Die Erfindung der Katharer

Markus Krumm, Eugenio Riversi, Alessia Trivellone:
Die Erfindung der Katharer.

Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne.

Regensburg: Schnell+Steiner 2023.
ISBN 978-3-7954-3797-8.
49,95 €

 

Mittelalterliche religiöse Bewegungen,
die Erfindung der Katharer und ‚der‘ Kirche

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Den Forschenden über die Schulter blicken: Ein lebendiger Einblick in die Werkstatt historischen Arbeitens am Beispiel der Konstruktion und Dekonstruktion der mittelalter­lichen Gegenkirche der Katharer im Mittelalter und in der modernen Forschung.

Ausführlich:

Für eine Ausstellung Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa entstand dieser Band mit sehr gut ausgewählten, wunderbar farbig gedruckten Illustrationen. Kuratiert wird die Ausstellung, die zuerst an der Uni Bonn im SoSe 2022, dann ab Mai 2023an der Uni Köln gezeigt wird, von Eugenio Riversi (Bonn) und Alessia Trivellone (Montpellier). Sie beruht auf einer Wanderausstellung von Trivellone, die seit 2018 schon an verschiedenen französischen Universitäten gezeigt wurde. Daraus ein Buch zu machen hatte Markus Krumm (München) die Idee und wurde dabei von der Professorin (Julia Burckhardt) und Professor (Knut Görich) für mittelalterliche Geschichte an der LMU unterstützt; viele Studierende in Bonn und München haben sich mit Engagement beteiligt. Namentlich noch hervorgehoben ist Uwe Brunn mit seiner französischen Dissertation.

Ein Protokollbuch der ‚großen Inquisition‘ von 1245-46 enthält die Aussagen von 5460 Personen aus über hundert Dörfern der Region in Südfrankreich, die vor den beiden Dominikanern erscheinen mussten (inquisitio ist mit ‚Untersuchung‘ zu schwach übersetzt, weil es um das ‚Aufspüren‘ von KetzerInnen geht). 15% von diesen gaben ein positives Geständnis ab, dass sie Ketzer hätten predigen hören oder sonstwie Umgang mit ihnen gehabt hätten, alle anderen streiten das ab, obwohl teils im gleichen Haushalt lebend.[1]

Festzuhalten ist, dass (1) Katharer keine Selbstbezeichnung der Verdächtigten darstellt; sie nannten sich meist boni homines oder boni Christiani ‚gute Menschen‘ (in Abgrenzung zu den Katholiken, v.a. aber deren Klerikern). Wie selten der Begriff in den Quellen verwendet wird, ist eine der wichtigen Erkenntnisse, die ich aus dem Buch gezogen habe. (2) Die Fremd­bezeichnung von Seiten der katholischen Amtskirche wechselt mit vielen anderen. (3) Die sog. ‚Kirchenreform‘ nennt alle, die nicht der katholischen Kirche unter dem (vermeint­lichen) Oberhaupt, dem Papst in Rom, Gehorsam leisten, „Häretiker“, die es zu verfolgen gelte. Mit diesem Begriff werden auch Kollegen aus der eigenen Kirche angeschwärzt, die anderer Meinung sind.[2] (4) Die so und anders Bezeichneten bilden keine Einheit, sondern sind lokale Gruppen, die sich oft nicht bewusst sind, dass ihr Glaube und ihr Gottesdienst ‚häretisch‘ seien. (5) Erst die Verfolgung entwickelt Kriterien, wie man Häretiker erkennen könne. Das nehmen die Zisterzienser und die Dominikaner in die Hand und die Franziskaner, die so dem Verdacht entgehen, sie könnten selbst Häretiker sein (was für die Franziskaner-Spiritualen auch zutrifft). Zu Recht also sprechen die Autor:innen von der Konstruktion einer Häresie.[3] Als Höhepunkt ließ der Papst Innozenz III. 1209 den Kreuzzug ausrufen (der gegen die Stedinger in der Umgebung von Bremen 1234 ist nur 180 erwähnt, im Kapitel Häresiekampf als Krieg 140-167 kommen sie nicht vor. Dass sie „sich weigern Steuerabgaben an den Erzbischof zu leisten“, dreht den Spieß um: der Erzbischof hatte gar kein Recht dazu). Aber die so zusammengefassten Ketzer scheuen sich, von den Klerikern die Sakramente anzunehmen. (6) Das Bild einer mächtigen Gegenkirche ist maßlos über­trieben. Dieses Bild zeichnen die Inquisitoren, um die Bedeutung ihrer Nachforschungen wichtig zu machen (sehr gut herausgearbeitet 111-139). (7) Im Widerstand der Südfranzosen gegen die Zentralisierungspolitik sowohl Ludwigs XIV. wie der Französischen Revolution entstand im 19. Jahrhundert die ‚invented tradition‘, das Phantom der Katharer. Aber das Bild einer Region mit eigener Sprache, eigener Herrschaft, eigener Religion, die von Paris aus gewaltsam einverleibt wurde, nicht zuletzt durch die Ausrufung des Kreuzzugs durch den Papst, ist historisch belegt, nur der Name ist in den Quellen meist Albigenser. Was die Forschung und dieses anschauliche Buch, das Einblick in dieser Forschung gibt, zu Recht beanstandet, dass die Bezeichnung als Katharer in den Quellen selten vorkommt. Nur sind die anderen Bezeichnungen ebenfalls Fremdbezeichnungen von außen, die gleichfalls suggerieren sollen, dass man es mit einer vom Teufel gesteuerten gefährlichen einheitlichen Gegenbewegung von Feinden der Kirche zu tun habe. Die Vielzahl der religiösen Bewegun­gen des 12. Jahrhunderts wird ab dem dritten, vor allem aber dem vierten Laterankonzil gezwungen, sich der römischen Kirche unterzuordnen.[4]  Ob man sie Häretiker oder Ketzer (das deutsche Wort leitet sind wahrscheinlich ab von Katharer) nennt oder Katharer, das alles sind Konstruktionen eines organisierten Feindes, den es so nicht gab. Wie kommt man aus dem Dilemma heraus, letztlich die Sprache der römischen Hardliner in der katholischen Kirche zu wiederholen?

Als Religionswissenschaftler habe ich den metasprachlichen[5] Begriff der ‚religiösen Bewegung‘ gewählt und als Konstruktion durch die Fraktion der römischen Zentralisten gegen die Vielfalt der vita apostolica-Bewegungen des 12. Jahrhunderts und ihrer Beschneidung und Verfolgung durch die neue Institution der Inquisition vorgestellt.[6] Der Satz, die „Ausbreitung von Häresie und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung“ (181) suggeriert, dass es sich um eine notwendige Maßnahme handelte. Das ist die Sprache und Behauptung der siegreichen Strömung und Institution, die sich eine Religionspolizei mit unkontrollierbaren Befugnissen aufbaute (aufgrund eines erfundenen Berichts des Konrad von Marburg.[7] Dieser konnte in seiner Ketzerjagd nur gestoppt werden, indem die bedrohten Laien ihn ermorden ließen. Aber danach wurde die Inquisition professioneller). Robert Ian Moore’s Konzeption The Formation of a persecuting society (1987, ²2007) loben die Autor:innen zu recht (200-202):[8] Hier ist die Erfindung der Kirche erklärt: ‚Die‘ Kirche im Mittelalter sind (selbst wenn wir nur von Latein-Europa sprechen und die Vielzahl der Kirchen im byzantinischen Reich und unter muslimischer Herrschaft außen vor lassen) Bistümer sehr unterschiedlicher Art, auf die Grafen, Fürsten, Könige, Äbte, Adelsgeschlech­ter ihre jüngeren Söhne platzieren wollen oder sonst Einfluss nehmen wollen. Der Bischof von Rom hatte zwar den Anspruch auf eine Vorrangstellung, was ihm aber das ganze Mittelalter selten gelang auch durchzusetzen. Als Papst-Partei versuchte die sog. ‚Kirchen­reform‘ diese Bistümer unter ihre Autorität zu zwingen. Dort wurde das Konzept ‚der‘ Kirche erfunden und zeitweilig durchgesetzt, die festlegt, was und wer rechtgläubig sei; alle anderen sind Ketzer (Häretiker, Katharer, Albigenser) und müssen, das ist der nächste Schritt, vernichtet werden. Als diese ‚Verbrechen‘ kaum mehr aufzuspüren waren, erfindet die Inquisition neue Gegner: die Krypto-Juden in Spanien, die Hexen in Zentraleuropa, die Heiden in den neu ‚entdeckten‘ Amerikas.

Ein sehr schön präsentiertes Buch, das einen in die Quellen einführt, die man sonst selbst wenn man in die Bibliotheken oder Archive käme, nicht zu Gesicht bekommt. Das Buch ist stark in der Dekonstruktion der These von einer mächtigen Gegenkirche der „Katharer“. Auch die ‚Erfindung der Kirche‘ ließe sich aus den vorgestellten Quellen herausarbeiten, ist aber nicht als wechselseitiger, komplementärer Prozess erkannt. So gelingt es den Autor:innen nicht, die religiösen Bewegungen in eine Religionsgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts zu integrieren (was ich in meinem knappen Büchlein versucht habe). Dafür aber einen lebendigen Einblick in die Werkstatt der Geschichtswissenschaft.

 

Bremen/Wellerscheid, Juni 2023                                                               Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jean-Paul Rehr stellt die Handschrift 609 aus der Bibliothèque municipale in Toulouse vor, dessen lateinischen Text er transkribiert hat (http://medieval-inquisition.huma-num.fr ) für seine Dissertati­on und für die er hier S. 183-195 je ein Beispiel vorstellt.

[2] Das Wort Cathari (das zuerst für die Novatianer um 300 verwendet wurde, die alle, die in der Christenverfolgung nicht heldenhaft und todesmutig ihr Christsein bekannt hatten, aus der Kirche ausschließen wollten) wird schon hundert Jahre vorher verwendet in der Polemik um die Gregorianische Kirchenreform, bevor Eckbert von Schönau 1163 das Wort auf die Christen im Rheinland anwendet. S. unabhängig voneinander Auffarth, Ketzer 2005, Jan Bremmer: The Rise and the Fall of the Afterlife. London: Routledge 2002, 67-70.

[3] Nur gilt das mehr oder weniger für alle ‚Häresien‘. Die Konstruktion hat in der wissenschaftlichen Literatur extrem ausgebaut Rottenwöhrer: Katharismus. Band 1 (1982) – 7(2011) in 11 Teilbänden. Bad Honnef: Bock+Herchen. Meine Rezension insbesondere zu Band 3, wo die Balkan-These auf wackelige Füße gestellt wird, Die Katharer als südfranzösische Kirche. Wissenschaft und Weisheit 56(1993), 70-75.

[4] Dazu die Rezension: „Die Anweisungen des Papstes, wie man mit religiösen Bewegungen umzugehen hat, indem man die einzig wahre Religion festlegt: das Konzil von 1215“. Johannes Helmrath; Gerd Melville (Hrsg.): The Fourth Lateran Council. Affalterbach: Didymos 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/20/the-fourth-lateran-council/ (20. November 2020).

[5] Die Wissenschaft verwendet statt der zeitgebundenen Sprache der Quellen (Objektsprache) Begriffe, die die Phänomene erfassen und gleichzeitig hermeneutisch öffnen für den vergleichenden Blick. Statt des abwertenden Begriffs Häretiker (gegen ‚Rechtgläubige‘, was wissenschaftlich gar nicht beurteilt werden kann) muss ein nicht-wertender Begriff für religiöse Gruppen gefunden werden. „Religiöse Bewegung“ ist eine Möglichkeit. Vgl. zur Methode das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbe­griffe, hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. 5 Bände. Stuttgart: Kohl­hammer 1988-2001. Christoph Auffarth: Allowed and forbidden words: Canon and Censorship in ‚Grundbegriffe’, ‚Critical Terms’, Encyclopaedias. Confessions of a person involved, in: Ernst van den Hemel; Asja Szafraniec (eds.): Words. Religious Language Matters. New York: Fordham UP 2016, 211-222; 546-550.

[6] Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und religiöse Bewegungen [im Mittelalter]. München: Beck Wissen 2005, ³2016. Zum vorausgehenden Streit um die Regularkanoniker s. meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/15/reichersberg-scutum-canonicorum/ (15. September 2022).

[7] Grundlegende Kommentierung von Bernd-Ulrich Hergemöller: Krötenkuß und schwarzer Kater. Ketzerei, Götzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts. Warendorf: Fahlbusch 1996.

[8] Die wichtigen Untersuchungen in den französischen Archiven von Jörg Oberste und Jörg Feuchter (meine Rezension Zeitschrift für Kirchengeschichte 121 (2010), 103-104) sind nur erwähnt, statt ihre Methode und Ergebnisse in dem abschließenden Ausblick der Forschung zu würdigen.

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