschiede gut herausgearbeitet, s. In: Amy Nelson Burnett/ Emidio Campi (Hrsg.): Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. S. meine Rezension: Eine alternative Reformation: Ein Handbuch über die Schweizer Reformierten. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/06/16/handbuch-schweizerische-reformation/ (16.6.2018).

[7] Die Revolution von 1525 (statt „der deutsche Bauernkrieg“) nannte Blickle seine neue Konzeption. „Gemein“ bedeutet dabei nicht (wie im heutigen Sprachgebrauch) bösartig, sondern allgemein.

[8] Die Zwölf Artikel der Bauern sind der Forderungskatalog. Faksimile, Text, neuhochdeutsche Übertra­gung: https://stadtarchiv.memmingen.de/quellen/vor-180203/zwoelf-artikel-1525.html (4.10.2020). Luthers Schriften zu dem Konflikt sind im dritten Band der Studienausgabe ediert.

[9] Zur Geschichte der Visitation Christian Peters: Visitation. Theologische Realenzyklopädie 35(2003), 151-163.

[10] Joachim Bauer hat über den Unterricht promoviert in Jena 1984. Die Dissertation blieb unveröffent­licht. Prof. Dr. Joachim Bauer ist Leiter des Universitätsarchives am Historischen Institut der Universi­tät Jena.

[11] Dr. Dagmar Blaha war Leiterin des Hauptstaatsarchivs in Weimar.

[12] PD Dr. Stefan Michel ist Arbeitsstellenleiter des Forschungsprojekts »Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Seine Habilitationsschrift behandelt Die Kanonisierung der Werke Martin Luthers im 16. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck 2016.

[13] Dazu in diesem Buch 29-42. Vgl. meine Rezension Thomas Müntzer: eine radikale Alternative zu Luthers Reformation. Siegfried Bräuer; Günter Vogler: Thomas Müntzer: neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, [2016], in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/03/29/thomas-muentzer/ (29.3.2017).

[14] In dem Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (VD 16), die im Internet zugänglich ist, ist ein Scan des Originaldrucks zu finden VD16 M 2600. Das Verzeichnis ist so gut wie vollständig. Von vielen Texten ist ein sog. Digitalisat eingebunden. Digitalisate sind in dem Fall Scans der Originalseiten. Sie sind nicht digitalisiert in dem Sinne, dass die einzelnen Wörter so aufbereitet sind, dass man sie im Computer lesen und durchsu­chen kann. Die Arbeitsschritte hin zu einem so aufbereiteten Text und Einzelwörter haben wir be­schrieben: Regine Wolters, Manfred Wischnewsky, Christoph Auffarth: Die Bremer Kirchenordnung 1534. In: Jan van de Kamp; Christoph Auffarth (Hrsg.): Die »andere« Reformation. Bremen und der Nord­westen Europas. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020, 387-414.

[15] Martin Luther: Studienausgabe (MLStA) Band 3, 406-462, hrsg. von Günther Wartenberg (mit wert­voller Einleitung 402-405). Die Seitenangabe vor jedem Abschnitt nennt die Seite und Zeile der Wie­marer Ausgabe und die der MLStA. Der eigentliche Verfasser ist nicht Luther, sondern in erster Linie Melanchthon, aber er musste heftige Kritik einstecken. Luther redigierte schließlich autoritativ den Text vor der Drucklegung.

[16] WA 228f. MLStA 447-449. Im vorliegenden Buch der wichtige, den Kontext erklärende Kommentar 176-181. Im Gegensatz zum Papst, der 1518 einen Kreuzzug ausrufen wollte (also einen Angriffskrieg), fordert Luther einen Verteidi­gungskrieg.

[17] Diskutiert in Jürgen Kampmann; Hans Otte (Hrsg.): Angewandtes Luthertum? Die Zwei-Reiche-Lehre als theologische Konstruktion in politischen Kontexten des 20. Jahrhunderts. Gütersloh: GVH 2017.

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