Protestantismus und Nationalsozialismus

Siegfried Hermle; Harry Oelke (Hrsg.): Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch.

Band 2: Protestantismus und Nationalsozialismus (1933-1945).
(Christentum und Zeitgeschichte 7)

Leipzig: EVA 2020.

ISBN 978-3-374-06662-9

241 Seiten.
20 €

 

Das Zwanzigste Jahrhundert in der deutschen Kirchengeschichte (2):
Die Zeit des Nationalsozialismus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die vierteilige Kirchliche Zeitgeschichte (nur Deutschlands) wird fortgesetzt mit der Geschichte des Protestantismus in der Zeit des Nationalsozialismus. Elf Autorinnen und Autoren öffnen den Blick über die Kirchen hinaus auf den Protestantismus, aber selten eine größere Perspektive.

Ausführlich: Der erste Band zur Weimarer Republik enthielt schon mehrere Begründungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus,[1] ohne die längerfristigen Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert und vor allem die Kriegsreligion des Ersten Weltkriegs aufzugreifen, die Verwerfungen der Gesellschaft durch die Industrialisierung und Urbanisierung andrerseits und damit notwendige Modernisierungen für die Zukunft zu bedenken.[2] Das fehlt etwa in dem Beitrag „Gesellschaftliche Herausforderungen“ (Gisa Bauer, 53-72). Hier wird nicht geschildert, wie der Nationalsozialismus davon profitierte, dass nach den Rationalisierungs­prozessen in der Wirtschaft und der Entlassung zahlreicher Industriearbeiter die NS die Erfolge ernten konnten und durch die Reagrarisierung und die Vertreibung der Frauen aus der Erwerbstätigkeit, die männliche Arbeitslosigkeit schnell sank, dazu der unbezahlte Arbeitsdienst, Autobahnbau als Aufmarschwege für den Krieg usf. Und wie die Eliten rasch ausgetauscht wurden durch die Entlassungen und Morde an den Kommunisten, Sozialisten und Juden. Das traf sich mit der religiösen Ablehnung der Stadt (Kapitalismus und Banken, Arbeiterbewegung als Sozialismus, ‚Asphaltjudentum‘), so dass sich Protestanten identifi­zieren konnten mit dem Jubel über ‚Volksmission‘,[3]  mit dem der bürgerliche Protestantis­mus glaubte, endlich auch die Arbeiterschaft für die Kirchen zu gewinnen.[4] Und die Erwartungen der NS, dass die Kirchen eine zentrale Rolle spielen könnten in der Formung der Volksgemeinschaft und der Akzeptanz zur Beseitigung von Menschenrechten (‚Indi­vidualismus‘, Theonomie statt Aufklärung). Dazu kam die Übereinstimmung in Juden­feindschaft und Antikommunismus. Stattdessen wird hier wieder behauptet, dass der NS eine ‚Ersatzreligion‘ sein wollte und die „Religionspolitik auf Manipulation, Unterwerfung und Gleichschaltung der Kirchen ausgerichtet (war) und letztendlich die Eliminierung des Christentums zum Ziel“ hatte (60). Vielmehr würdigt das Kapitel fast zu Hälfte den Kirchenkampf (in dem alten und falschen Sinne des Kampfes der Kirchen gegen den NS-Staat) und den Widerstand. So bedeutend es ist, den Mut der Widerständler:innen zu thematisieren, er wurde von den Kirchen nicht solidarisch getragen, und gemessen an den Kommunisten und Sozialisten war er winzig (so dann auch S. 116).[5] Starke Kapitel hingegen sind die von Alf Christophersen zur Theologischen Signatur 118-139. „Der experimentelle Charakter des Weimarer Ideenlaboratoriums hat ein Ende.[[6]] Versuche, Ordnung zu setzen, bestimmen die Lage.“ (123). Wie zu erwarten sehr gut auch das Kapitel von Siegfried Hermle zum Ver­hältnis zum Judentum; er kann sich dabei auf die exzellente Dokumentation und Interpre­tation von Röhm/Thierfelder stützen.[7] Herausragend und im besten Sinne global­geschichtlich gedacht ist das Kapitel von Andreas Müller zur Ökumene (163-180). Gute Kapitel sind die Gesamtschau (Harry Oelke, 11-32), Protestantismus und Politik (Claudia Lepp, 33-52) und das zur Diakonie (Norbert Friedrich, 181-199), das auch einen differenzier­ten Abschnitt zur ‚Euthanasie‘ enthält.[8] Die Frage, warum es keine christliche Weigerung etwa zu Krankenmorden gegeben habe, beantwortet F. „Der von [Paul Gerhard] Braune aufgezeigte, ethisch-moralische Kompass war allerdings eine Ausnahme; individuelles Ver­sagen oder das Fehlen klarer ethischer Regeln bestimmte vielmehr die Haltung der Inneren Mission in dieser Zeit.“[9] Es war nicht das Fehlen; Christliche Ethik der Zeit verlangte eher, Unrecht zu lindern, nicht Unrecht zu widersprechen. Die utilitaristische Ethik („Recht ist was dem Volke nützt“) war schon – wie F. andeutet – in der Diakonie der Weimarer Republik akzeptiert in Bezug auf Menschen, die dem Volke nicht nutzten, sondern als „Ballastexistenzen, Menschenhülsen, unnütze Esser, Asoziale“ ihrer Menschenwürde beraubt wurden. Staatliche Anordnungen ohne Gesetzesgrundlage konvergierten mit ökonomischen Vorteilen und Nützlichkeitserwägungen in der Diakonie.

Der vergleichende Blick auf die katholische Kirche und die Freikirchen, auf andere Länder, das ganze religiöse Spektrum in einer Religionsgeschichte fehlt, bis auf die zwei Seiten zu den Deutschgläubigen (110-112).[10]

Obwohl sich diese Protestantismus-Geschichte vorgenommen hat, perspektivenreich die vielfältigen Gesichter zu zeigen, bleibt sie eher konventionell, zudem hinkt sie hinter der Forschung her, die von Seiten der Geschichts- und Religionswissenschaft neue Impulse erhalten hat (das Literaturverzeichnis listet viele ältere Forschung auf aus den 1970er Jahren bis 2000 (fast zwei Drittel), aus dem letzten Jahrzehnt ganz wenig (19), auch die Nuller Jahre sind nur schwach vertreten 30 von 130 Einträgen.[11] Internationale Forschung kommt nicht vor bis auf ein englisches und ein griechisches Buch). Das gewählte Format, auf 20 Seiten jedes Thema zusammenzufassen, ist angesichts der komplexen und vielfältigen Konstellati­onen in den vielen Landeskirchen mehr oder weniger gelungen. Der Forschungsstand erlaubt noch wenig Verallgemeinerungen. Das ist aber auch ein Zeichen für die damalige Situation des Protestantismus:[12] fehlende Absprachen, schon gar mit der Katholischen ‚Gegenkirche‘, Reaktion statt Aktion, Konvergenz von damaligem autoritätsgläubigem Christentum mit dem Staat, dem, von Gott eingesetzt, Gehorsam zu leisten sei, oft genug vorauseilenden Gehorsam (40f). Das Buch will kein Lehrbuch sein, aber in Hauschilds Lehrbuch finden Studierende ist eine klarere Linie und mit Manfred Gailus‘ Zusammen­fassung seiner Forschungen sind Perspektiven zur Religion in der Zeit des Nationalsozia­lismus aufgezeigt,[13] die auch für die kirchliche Zeitgeschichte grundlegend und heraus­fordernd sind. Damit lässt sich der Protestantismus in der NS-Zeit besser einordnen.

 

Bremen/Wellerscheid, 3. Februar 2022                                                       Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen
E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

………………………………………………………………………………………………..

[1] Meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/03/15/kirchliche-zeitgeschichte-1/ (15. März 2021). Vieles von dem, was ich dort als Desiderat nachgefragt hatte, ist auch im zweiten Band nicht beantwortet. Das ist hier nicht noch einmal zu wiederholen.

[2] Bei meiner Forschung zum Schulgesetz, das für die NS zur Formung der Volksgemeinschaft grund­legend gewesen wäre, aber nie zustande gekommen ist, wurde deutlich, dass mit der Forderung nach Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht und Zusammenführung der Konfessionsschulen zu Gemein­schaftsschulen ein Projekt vorangetrieben wurde, das schon im 19. Jh. gefordert und in einigen Ländern auch realisiert, auf Dauer in der BRD überall eingeführt wurde. Andrerseits machte das Scheitern dieses zentralen Projekts des NS auch deutlich, dass innerhalb des NS zum Thema Religion Parteiungen sich blockierten, die die These von der Ersatzreligion und der einheitlichen Weltan­schauung als falsch erweisen. Die Forschung habe ich diskutiert am Beispiel des Schulgesetzes: Parteiungen im Totalitarismus: Christenheiten und Ideologien im „Dritten Reich“. In: Ansgar Jödicke; Carsten Lehmann; Christian Meyer (Hrsg.): Religion, Partei, Parteiung – Komparative Perspektiven auf dem Weg zu einem Grundbegriff religionswissenschaftlicher Forschung. [=Themenheft der] Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2022, im Druck.

[3] Vorzüglich dargestellt von Manfred Gailus 2021. Meine Rezension „Religion im Nationalsozialismus: kein Widerspruch, aber auch keine feindliche Übernahme. Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. Freiburg: Herder 2021.“ https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/03/glaeubige-zeiten-religiositaet-im-dritten-reich/ (3.1.2022).

[4] Das wichtige Buch, das endlich auch die Bedeutung der Religion für die ‚Volksgemeinschaft‘ aufgreift, erschien für den Band sicher zu spät: Volkskirche: eine Kirche für alle – eine Kirche von allen? Benedikt Brunner: Volkskirche. Zur Geschichte eines evangelischen Grundbegriffs, 1918-1960. (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B 77) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/07/01/volkskirche/(1.7.2021).

[5] Auch hier ist das Kapitel nicht auf der Höhe der Forschung. Die Abstufung des ‚Widerstandes‘ und der Kooperation bei Olaf Blaschke, siehe meine Rezension: Ein Historiker revidiert die Apologie der katholischen Kirche über ihr Verhalten im Nationalsozialismus. Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/11/19/die-kirchen-und-der-nationalsozialismus/ (19.11.2014). Auch S. 196 fehlt diese grundlegende Diskussion.

[6] Dazu hat Christophersen das exzellente Buch Kairos 2008 geschrieben [Diese Anmerkung ist kein Teil des Zitats].

[7] Eberhard Röhm/ Jörg Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche. 4 Bände (in 7 Teilbänden). Stuttgart: Calwer 1990-2007.

[8] Seltsam ist ein Absatz zu Opfern und Verlusten der Diakonie (198), der ohne argumentativen Über­gang auf einen Absatz folgt zum Einsatz von Zwangsarbeitern, also Diakonie als Täter.

[9] 197 (Kommasetzung im Originalzitat). Die Forschungen zu Paul Gerhard Braune, der haargenau die Morde an Behinderten zusammentrug und gegenüber dem NS-Ministerium dokumentierte, ohne dass die Kirche das zum widerständigen Aufschrei veranlasste, wären im Literaturverzeichnis zu notieren.

[10] Jetzt glänzend Gailus 2021. Zuvor schon Christoph Auffarth: Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449.

[11] Das starke Buch von Nora Schulze war noch nicht erschienen. Siehe meine Rezension: Der bayeri­sche Bischof Meiser im ‚Dritten Reich‘ und in der Bonner Republik. Nora Andrea Schulze: Hans Meiser: Lutheraner – Untertan – Opponent (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B: Darstellungen 81) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/10/11/bischof-hans-meiser/ (11.10.2021). Ebenso erschien erst nachträglich das wichtige, aber zu diskutierende Buch von Benjamin Ziemann zu Martin Niemöller; meine Rezension: Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition. München: DVA 2019. Martin Niemöller: Gedanken über den Weg der christlichen Kirche. Hrsg. Benjamin Ziemann; Alf Christophersen. Gütersloh: GVH 2019. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/18/martin-niemoeller/ (18.11.2019).

[12] Thomas Martin Schneider bewertet im von ihm konstatierten „Segen und Fluch der Pluriformität des Protestantismus“, als Segen, weil sie „einer totalen Vergewaltigung von außen, etwa von Seiten des Staates, im Wege steht“ (97). Im Gegenteil, die mangelnde Vernetzung und die neue Zwangsein­heit der Reichskirche ermöglichten und erleichterten die staatliche ‚Vergewaltigung‘.

[13] Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte. Band 2: Reformation und Neuzeit. Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlags-Haus 1999, 42010. Die Neubearbeitung (Hauschild starb 2010) steht noch aus. Zu Gailus, Religiosität im Dritten Reich 2021 s.o. Anm. 3 mit den Perspektiven aus religionswissenschaftlicher Sicht in meiner Rezension!

Schreibe einen Kommentar