Havelberg Epistola

Anselm von Havelberg, Epistola apologetica.
Edition, Übersetzung, Kommentar.
Heraus­gegeben von Jonas Narchi.

(Klöster als Innovationslabore 13)
Regensburg: Schnell+Steiner 2024.

264 Seiten, 16 Farbabb., Hardcover, fadengeheftet.
ISBN: 978-3-7954-3888-3
€ 49,95

 

Das geregelte Priesteramt ist dem Mönchtum überlegen:
Eine Streitschrift aus dem 12. Jahrhundert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Angriffslustig setzt sich Anselm von Havelberg für seine Lebensweise als Regular­kanoniker ein, als einer aus seinen Reihen, statt weiter zu predigen und Gottesdienste zu hal­ten, sich hinter die Klostermauern zurückzieht als Mönch. Sein „Verteidigungsbrief“ setzt sich mit dem Brief des dortigen Abtes auseinander, wird aber zur Programmschrift, wie wahres Leben in der Nachfolge Christi auszusehen hat.

Ausführlich:

Anselm von Havelberg (gestorben 1158) ist eine interessante Persönlichkeit des Hochmittel­alters. Er ist früh begeistert von Norbert von Xanten und dem Lebensentwurf der so genann­ten Prämonstratenser, deren Orden Norbert begründete.[1] Er wird als eine ebenso begabte wie streitbare Persönlichkeit erkannt und mit dem Bischofsamt von Havelberg betraut, das aber mitten im Gebiet der nicht-christianisierten Wenden liegt. Solange er dort nicht ge­braucht wird, reist er im Auftrag der Kaiser Lothar III., Konrad III. und Friedrich I. Barba­rossa;[2] vor allem auf der Reise nach Konstantinopel 1136 sollte er die Möglichkeiten einer Union zwischen Ost- und Westkirche ausloten, die vor achtzig Jahren sich wechselseitig ex­kommuniziert hatten (JN 17).[3]  Davon berichtet er an Papst Eugen III. im Anticimenon.[4] Im Anschluss daran wird er aktiv in seinem Bistum und initiiert den Bau des Havelberger Doms (1170 geweiht). 1155 wird er zum Exarch von Ravenna berufen. 1158 stirbt er während des zweiten Mailandfeldzugs Barbarossas. Anselm gehört zu der Elite der Bischöfe. Er studierte gemeinsam mit Wibald von Stablo und Arnold von Wied (Erzbischof von Köln 1131-1158) in Lüttich, wo der von ihm heftig angegriffene Rupert von Deutz lehrte, der Benediktiner-Abt. Anselms Texte waren bisher schlecht ediert, so dass eine kritische Ausgabe hoch willkom­men ist.[5] In dem hier neu edierten Text geht es um den Höhepunkt des Streites zwischen den Regularkanonikern, zu denen Anselm gehörte, und den Mönchen, die das Leben der Kano­niker ablehnten; in der klassischen Formel wählten die erst Genannten die vita activa „das aktive Leben“, die Mönche, aber auch die Norbertiner in Prémontré die vita contemplativa (das meditierende Leben).[6]

In seiner Epistola apologetica („Verteidigungsbrief“) verteidigt Anselm das von ihm als Ideal gewählte Leben als Priester in weltlicher Umgebung, nicht abgeschlossen hinter Kloster­mauern. Anlass für diesen Brief war ein Vorfall, der mitten ins Herz der neuen Bewegung der vita apostolica (Leben wie einst die Apostel – als Wanderradikale) traf.[7] Einer unter den Apostolikern verlässt die Mitbrüder und schließt sich den Benediktiner-Mönchen in der Abtei Huysburg an: Petrus, der schon zum Probst des aufstrebenden Stifts Hamersleben (JN 20) aufgestiegen war und es ausbauen sollte. Das Widmungsbild der Hamerslebener Bibel (sehr gut reproduziert S. 23, Abb. 1) zeigt das Selbstverständnis des Stiftes und stellt die Pröbste dar, darunter Petrus (das datiert den Verrat des Petrus auf 1145/46). Die Kanoniker konnten bei Papst Innozenz II. ein Verbot des Übertritts erwirken. Das Kloster, in das Petrus eintrat, am Nordhang des Harz‘ blühte gerade und hatte seine Klosterkirche 1121 weihen können. Das kurze Zeit später verfasste Chronicon des Klosters schildert die Entstehung der Abtei als vorbildhafte Flucht aus der Welt zweier Nonnen und ihres Beichtvaters. Der An­spruch wird erhoben: nur im Kloster Huysburg kann man sich von allen Beziehungen zur „Welt“ ablösen und sich ganz auf Gott konzentrieren. Gegen Anselms angriffslustige „Ver­teidigung“ wehrte sich der Abt des Klosters, Ekbert. Die beiden Briefe sind sehr hilfreich für die Lesenden und für den Kontext nötig im Anhang ediert und übersetzt (JN 231-253). Der Abt findet die Forderung skandalös, dass Petrus nach Hamersleben zurückkehren müsse und dort im Mönchshabit sich als letzter in der Reihe aufstellen müsse, eine Demütigung und ein Affront gegenüber dem Mönchtum. Das geschah wohl nicht und letztlich dürften die Kanoniker die Verlierer gewesen sein (JN29).

Der Brief nennt sich zwar eine Verteidigung und verlangt caritas (Bruder-) Liebe von seinem Adressaten, dem Abt. Anselms ‚korrektive caritas‘ ist aber sehr aggressiv: er wirft dem Abt sogar einige supersticiosa vor.[8] Im Stil einer frühscholastischen Disputation stellt er zunächst die Position der Gegnerseite (oft ironisch) dar, um sie dann zu widerlegen durch (1) auctorita­tes Beweise aus der Bibel und den Kirchenvätern. Dann folgt (2) die scholastische Wider­legung durch „die sichere Wahrheit der unerschütterlichen Vernunft“ (rationes), was Anselm S. 172, 9-15 besonders und selbstbewusst hervorhebt. Anselm erlaubt sich eine Beleidigung (wahrscheinlich: S. 36f) des Rupert von Deutz, dass ein fetter Bauch keinen feinen Sinn er­zeuge (S. 138,10 mit Hieronymus, ep. 52 [p. 435 Hilberg CSEL 54]). Ein zentraler Punkt ist die Frage der Erlaubnis zur Predigt und priesterlichen Handlung. Die Beispiele Ekberts von be­rühmten Mönchen, die als Priester die Gottesdienste für die Laien leiteten und sogar zum Papst aufstiegen, wie etwa Gregor I., dreht Anselm zum Gegenargument: Wenn Mönchtum der höhere Stand sei, dann wären ja die genannten Mönche abgestiegen zum Priester (und heute zum Kanoniker). Mönche seien im Übrigen in der Bibel gar nicht genannt, sondern nur die vita apostolica, die die Kanoniker wie Anselm verwirklichten. Die Perikope von Maria und Martha, in der Marias Zuhören auf die Lehre Jesu höher gewertet wird als die Zubereitung des Mahls für den Gast (Lukas 10,38-42), also die vita contemplativa gelobt wird gegenüber der vita activa, legt Anselm gegen die Tradition so aus, dass doch Jesus derjenige sei, der beides in sich vereint (JN 45. Epistola 194-199).

Jonas Narchi ist eine exzellente Grundlagenarbeit gelungen: (1) Eine kritische Edition auf der Grundlage der Kollation der Handschriften mit (2) kritischem Apparat, (3) den zitierten Autoritäten (mit kursiver Hervorhebung der wörtlichen Zitate), (4) einer Übersetzung, die (5) einzelne Wörter, die sich nicht in einem Wort wiedergeben lassen, erläutert und mit der Verwendung in anderen Texten vergleicht, (5) in Indices aufschlüsselt (Bibelstellen, Perso­nen, Orte; die Bibliographie am Ende der Einleitung 115-129). (6) Das Ganze in der Einlei­tung biographisch, (7) im lokal-historischen Kontext, (8) in seiner literarischen Form („Brief­traktat“) und (9) in seiner rhetorischen Argumentation erklärt, (10) mit den Gegenbriefen des Abtes Ekbert von Huysburg, (11) der Rezeption des umstrittenen Skandals und (12) der Vor­stellung und genauen Beschreibung der acht Handschriften (61-114 mit Abbildungen von Musterseiten). Eine mustergültige Edition einer Korrespondenz, die sich zur rhetorischen Schlacht ausweitete. Wer sich in mittelalterliche Welten einarbeiten will, für die ist das ein sehr guter Einstieg, weit über den Einzelfall hinaus.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2024                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] „Anselm, der als Norbertiner selbst einer umstrittenen neue Bewegung in der Kirche angehörte, wurde damit gewissermaßen zu einem Vordenker der Innovation“ JN 17. Das bezieht sich auf das Gesamtprojekt „Klöster als Innovationslabore“; JN nennt 17 Anm. 33 Literatur.

[2] Die Gesandtschaftsreise des Burchard von Straßburg im Auftrag Friedrichs I. in den Nahen Osten, besonders zu Saladin, den er aber verfehlt, die exzellente Edition und Kontextualisierung von Chris­tine Thomsen. Dazu meine Rezension: Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit. Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. 2018. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).

[3] Im Kontext (mit meiner Rezension): Vermittler, Trickser, Versager: Die lateinischen Kultur-Makler am griechischen Kaiserhof im 12. Jahrhundert. Leonie Exarchos: Lateiner am Kaiserhof in Konstantinopel: Expertise und Loyalitäten zwischen Byzanz und dem Westen (1143–1204). (Mittelmeerstudien 22) Paderborn: Schöningh 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/11/10/leonie-exarchos-lateiner/ (10.11.2022).

[4] Dieser wichtige Text sollte im Rahmen der MGH auf Initiative von Peter Classen ediert werden, es blieb aber bei Vorarbeiten (JN 111-112). Eine deutsche Übersetzung hat Hermann Josef Sieben erstellt (Anticimenon: über die eine Kirche von Abel bis zum letzten Erwählten und von Ost bis West. [Archa Verbi. Subsidia 7] Münster: Aschendorff 2010) Eine kritische Edition des Antikeimenon von Julia Becker und Johannes Büge ist im Literaturverzeichnis „im Erscheinen“ angegeben. Die Vorarbeiten von Johann W. Braun zur Epistola kannten zudem die Handschrift F1 noch nicht, die einen wichtigen Einschub enthält (JN ediert sie im Anhang 246-253).

[5] Jonas Narchi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er forscht dort zu den Schriften Anselms von Havelberg. Seinen Namen kürze ich im Folgenden ab mit den Initialen JN.

[6] Zum Problem die exzellente Edition des scutum canonicorum des Arno von Reichersberg in der gleichen Reihe: Vgl. Auffarth, [Rez] Leben wie die Jünger, aber nicht als Mönche. Eine Streitschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Arno von Reichersberg: Scutum canonicorum. Edition, Übersetzung, Kommentar. Herausgegeben von Julia Becker. Regensburg: Schnell+Steiner 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/15/reichersberg-scutum-canonicorum/ (15. September 2022).

[7] Die vita apostolica-Bewegung im Kontext des 12. Jahrhunderts Auffarth, Die Ketzer ³2016, 19-46.

[8] Das starke Wort (134, Zeile 8, Adjektiv zu superstitio, was meist mit „Aberglaube“ übersetzt wird) übersetzt JN zu schwach mit „Hinzudichtungen“ erklärt aber (in 135, Anm. 12 mit Laurens Janssen 1975) als „illegitime Hinzufügung häretischer Lehrmeinungen, die nicht in der Tradition der Schrift oder der Väter verankert sind.“ – Die Alliteration und Paronomasie scriptum … non tam ociosum quam etiam onerosum (134, Zeile 4) „Schriftstück … nicht gerade mußevoll, sondern vielmehr mühselig“ ver­sucht das rhetorische Element nachzuahmen, muss „mußevoll“ aber in der 135, Anm. 10 erklären. Dies gelingt JN ausgezeichnet, indem er den „ambivalenten Schlüsselbegriff“ aufzeigt: otium verlangt Extrazeit neben der Arbeitszeit, ist aber auch ein Vorwurf an die Mönche, die solche Zeit in Untätig­keit verbringen. Das vacare (134, Zeile 13) „zu widmen“ wäre besser mit „sich (die freie) Zeit zu nehmen (für die Lesung der Heiligen Schriften)“ wiederzugeben (statt sie im otium zu verbringen).

Rechtsgeschichte NT Band 3

 

Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum NT, Band 3:
Lukas-Sondergut, Matthäus-Sondergut, Prozess Jesu.

Herausgegeben von: Folker Siegert in Verbindung mit Martin Pennitz, Susanne Benöhr-Laqueur
und weiteren Fach­gelehrten.

Berlin: De Gruyter 2024. XI, 974 Seiten.

Veröffentlicht: 14. August 2024.

ISBN: 9783110656107.
184,95 €.

 

Recht als historische Verankerung der Texte des Neuen Testaments

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Band 3 (von sieben geplanten Bänden) behandelt aus rechtsgeschichtlicher Perspektive das ‚Sondergut‘, also die Texte aus den synoptischen Evangelien, die nicht bei den Vorlagen Logienquelle und Markusevangelium (Band 2 in Vorbereitung) enthalten sind. Wieder wer­den wichtige Einsichten vorgelegt, ob der entsprechende Abschnitt in die Sphäre der Tora, hellenistischer Rechte, des (provinzial-) römischen Rechtes zuzuordnen ist und entsprechend erklärt werden kann.

Ausführlich:

Sondergut bei Lukas und Matthäus

Nachdem der umfangreiche Einführungsband die Einleitungsfragen vor anderthalb Jahren gründlich vorgestellt hat,[1] erscheint nun als nächster der dritte, nicht weniger umfangreiche Band zum ‚Sondergut‘ des Lukas und des Matthäus. Das heißt, der zweite Band, der die Logienquelle und den Grundbestand der synoptischen Evangelien im Markus-Evangelium behandelt, ist noch nicht erschienen. Der Kommentar als Ganzes soll am Ende sieben Bände umfassen. In Band 1 ist die Aufteilung der rechtsgeschichtlich zu erklärenden Perikopen auf die Bände vorgestellt.[2] Erfreulich, dass ein zweiter Band so zügig erschienen ist, viele Vor­arbeiten also schon vorliegen![3]

Der jetzt gedruckte Band 3 enthält Kommentare zu 27 Perikopen des Lukasevangeliums und 31 aus dem Matthäusevangelium, für die es keine Vorlagen weder in der Logienquelle noch im Markus-Evangelium (die werden in Band 2 kommentiert) gibt, das sog. Sondergut.

Lukas und sein Evangelium

Der Band erklärt zunächst konzis die Besonderheiten des Lukas-Evangeliums (1-8). Lukas als Autor stellt sich selbst vor als Verfasser des Doppelwerkes des Evangeliums und der Apos­telgeschichte. Die Apostelgeschichte mit dem doppelt erzählten Bindeglied der Himmelfahrt Jesu versteht sich als Fortsetzung des Aufbaus des Reiches Gottes, das nun durch die Jünger Jesu (Apostel) ausgebaut wird, bis es im Schutzgebäude des „Römischen Friedens“ (Pax Romana) schließlich das Zentrum des Imperiums, Rom erreicht. Prozess und Hinrichtung Jesu seien nicht das Ende. Lukas stellt sich als Autor selber vor. Er ist Grieche, seine Sprache ein ausgefeiltes literarisches Griechisch, er kennt sich aus in der Ägäis und stammt wohl aus Makedonien bzw. der Troas. Römische Begriffe und Amtsbezeichnungen wendet er korrekt an. Gleichzeitig hat er sich vertraut gemacht mit der biblischen Geschichte in der sprach­lichen Form der Septuaginta. Die jüdische Geschichte hat er studiert, „z.T. wohl schon aus Josephuslektüre“ (5). „Lukas gibt sich in den Wir-Passagen als Begleiter des Apostel Paulus (was vielleicht nur ein Wunsch ist und eine nachträgliche Sympathiekundgebung).“ (4)

Immer anstößig war # 106 das Gleichnis vom „raffinierten Verwalter“ Lukas 16,1-8 (236-268), dessen Anstößigkeit (9 Macht Euch Freunde mit dem Mammon des Unrechts!) in den folgen­den Versen 8-12 „förmlich gelöscht“ werden. Ist das Lob für den Verwalter ernst gemeint? Die Interpretation hängt davon ab, ob man eher mosaisch-jüdisches oder provinzial-römi­sches Recht zugrunde legt. Gilt hier das jüdische Zinsverbot (dazu # 110, S. 316-345) und vielleicht das Sabbatjahr oder ist Zinsnehmen nach römischem Recht erlaubt, etwa dass als Rückzahlung 100% vereinbart werden, aber nur 96% ausgezahlt wurden (247)? Jesus als Sohn eines Handwerkers im römisch besetzten Galiläa kann solche Geschäftspraktiken ge­kannt haben. Siegert macht darauf aufmerksam, dass das Prinzip der ‚Biblischen Theologie‘ hier nicht greift, „die das Neue Testament nur aus dem Alten erklären möchte“ (261). Das Gleichnis eines Managers mit Prokura, der sich angesichts seiner drohenden Entlassung durch den orientalischen Despoten Kapital verschafft, indem er Freunden Vorteile verbrieft, funktioniert nach römischem Recht. Das ist die Bildhälfte des Gleichnisses. In Lukas‘ theo­logischer Deutung wird daraus: „Gott ist derjenige, der vermittelt durch seinen Haushalter, Christus, Menschen ihre Schuld (hier ist an vielerlei Situationen zu denken) erlässt – nicht aus Großzügigkeit, sondern sogar in einer höheren, nämlich uneigennützigen Art von Klug­heit.“ (261).[4] Spannend die kapitalismuskritische, aber nicht kaptalismusfeindliche Aus­legung des „Wucherns mit den Pfunden“, dem Gleichnis mit den anvertrauten Talenten und dem Verbot/Erlaubnis des Zins-Nehmens: Lk 19, 11-27 # 110 (S. 316-345). # 114 enthält eine interessante Bemerkung zur Frage von Jesu Gewaltlosigkeit angesichts von Lk 22, 35-38 „… der verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert!“ (S. 404). # 95 (S. 89-102) enthält wichtige Beobachtungen zu Synagogen in der Diaspora und in Judäa.

Reform der Halacha (Lebensführung): Das Neue am Matthäusevangelium

„Während das Lukasevangelium starkes Interesse an Politik, Wirtschaft und Recht erkennen lässt, wie sich v.a. am Vokabular des Sondergutes erwies, ist das Matthäusevangelium der Klassiker für christliche Ethik […], eine spezifisch christliche Halacha.“ Für Siegert – im An­schluss an Eric Ottenheijm und Martin Varenhorst – reagiert eine Gruppe von Judenchristen (nicht ein Autor Matthäus) auf die rabbinische Reform, die ein Judentum ohne Tempel ent­wickelt. An einer Stelle nennt das Mt.Ev. seine Alternative ekklesia ἐκκλησία Mt 16, 17f kom­mentiert in # 136, S. 668-690), dort als weltweite Kirche (katholiké καθολική nicht wie sonst die lokale Gemeinde). Mt 18,18, wo Jesus alle Jünger, nicht nur Petrus, beauftragt mit der Leitung der Kirche. Damit ist „noch keine Weltkirche gemeint, sondern eine Erneuerung Is­raels im Mutterland wie in der Diaspora“ (672). Ekklesia ist die Vollversammlung des ‚ganzen Israel‘, nicht die falsche Etymologie der ‚Herausgerufenen‘. Dazu kommt der Stiftungs­begriff, bzw. das Fundament („Auf diesen Felsen [Petra – Petrus, dazu S. 674; 682f] werde ich meine Kirche bauen.“). Die Kirche in Rom hat erst im 4. Jh. den Anspruch erhoben, als Kir­che des Petrus die ganze Kirche zu leiten: „Das Gewicht, das Mt 16,18f heute zukommt, hat es erst seit dem 4. Jh.“ (678; 683-686). Die „Schlüsselgewalt“ ist # 137 besprochen (691-703. Hier hätte ich auch etwas zur priesterlichen Absolution erwartet). Das Zölibat „Eunuchen für das Himmelreich“ # 141 (754-765). Kirchenausschluss und Konfliktlösung # 139 (718-730). Eintritt durch die (Kinder-) Taufe # 150. Mich interessiert besonders das Thema Tempel­steuer und die Di-Drachmen (τὰ δίδραχμα, nicht der Denar von # 67),[5] zu denen ich Substan­tielles finde in # 138 (704-717) einschließlich des fiscus Iudaicus, der Tempelsteuer, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels weiter von den Römern eingezogen wurde für römische Tempel 708f; 712; 714 (die zur Trennung von ethnischen Juden und ‚Gottesfürchti­gen‘ führte, wenn die letzteren die Steuer nicht zahlten).

Der Prozess Jesu – von Martin Pennitz

Der Prozess Jesu bildet ein viel diskutiertes Thema, das Martin Pennitz hier ausführlich rechtsgeschichtlich untersucht und einordnet (845-959 115 Seiten!).[6] Das ist kein spezifisch lukanisches Thema, sondern ausführlich bei allen drei Synoptikern und im Johannes-Evangelium berichtet und theologisch gedeutet: die Rolle der Römer, der Prozess vor dem jüdischen Gremium des Hohen Rats, des Hohen Priesters, die Überstellung an den Präfekt Pontius Pilatus, Folter, Todesurteil, Kreuzigung, Bestattung. Kann das so abgelaufen sein, wie sind die widersprüchlichen Aussagen zu erklären? Die Erzählungen der Evangelien ver­weben ineinander Bericht, Paränese für die Hinterbliebenen, Umdeutung der Katastrophe der Bewegung in einen Sieg, Verknüpfung mit dem Pesach-Fest, Deutung als Opfer; jedes Evangelium mit einer anderen Interpretation des Geschehenen. MP analysiert aus dem Wis­sen römisch-rechtlicher Institutionen einen ordentlich durchgeführten Prozess (# 159, Ab­schnitt 4), der durchaus durchgeführt worden sein kann zu dem Zeitpunkt, den Johannes nennt, „an dem auch die Passalämmer zu schlachten sind“. „Denn zum einen erstrecken sich römische Gerichtsferien üblicherweise auf Feiertage und Spiele, und zum anderen bieten derartige Ereignisse zugleich häufig den Anlass, dennoch durchzuführende (Straf-) Ver­fahren dann amtswegig auszusetzen bzw. niederzuschlagen.“ (869). Im Fazit macht MP deutlich, dass man kein aus allen Evangelien harmonisiertes Verfahren gegen den ‚histori­schen‘ Jesus rekonstruieren oder andrerseits einem der Evangelisten den Vorzug geben kann. „Vielmehr werden die vier Evangelienberichte – inspiriert durch die wegweisenden Thesen von Elias Bickerman – als jeweils eigenständige Auslegungen eines nur in Basisdaten tradierten geschichtlichen Ereignisses herangezogen […] Jeder Verfasser der Evangelien – neben den theologischen Anliegen, die hier aber weitgehend ausgeblendet bleiben können – (setzt sich) zugleich zum Ziel, eine (freilich aus Laiensicht) schlüssige und glaubhafte Erzäh­lung des rechtlichen Passionsgeschehen vorzulegen.“ (948). Das fasst MP dann für Markus [und noch deutlicher im Matthäus-Evangelium], im Lukas und noch einmal sehr anders im Johannes, den MP mit Siegert in drei Phasen unterscheidet. Wer Schuld am Tode Jesu habe, sei eine Frage, die man nicht einer Seite zuschreiben könne. Dazu auch # 149 „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25b. 829-835).

Gesprächsangebot

Siegert versteht sein Riesenprojekt so: „Demgegenüber (Barths Ablehnung des ‚an der Natur des Menschen orientiertes Naturrechts‘ und Rudolf Sohms allzu geistlicher Kirchenbegriff) soll der rechtsgeschichtliche Kommentar zum Neuen Testament RKNT ein von Hemmnissen freies Gesprächsangebot sein.“ (x). Das klingt allzu bescheiden, der Herausgeber weiß aber, dass seine eindeutigen Datierungen, Zuordnungen, Bezüge zu hebräisch-aramäischen Par­allelen und die Bestimmung der rechtlichen Sphären viel Diskussion auslösen werden – hoffentlich! Denn der Kommentar ist spannend, erhellend für viele, gerne freihändig ausge­legte Texte des NT, die in diesem Kommentar einen präzisen historisch-kritischen Ort erhal­ten.[7] FS verwendet eine klare, direkte Sprache und schlägt den Bogen von der Angabe des rechtsgeschichtlichen Themas über Definitionen von Rechtstermini (moderne Systematik – antike Begriffe), die Zuordnung zu Rechtssystemen (Tora, altorientalisch, hellenistisch, römisch), Paralleltexten aus diesem Rechtssystem, Textbefund, Quellen bis hin zur Herme­neutik der Perikope und weiterführende Überlegungen in Exkursen, die meist tiefgreifende Fragen behandeln, wie der Exkurs „Verantwortung“ (262-267).[8] Ein kurzer Ausblick von Susanne Benöhr-Laqueur erklärt, wie das Thema im heutigen Recht eingeordnet wird. Mit dem ganzen stupenden Wissen und der Weisheit eines Gelehrtenlebens erschließt Folker Siegert nicht nur die wenigen Verse einer Perikope historisch-kritisch, sondern prüft auch im Blick auf heutige Probleme und Krisen, welche Erkenntnisse man aus der umsichtig er­schlossenen Exegese gewinnen kann. Man liest keine Seite ohne kluge Einsichten, über­raschende Querverbindungen und treffsichere Einordnung von Diskursen und Thesen. Hoffentlich gelingt es, das große Werk abzuschließen.

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2024                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] In meiner Rezension des 1. Bandes begrüße ich den rechtsgeschichtlichen Kommentar zum Neuen Testament als ein grundlegendes Instrument, das bisher nie unternommen wurde. Für die historisch-kritische Aus­legung ist es unverzichtbar, die verschiedenen Sphären von Rechtsordnungen zu unterscheiden.
„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, Gott aber, was Gottes ist!“ Notwendige Kenntnisse des Rechts für das Verständnis des Neuen Testaments. Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament. Band 1; Einleitung, Arbeitsmittel und Voraussetzungen. Herausgegeben von Folker Siegert 2023.

https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/05/01/rechtsgeschichte-neues-testament/ (1.Mai 2023).

[2] Die Gliederung des Gesamt-Projektes mit den Bänden 2-6 ist S. 965-974 wiederholt mit der Numme­rierung der Perikopen mit einem # 136 (beispielsweise, also Raute und Zahl).

[3] Als Redaktionsschluss hatte der Herausgeber das Jahr 2020 vorgesehen, „was neuere Eintragungen aber nicht ausschließt“ (xi). An der Kommentierung haben 15 Wissenschaftler:innen mitgearbeitet, die S. [975] genannt sind.

[4] Das Gleichnis habe ich für die mittelalterliche Kritik der Katharer an der kirchlichen Bußpraxis inter­pretiert in der Auslegung des Papstes Innozenz III. Christoph Auffarth: Angels on Earth and Forgers in Heaven. A Debate in the High Middle Ages Concerning Their Fall and Ascension. in: CA; Loren Stuckenbruck (eds.): The Fall of the Angels. Leiden: Brill 2004, 192-223.

[5] Eine der ganz seltenen Fehler: an der Stelle Mt 17,24 ist der Plural verwendet zu τὸ δίδραχμον.

[6] Martin Pennitz (*1962) ist seit 2014 Professor für Römisches Recht an der Universität Innsbruck. Seine Hompage Univ.-Prof. Dr. Martin Pennitz – Universität Innsbruck (uibk.ac.at) (13.10.2024). Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen MP.

[7] Das Buch ist im Hardcover fadengeheftet für vielfache Benutzung geeignet, die in der Natur eines Kommentars liegt. Zu wünschen ist eine baldige Paperback-Ausgabe, die in zwei Teilbänden (Lukas, Matthäus) leichter handhabbar wäre. Eine digitale Ausgabe würde den Effekt nicht bieten, dass man über das Suchen auf andere Perikopen und Begriffe stößt, nach denen man nicht direkt gesucht hat.

[8] Der Exkurs greift die Überlegungen aus dem Exkurs 5 in Band 1 auf und bringt Max Webers Unter­scheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ins Spiel mit der Weiterführung in Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung 1979 anstelle von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung 1954.

Bauer: Phidias

Franz Alto Bauer: Phidias in Konstantinopel?
Reale und virtuelle Präsenz eines Künstlers und seines Kunstwerks
.

(Ananeosis 1) Schnell+Steiner 2024.
168 Seiten, fadengeheftet.
ISBN 978-3-7954-3920-0.
40 €.

 

Den Allmächtigen im Bild gestalten:
Das Idealbild des Phidias von Zeus als Vorbild für christliche Künstler?

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Konnten sich christliche Künstler in der neuen Hauptstadt Mitte des 5. Jahrhunderts ein Bild zum Vorbild nehmen: Stand der Zeus aus Olympia des Phidias für eine Zeitlang in Konstantinopel? Franz Alto Bauer verneint diesen liebgewordenen Mythos, führt damit aber sehr gut ein in die spätantiken Vorstellungen von Kunst als Abbild Gottes.

Ausführlich:

Das berühmte Bild des Zeus in Olympia, erschaffen von dem Genie Phidias in der klassi­schen Epoche der Griechen, wurde im fünften Jahrhundert nach Christus (also rund 750 Jahre später) nach Konstantinopel in die Hauptstadt des Römischen Reiches gebracht und dort mit anderen Meisterwerken griechischer Künstler neu ausgestellt zu werden – im Um­bruch zu einem christlichen Reich „Byzanz“.[1] Das behauptet jedenfalls ein Historiker um das Jahr 1000, Kedrenos in seiner Weltchronik.[2] Das neue Buch von Franz Alto Bauer, der schon mehrere Bücher zur Stadt, Plätzen und Kunstwerken der Spätantike veröffentlicht hat,[3] untersucht nun die Wahrscheinlichkeit dieser Nachricht. Sicher, die Notiz bei Kedrenos ist ziemlich fragwürdig, wenn er neben den Wunderwerken antiker Götterstatuen auch von einer Abschrift der beiden homerischen Epen auf einer Drachenhaut berichtet. Doch das genügt FAB nicht, er untersucht gründlich die Möglichkeiten: welche Statuen sind genannt, kann man solche fragilen Statuen transportieren, waren diese Götterbilder überhaupt noch an Ort und Stelle? Die Meisterwerke wurden vielfach kopiert. Im Fall des Zeus von Olympia, wo das Original von vielen Autoren bewundert, aber nie präzise beschrieben ist, oder der Athena vom Parthenon, die in einem Brand zerstört wurde, noch ehe der Tempel der Athene zur christlichen Kirche umgenutzt wurde. Wie das Kultbild des Phidias unterging, lässt sich nur erahnen, sicher fehlten kontinuierliche Institutionen zur Pflege des empfindlichen Kunst­werks. Mit Blick auf die Verhältnisse in Olympia sind zwei ältere Thesen nicht mehr gültig: (1) Alfred Mallwitz vermutete, dass mit dem Einfall der Heruler auf die Peloponnes Kult und Spiele in Olympia endeten.[4]  (2) Eine Festung wurde in Olympia gebaut, die den Zeus-Tempel einschloss. Zwischen die Säulen wurden Bronze-Statuen von den Wiesen rund ums Heiligtum in die Festung hereingeholt. Die Festung galt als Schutzbau gegen die Heruler, neuere Forschungen datieren sie aber erst ins fünfte Jahrhundert. Interessant noch: Die Säulentrommeln des Zeustempels liegen so wie Dominosteine (Versturzlage), wie sie nicht durch ein Erdbeben hervorgerufen werden, sondern mutwillig heruntergestürzt wurden (Abb. S. 82). Wenn es das Zeus-Bild in Olympia noch gab, dann war zu seiner Sicherung die Festung gebaut worden.

Doch damit ist das Thema nicht abgeschlossen. Denn „das Zeusbild [des Phidias galt ja] als Inbegriff künstlerischer Perfektion“ (83-107); man zählte es unter die sieben Weltwunder.[5] Die materielle Ausformung einer immateriellen Gottheit kritisierte Platon ähnlich, wie er die Erzählungen über Götter als Mythen kritisierte, aber im Neuplatonismus gewann das ‚Er­schaffen‘ eines Bildes geradezu göttliche Qualität, etwa bei Plotin (98).[6] “Mit dem elfen­beinernen Zeus des Phidias, den Perikles im Tempel von Olympia aufstellen ließ, gelangte […] ein Bild des Olympischen Zeus nach Konstantinopel, nicht aber als materielles Werk, sondern als Gegenstand der Phantasia, […] in jedem Fall aber volatil und abgekoppelt von der Monumentalstatue in Olympia“ (107). Das heißt, FAB rechnet damit, dass es auch kein anderes Bild, eine Kopie des Zeus von Olympia in Konstantinopel gegeben habe musste (wie beispielsweise das S. 8 abgebildete Marmorbild in der Eremitage von St. Petersburg, fünf Meter hoch), um dennoch diesen Zeus als schlechthin kongeniale materielle Darstellung des höchsten Gottes zu verstehen. Eine wichtige Diskussion zur Ekphrasis ist angeschlossen, da sie neben der ‚Bildbeschreibung‘ die emotionale Erregung bei den Betrachtenden einbezieht (124-130). Am Schluss diskutiert FAB sehr knapp in einem ‚Epilog‘ (131-133) die Frage, ob das Bild des Phidias vom obersten Gott das Christusbild beeinflusst haben könnte. Er erzählt die Anekdote von dem Maler, der zur Zeit des Patriarchen Gennadios (458-471 n.Chr.) das Christusbild nach dem Vorbild des Zeus (ἐν τάξει Διός) gemalt habe. Als Strafe dafür sei ihm die Hand verdorrt. Der Patriarch dagegen heilte ihn durch das Gebet. Der Historiker der Anekdote fügt hinzu, dass der Christus mit kurzem lockigem Haar die authentischere Dar­stellung (σχῆμα ἀληθέστερον) sei.[7] Mit dem Pantokrator mit wallendem Haar und Vollbart wurde die Darstellung kanonisch. Ein ähnliches Epigramm auf Phidias von Philippos auf­greifend zu Phidias Bilderfindung „Kam wohl vom Himmel der Gott, um selbst Dir sein Antlitz zu zeigen, oder stiegst Du hinauf, Phidias, um ihn zu sehen?“[8] schreibt ein Byzanti­ner im 12. Jh. das gleiche dem Maler Eulalios zu, der in der Apostelkirche in Konstantinopel die Kuppel mit dem Pantokrator ausmalte. Hier müsste freilich noch vieles diskutiert wer­den, was über das selbstgesteckte Ziel dieses Buches hinausgeht, aber eigentlich die Frage­stellung zentral berührt: Welche Bedeutung hatte der Zeus des Phidias in der christlichen Stadt Konstantinopel?[9]

So bleiben offene Fragen: Die These, dass es ein materielles Bild des Zeus in Konstantinopel gegeben habe, ist für die gold-elfenbeinerne Statue des Phidias jetzt so gut wie ausgeschlos­sen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass ein anderes Zeusbild die öffentliche Meinung erregte. Die Anekdote von Gennadios‘ Heilung der Hände des Malers, der das Bild des All­mächtigen für die Darstellung Christi verwendete, lässt zwei Aussagen zu: (1) Es gab Theo­logen, die die Verwendung des Zeusbildes für blasphemisch hielten. (2) Der regierende Patriarch aber griff ein und bestätigte die Berechtigung der Übertragung auf Christus als Pantokrator. Der Zeitansatz trifft die bisher angenommene Zeitspanne Mitte des 5. Jahrhun­derts. Woher kommt diese plötzliche Aufregung und Debatte, wenn doch der Zeus des Phidias schon eine lange Zeit als Heruler das Idealbild des obersten Gottes galt?

Die Fragen schmälern nicht die großartige, sehr gut (exzellent gedruckte) Bilder[10] und Texte verbindende Darstellung vom Selbstverständnis spätantiken Kunstverständnisses in der Konfliktzone zwischen ‚heidnischer‘ und ‚christlicher‘ Kunst und einer gemeinsamen Ästhe­tik in dieser Epoche.

 

Bremen/Wellerscheid, 3. Oktober 2024                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das römische Reich behauptete sich rund tausend Jahre, nachdem der westliche Teil untergegangen war. Seine Einwohner verstanden sich als Römer Ρωμαῖοι. Westliche Wissenschaftler aber verpassten dem verbliebenen Reich – der westliche war ja untergegangen – den Namen Byzanz, den verächt­lichen Namen der Siedlung Byzantion, über der Kaiser Konstantin seine nach ihm benannte neue Hauptstadt bauen ließ.

[2] Die Quellen in deutscher Übersetzung sind jetzt leicht zugänglich in dem Buch zu antiken Künstlern Der Neue Overbeck. Die antiken Schriftquellen zu den bildenden Künsten der Griechen. Hrsg. Sascha Kansteiner; Klaus Hallof; Bernd Seidensticker, Sebastian Prignitz. 5 Bände. Berlin: De Gruyter 2014. ²2022. [Rez. Auffarth in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 23 (2015), 398-416]. Die Quellen zum Zeus in Olympia DNO 2, 221-284, Nr. 942-1020.

[3] Franz Alto Bauer (Jahrgang 1965) ist seit 2006 Professor für spätantike und byzantinische Kunstge­schichte an der LMU München. Promotion in München bei Johannes Deckers. Herbst 2001 Habilita­tion an der Universität Basel (bei Beat Brenk). Seine Homepage (25.9.2024) Franz Alto Bauer – Byzanti­nistik, Byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik – LMU München (uni-muenchen.de).

[4] Alfred Mallwitz war der Bauforscher der Olympiagrabung und präsentierte (zur Olympiade in Mün­chen) die Ergebnisse: Olympia und seine Bauten. München: Prestel 1972, Chronologie 313.

[5] Hier kann FAB auf der wichtigen Studie von Thomas Pekáry aufbauen: Phidias in Rom. Beiträge zum spätantiken Kunstverständnis. (Philippika 16) Wiesbaden: Harrassowitz 2007.

[6] Erfreulicherweise sind Begriffe auch in griechischer Schrift gedruckt. Noch nicht kennen konnte FAB Irmgard Männlein-Robert: Mystik und Allegorese. Der Platoniker Porphyrios über Götterstatuen (Περ ἀγαλμάτων). Eine Studie zur spätantiken Religionsphilosophie. (Roma Aeterna 16) Stuttgart: Steiner 2024.

[7] FAB 131. Theodoros Anagnostes, hist eccl. 1,15, p. 107 Hansen.

[8] FAB 91-93. In der Anthologia Palatina 16,81.

[9] Auffällig ist, dass sich das Christusbild grundlegend wandelt vom ‚Prinzenbild‘, dem sehr jungen, bartlosen Teenager mit der am Kaiserhof modischen hellen Kurzhaarfrisur zum Mann mittleren Alters mit vollem dunklen Haar und Vollbart als ‚Pantokrator‘. Möglicherweise ist die Abkehr vom kaiser­lichen Prinzen zum Lehrenden und segnenden Weisen bzw. zum Bild des allmächtigen Gottes in der Spiegelung des Zeus des Phidias eine Folge der  Erosion kaiserlicher Macht, sichtbar in der Eroberung des ‚ewigen‘ Rom durch die Goten 410 n.Chr. Die Zeitspanne zwischen dem Transport und Aufstel­lung des Zeus von Olympia im Viertel des Lausos etwa 431 und dem Brand 475 war attraktiv, ist aber durch die Argumentation FABs nicht mehr als Argument zu gebrauchen. Von dem nun fehlenden Argument ist nicht berührt, im Gegenteil in FABs Buch herausgearbeitet, dass der Zeus des Phidias das ideale Bild des höchsten Gottes war und blieb. Die Datierung der Veränderung des Christusbildes (Gott Vater bleibt im Osten für eine bildliche Darstellung tabu) ist zu präzisieren. Dazu Martin Büchsel: Die Entstehung des Christusporträts. Bildarchäologie statt Bildhypnose. Mainz am Rhein: von Zabern 2003, ³2007. Christoph Auffarth: Das angemessene Bild Gottes: Der Olympische Zeus, antike Bildkonvention und die Christo­logie. In: Natascha Kreutz; Beat Schweizer (Hrsg): Tekmeria. Archäologi­sche Zeugnisse in ihrer kulturhistorischen und politischen Dimension. Beiträge für Werner Gauer. Münster: Scriptorium 2006 [Mai 2007], 1-23. Christoph Auffarth: The Materiality of God’s Image: Olympian Zeus and the Ancient Christology. In: Jan N. Bremmer; Andrew Erskine (ed.): The Gods of Ancient Greece: Identities and Transformation. (Edinburgh Leventis Studies 5) Liverpool 2010, 465-480.

[10] Alle Bilder sind sehr gut ausgewählt und hervorragend reproduziert. Besonders aufgefallen sind mir der Zeus aus der Eremitage S. 8, das Gemälde des Joseph Dorffmeister „Phidias die Zeusbüste vollendend“ 1802, S. 93, und die Rekonstruktion der Zeusstatue im Lausospalast, die Antoine Helbert 2018 in Farbe gezeichnet hat, obwohl da schon bekannt war, dass der Lausos-Palast nicht der Neun-Konchen-Halle der Archäologie entspricht (S. 128f).

Kaufmann: Bauernkrieg

Thomas Kaufmann: Der Bauernkrieg: ein Medienereignis.

Freiburg: Herder 2024.
ISBN 978-3-451-39028-9.
544 Seiten.
58 Abbildungen. Karten auf den Vorsätzen.

 

Nur ein Medienereignis?
„Bauernkrieg“ oder die Revolution von 1525?

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine hervorragende Forschung zur Darstellung der Revolution von 1525 in den Kontro­versen der durch Druck verbreiteten Flugblätter und Schriften. Die Erklärung der Bilder darin, die die Leser zum Zugreifen aufforderten, sind einzigartig. Die These jedoch, dass es den ‚Bauernkrieg‘ nur in den Medien gab, trifft nicht den berechtigten und mutigen Protest des gemeinen Mannes gegen die sich verschärfende Fürstenmacht.

Ausführlich:

Das Gedenken an 450 Jahre ‚Bauernkrieg‘ im Jahre 1975 erwies sich als ein Paukenschlag. Peter Blickle benannte ihn neu als „Revolution von 1525“, indem er zeigte, dass, was die Gegner als „Krieg“, als „Bauern“ und als „deutsch“ bezeichneten, ganz andere sozialge­schichtliche Dimensionen hatte.[1] Der „gemeine Mann“ waren alle Menschen, die nicht durch Adel oder Priesterweihe privilegiert waren, darunter Bürgermeister, Stadtschreiber, (evange­lische) Prediger, Handwerker. Mit den Zwölf Artikeln hatten sie, programmatisch auf die Bibel gestützt, die ihnen die Reformation ‚demokratisch‘ in die Hand gegeben hatte, das an­gemaßte Recht auf Steuern und Knechtschaft für Unrecht erklärt. Damit errangen sie antago­nistisch zur entstehenden absolutistischen Adelsherrschaft der Kommunalismus und die Ständeversammlung regional zunächst Erfolge, aber auch längerfristig gesehen. Wie bearbei­ten die Bücher zum 500. Gedenktag die Revolution von 1525?[2]

Wie TK im ersten Kapitel knapp bespricht, galt die Revolution von 1525 als bedeutendes Ereignis in der Geschichte Europas, das erst unter den Konfessionen, dann nach der Franzö­sischen Revolution von den Linken als ihr Vorläufer und dann von den Rechten verein­nahmt wurde. Bevor Blickle seine These veröffentlichte und weiter ausbaute, hatten die Nationalsozialisten die Deutungshoheit besetzt mit der Habilitationsschrift des bekennenden Nationalsozialisten Günther Franz: Der deutsche Bauernkrieg. München: Oldenbourg 1933 (immer wieder nachgedruckt in der rechtslastigen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft).[3]

Dem setzt TK eine überraschende These entgegen: „Den Bauernkrieg gab es, weil er medial initiiert und inszeniert wurde“ (19) Und weil „in den Köpfen mancher Publizisten ein Bauernkrieg tobte“ (21). Mit der Medienrevolution der Druckerpresse hat sich TK intensiv beschäftigt und ihre Bedeutung für die Reformation beschrieben, sie sogar als „Mitte der Reformation“ bewertet.[4] Aber TK würde deshalb nie so weit gehen, die Reformation habe es nur gegeben, weil sie medial initiiert und inszeniert wurde. So sieht man gespannt der Begründung seiner These entgegen.

Kapitel 2 resümiert „Bauernkriege vor dem Bauernkrieg (55-135). TK beginnt mit den ‚Pro­gnostiken‘, die aus der Sternenkonstellation eine Sintflut 1525 voraussagen. Dann geht es um Gesellschaftsentwürfe aus dem 15. Jahrhundert wie die Reformatio Sigismundi, der Oberrheini­sche Revolutionär, die Reformation Friedrichs III., die Luther in An den christlichen Adel 1523 in vielen Punkten aufgriff (77). Thomas Morus‘ Utopia, 1516 zuerst auf Latein erschienen, wird in einer deutschen Ausgabe ein Jahr vor dem Bauernkriegsjahr 1524 in Basel publiziert. In den folgenden Abschnitten zeichnet TK das Bild des ‚Bauern‘ in Literatur und Graphik nach. Herausragend und kritisch zu der bedrückenden Lage der Bauern ist der Karsthans (97). Mehrere Aufstände sind bekannt vor 1525: der Arme Konrad, der Pfeifer von Niklashausen, der Bundschuh.

Das längste Kapitel 3 behandelt Die Publizistik der Bauernkriege – der Bauernkrieg in der Publizistik (137-248). „Bauernkrieg ist ‚mehr‘ und auch etwas ‚anderes‘ als die Summe der regionalen und territorialen Bauernaufstände.“ (137) – die These habe ich erst auf den letzten Seiten vollständig gefunden, dass es den Bauernkrieg nämlich nur als Konstrukt der Druck­erpresse gegeben habe. Wie sich die Bauern untereinander verabredeten, mündlich, geheim, Treffen auf einer Wiese, Anfertigen einer Fahne, das alles ohne ein geschriebenes Wort. So konnten sich Bauernhaufen sammeln, Klöster plündern, zuerst im Kempten (Februar 1525). Die professionellen Krieger und Söldner standen schon vorher in Alarmbereitschaft. Pro­grammatisch erheben ab März die im süddeutschen Bereich weit verbreiteten Drucke der Zwölf Artikel die Forderungen des gemeinen Mannes und begründen sie jeweils mit einer Bibelstelle.[5] Im April einige Erfolge der Aufständischen, dann im Mai drei verheerende Niederlagen, eher Gemetzel in Zabern, Böblingen und Frankenhausen. Die göttliche Ordnung war wiederhergestellt? Luther sah sich zu Unrecht als Anstifter verunglimpft und schrieb sein ‚hartes Büchlein‘ Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern und ein parteiisches Gutachten gegen die Zwölf Artikel. Immer wieder berufen sich die Wittenber­ger auf Römer 13 „Jedermann sei untertan der Obrigkeit! Denn sie ist von Gott eingesetzt.“ (172-183). Nur ganz wenige solidarisierten sich mit den Aufständischen und erklärten ihre Forderungen für berechtigt. Die anonyme Flugschrift An die Versammlung gemayer Pawer­schaft forderte sogar die Wahl der Regierung (183-192). Wichtig ist TKs Ab­schnitt über die literarische Vernichtung Thomas Müntzers als Ketzer und Werkzeug des Teufels (215-229).[6] Im Schlussabschnitt urteilt TK, dass „Müntzer um des Brausens des Geistes willen agitierte und verführte und das mäßigende Wort fahren ließ“. Griff etwa Luther in seinem Wider die räuberischen Rotten der Bauern mäßigend ein? Luthers mäßigendes Wort folgte erst nach dem maßlosen Wüten der Obrigkeit. Weit mehr ist die auf Ausgleich bedachte Rolle des Kaisers erwähnenswert. Und Luthers Theologie verfins­terte sich durch ein düsteres Gottesbild, nachdem der ‚Bauernkrieg‘ niedergeschlagen war, als er de servo arbitrio in den Druck gab (255-260). Im „Unfre[7]ien Willen“ schreibt Luther, dass Gott allmächtig sei – TK zeigt, dass Luther das Wort sonst nur ausnahmsweise verwendet – in dem Sinne, dass Gott für alles verantwortlich sei mit der Konsequenz, dass Menschen Gottes oder des Teufels Wirken nicht unterscheiden können. Der verborgene Gott (deus ab­sconditus) ist undurchschaubar und schrecklich. Er schickt die aufrührerischen Bauern und die Türken, die Pest und die Sintflut. Christen können sich nur an den offenbaren Gott (deus revelatus) halten, an Christus.

Thomas Kaufmann ist bekannt für umfangreiche und umfassende Bücher mit überborden­den Anmerkungen seiner großen Gelehrsamkeit und den vielen fest unbekannten Fremd­wörtern.[8] In diesem Buch sind die kaum weniger umfangreichen Anmerkungen mit dem neuesten Forschungsstand in einen Anhang ausgelagert.[9] Was dem Buch aber sehr zugute kommt, sind die Abbildungen mit den sehr guten Erklärungen dazu. Mir sind wohl viele Abbildungen schon begegnet, aber ich habe sie nie so gut und erschöpfend erklärt bekom­men (viele allerdings sehr klein und blass gedruckt). In den präzisen Informationen zu den Flugschriften, Abhandlungen, Liedern, vor allem aber der Entschlüsselung der Abbildungen von Drucken liegt eine große Stärke der Darstellung, darunter ausführlich zur Bauernkirmes von Beham und Dürers Bauernkriegssäule 301-308; 308-318).

Die volle These finde ich erst am Ende ausgeführt: Es gab viele regionale Bauernaufstände, den ‚Bauernkrieg‘ aber habe die Publizistik daraus gemacht. Damit kehrt TK zurück zur zeit­genössischen Wahrnehmung der Gebildeten und ihrem Vorurteil gegenüber den Forderun­gen der Mutigen, die ihr Leben für die Gerechtigkeit einsetzten. Obwohl viele Anhänger der ‚evangelischen‘ Bewegung durchaus Sympathien empfanden, steht bei TK die Ablehnung der Wittenberger dagegen,[10] die wie viele Bürger die Aufständischen pauschal als ungebildet, unzivilisiert, eben „Bauern“ verachteten, apokalyptisch als Werkzeuge des Teufels verstan­den. Am Schluss das Fazit: „Auch der Bauernkrieg war sinnlos.“ (326) Das in dem Sinne, je­der Krieg sei sinnlos. Aber man kann durchaus Sinn auf verschiedenen Seiten bilanzieren. Auf Seiten der Obrigkeit war der Krieg die Chance, ihre Macht weiter auszubauen zum früh­absolutistischen Flächenstaat, die Abgaben weiter zu erhöhen, Widerständige grausam zu foltern und öffentlich hinzurichten zur Abschreckung. Auf Seiten der Theologen ließ der Streit, wer denn an der Revolution schuld war, die konfessionelle Spaltung schnell unüber­windlich werden – und die andere Folge: die Unterordnung unter die Fürstenmacht unter dem Grundsatz von Römer 13 statt eines Widerstandsrechts, das man auf „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apostelgeschichte 5,29) hätte aufbauen müssen. Zwingli hat das gemacht. Weiter besteht ein Sinn darin: Der gemeine Mann solidarisierte sich in vielen Regionen nördlich der Alpen. Hoffnungen konnte er sich machen, weil etwa im Tübinger Vertrag 1514 der Herzog Ulrich Zugeständnisse machen musste, die der Aufstand des Armen Konrads erzwungen hatte. TK nennt den Ortenauer Vertrag (197-200). Menschen mit großer Mobilität brachten Nachrichten und Gerüchte – TK nennt Buchführer, d.h. fahrende Buchhändler, also Anbieter von Druckwerken, die von Kirmes zu Kirmes durchs ganze Land kamen. Dazu gehörten aber auch Söldner, die in Gasthäusern prahlten, wohin sie reisten, um Sold zu verdienen, also wo Aufstände drohten oder schon brannten. So gab es Verbindungen der regionalen Aufstände, die man zu einem Krieg aufsummieren kann. So aber, bei TK auf das gedruckte Wort reduziert, wird die Revolution von 1525 eine Folge von (zufälligen?) regionalen Aufständen ohne längerfristige Bedeutung. Die Revolution von 1525 ist wieder der Bauernkrieg, der nur in den Medien stattfand und dort meist ‚die Bauern‘, sel­tener der Gemeine Mann als Akteur genannt wird. Die Forderungen der Bauern werden theologisch disqualifiziert. Die Perspektive von Wittenberg und Luther, so kritisch und ge­nau mit der präzisen Chronologie der Erscheinungsdaten sie hier geboten wird, lässt sozial­geschichtliche Kontexte vernachlässigen. So lese ich diese Darstellung als eine hervorragende Untersuchung über die Bedeutung der Drucker als Akteure im Aufstandsgeschehen der Revolution des gemeinen Mannes, der Beurteilung/Verurteilung aus Sicht der Theologen, die ihre Agenda in Gefahr sahen. Aber die sozialgeschichtliche Seite ist unterschätzt. Blickles Neubewertung als ‚Revolution von 1525‘ wird wieder aufgelöst in eine Reihe von regionalen Aufständen. Lyndal Ropers Einleitung dagegen beginnt mit der Feststellung „Der deutsche Bauernkrieg war der größte Volksaufstand in Westeuropa vor der Französischen Revolu­tion.“[11] Was auf den ersten Blick sich diametral widersprechende Bewertungen erscheinen, kann man – etwas zurückgenommen – als sich ergänzende Perspektiven verstehen. TK hat die Wahrnehmung der Zeitgenossen aus dem bürgerlichen und fürstlichen Lager magistral beschrieben, die aus Angst geborene Verachtung der Intellektuellen gegen die Störer der – ungerechten – Ordnung, dabei aber die Dynamik und die mündliche Kommunikation der Revolution des gemeinen Mannes unterschätzt. Auch so ist die Lektüre des Buches ein großer Gewinn.

 

Bremen/Wellerscheid, September 2024                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Peter Blickle: Die Revolution von 1525. München Oldenbourg 1975; ³1993, bibliographisch ergänzt 2004. Das Thema wählte ich für mein erstes Staatsexamen, nach dem ich bei meinen Historiker-Professoren ein Seminar belegt hatte, das v.a. auch den Tiroler Aufstand behandelte (bei Jürgen Bücking und Dietrich Kurze; Bücking starb im selben Jahr, sein Buch über Michael Gaismeier erschien posthum), und las dazu auch den Aufsatz meines kirchenhistorischen Lehrers Heiko Augustinus Oberman: tumultus rusticorum. Vom „Klosterkrieg“ zum Fürstensieg. Beobachtungen zum Bauernkrieg unter besonderer Berücksichtigung zeitgenössischer Beurteilungen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 85 (1974), 157–172. Vgl. Blickle: Luther und der Bauernkrieg. Interpretationen zwischen den Gedenkjahren 1975–2017. In: Heinz Schilling (Hrsg.): Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 92) Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2017, 233-243.

[2] Zwei weitere große wissenschaftliche Monographien sind angekündigt: von Lyndal Roper, Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2024, 672 Seiten. und von Gerd Schwerhoff. Der Bauernkrieg, eine wilde Handlung. München: Beck 2024, 720 Seiten.

[3] Kaufmanns Wertung im Haupttext ist in Anm. 216 (S. 349) anders: Franz bestätigt Hitler, dass seine Bauernpolitik (Reagrarisierung) das damals verfehlte Ziel des Bauernkrieges jetzt erreicht hat. Der Bauer ist zum tragenden Pfeiler unseres Volkslebens geworden. Der wikipedia-Artikel zu Franz dokumentiert Franz‘ Karriere im NS. Blickle ist im TKs Kapitel nicht einmal erwähnt.

[4] Thomas Kaufmann:  Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucks­formen. (Beiträge zur historischen Theologie 187). Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XX, 846 Seiten. Meine Rezension dazu: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/19/mitte-der-reformation/ (19.11.2019). – Dort auch zum Autor, dem Göttinger Kirchenhistoriker. Seinen Namen kürze ich ab mit dem Initialen TK.

[5] TK findet die biblischen Begründungen zumeist schwach: 145-172, bes. 154-159. Die Gegenseite, wie die Fürsten und Herren Leibeigenschaft und immer neue und höhere Abgaben begründeten, nämlich es sei immer schon so gewesen und von Tradition und Religion geschützt, behandelt TK nicht. Wer die Macht hat durchzusetzen, braucht nicht zu begründen. Historiker schon!

[6] Die Historische Kommission für Sachsen-Anhalt hat zwei wissenschaftliche Tagungen geplant, in denen das Thema Bauernkrieg aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen werden soll. Auf der ersten Tagung im Oktober 2024 Verketzerungsprozesse in Mitteldeutschland im Spätmittelalter und 16. Jahrhundert soll zunächst ein Phänomen in den Blick genommen werden, das bei der Auseinandersetzung mit Thomas Müntzer und anderen Vertretern der „radikalen Reformation“ eher selten beachtet wird: der Vorgang der „Verketzerung“ dieser Gruppierungen durch die etablierten Wittenberger Reformatoren. https://www.hsozkult.de/event/id/event-145983 (25.08.2024).

[7]

[8] Auch in diesem Buch sind Wörter enthalten, die erklärungsbedürftig sind, wie ipsissima vox rusticorum: S. 154, nicht übersetzt und S. 247 wiederholt. Ipsissima vox ist ein Begriff, den man für die wenigen ‚echten‘ Worte Jesu (seine ureigenste Stimme/Wort) verwendet; rusticorum der Bauern. Da muss man schon im neutestamentlichen Seminar aufgepasst haben und auch noch ordentlich Latein können. Ich habe mir noch andere Stellen notiert; das Beispiel mag genügen.

[9] Überschlägig ist die Zeichenzahl der Anmerkungen etwa der des Haupttextes gleich.

[10] Andreas Bodenstein von Karlstadt, den Wittenberger Antipoden des Zirkels um Luther, erwähnt TK öfter, aber nicht als Vertreter eines anderen Programms. Kaufmann ediert dessen umfangreiches Schrifttum, 2024 erschien der 7. Band, der die Schriften des Jahres 1524 umfasst. Elektronischer Zugang zum work in progress: Karlstadt-Edition | Critical Edition Andreas Bodenstein, called Karlstadt (29.09.2024).

[11] Lyndal Ropers Buch (wie oben Anm. 2, Zitat S. 9) erschien just an dem Tag, an dem ich die Rezension abschließe. Das Buch werde ich ebenfalls rezensieren.

 

Auffarth: Opfer

 

Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023.

251 Seiten.
ISBN 978-3-666-55465-0.

 

Das Ende des Opfers:
Der Mythos vom Ende der Gewalt in der Europäischen Religionsgeschichte

Eine Selbstvorstellung von Christoph Auffarth (s. Anm. 1)

„Opfer“ ist ein Wort, das wir alltäglich hören, sehen, lesen. Empathie ruft es hervor, wenn aus Zahlen (Hunderte oder waren es Tausende, die im Mittelmeer ertrinken?) das Schicksal von Einzelnen mit ihrer Geschichte wird. Dabei ist die heutige Bedeutung des Wortes (Kapitel 1) eine Zuspitzung, den sie im Laufe der Europäischen Religionsgeschichte erfahren hat. Dieser Geschichte geht das Buch nach, indem es die Epochen vergleicht, in denen Opfer als Ritual praktiziert wurden, mit den Bedeutungsänderungen, wenn Opfer als Metapher gebraucht wird, die keine Realität des Rituals mehr kennt. „Das Ende des Opfers“ ist daher der zentrale Wendepunkt in meiner Geschichtserzählung. In der Diskussion der Forscher um die Frage, was macht die Moderne aus, wird das Opfer zur Obsession der Moderne. Der Stolz, das Opfer überwunden zu haben, bringt die Religion auf die Anklagebank, Gewalt zu erzeugen, während die Moderne Gewalt überwunden habe: Welch eine Illusion! Denn im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert erzeugen Kriege, der Verkehr, der Fortschritt, die menschen-erzeugte Katastrophe unserer Lebenswelt, die Atomkraft mehr Opfer an Menschen und die Schlachthöfe mehr Tiere als je zuvor. Die Kriege für die Entstehung der Nationen im 19. Jahrhundert verlangen Menschenleben, die mit dem ‚Opfer am Altar des Vaterlandes‘ den gewaltsamen Tod zu einer positiven Gabe für die Gemeinschaft täuschend verkehren: die Nationalreligion. Um ein Vielfaches gesteigert wird das verführende Wort, wenn alle, die nicht zum Volk gehören, die angeblich das Volk bedrohen durch ihre Andersheit, ermordet werden: der Genozid und das unvergleichliche Verbrechen der Shoah. Die Opfer sind schuld, nicht die Täter.

Die Suche nach einem Denkmal in der neuen Hauptstadt Berlin ‚für die Opfer des Nationalsozialis­mus und der Kriege‘ führte zu einer erbitterten Diskussion. Bei Staatsbesuchen gibt es ein Ritual der Ehrung für die Toten: des unbekannten Soldaten oder sonst ein Militär; seit dem Zweiten Welt­krieg kam allmählich das Bewusstsein auf, dass im ‚Totalen Krieg‘, beim ‚Moral Bombing‘ Zivilisten zu Opfern werden. Der Bundeskanzler ‚der Einheit‘, Helmut Kohl wollte eine Plastik der Künstlerin Käthe Kollwitz zum Denk­mal wählen, allerdings die 40 cm große Plastik um das Vierfache vergrößert. Sie zeigt eine Mutter, die in ihrem Schoß um ihren toten Sohn, einen Soldaten, trauert.[2] Reinhart Koselleck, selbst Kriegsteilnehmer und nun in ein Beratergremium gewählt, das aber nur Feigenblatt-Funktion hatte, protestierte in Zeitungsbeiträgen.

Das alles ist im Kapitel 8 (197-228) meines Buches als eine Entwicklung beschrieben, zu der die Europäische Religionsgeschichte[3] den Entwicklungspfad[4] bildet. Wie kam es zu diesem Entwicklungspfad? Die christliche Einengung des Opfers auf den Opfertod Jesu führt zu zwei Konsequenzen: (1) Der gewaltsame Tod ‚stellvertretend für andere‘ ist das Ideal für alle Christen (also auch für Franzosen für Franzosen im Krieg)[5] und akzeptiert ‚das Leben als Leiden‘. (2) Im Hebräerbrief des Neuen Testaments ist Christus gleichzeitig der Opfernde (Hohepriester) als auch das Opfertier. Das Unmögliche, gleichzeitig passiv Getöteter als auch aktiv sakral Tötender zu sein, ermöglicht  den christlichen Soldaten: Er opfert sich für den Glauben/den nationalen Gott und er tötet andere, um die Seinen zu schützen! In der konfessionellen Trennung wird das ‚Opfer‘ der Unterschied. Katholiken betonen das metaphorische Ritual, Protestanten bestreiten die Wirkung des ‚Rituals‘ (ex opere operato)[6] (Kapitel 7, S. 167-196).

Die historische Rückerinnerung trifft auf das „Ende des Opfers“, auf die Spätantike. Dies ist ein zentrales Kapitel (Kapitel 6, S. 133-166) der Metamorphose vom Opfer-Ritual zur Opfer-Metapher, weil es zeigt, dass das ‚Ende des Opfers‘ (des Opferrituals) auf alle religiösen Traditionen zutrifft. Alle lehnen der Opferritual ab: nicht nur Juden, deren Tempel zerstört, aber die die Bibellesung in der Synagoge gleichwertig feiern.[7] Christen feiern kurzfristig noch das jüdische Opfer am Jerusalemer Tempel, polemisieren dann aber gegen das ‚heidnische‘ Opfer. Nur, auch die ‚Heiden‘ lehnen das Opferritual als Tötung von Tieren als barbarisches Ritual mehr und mehr ab. Kaiser vermeiden das öffentliche Opfer, weil die Spezialisten, die die Leber des Opfertiers ‚lesen‘ , darin den baldigen Tod des Herrschers wahrsagen könnten. Ihre Macht wäre dahin. Das Ende des Opfers erfordert eine umfassende Mutation von Religion, eine „Achsenzeit“.[8]

Diesen drei Entwicklungen der Religionsgeschichte (Moderne mit der National­religion, christliches ‚Selbstopfer‘, Ende des Opfers in der Spätantike) stelle ich ent­gegen die Religionen des praktizierten Opferrituals, die ich aus eigenen Forschungen kenne: die antik-griechische Art des Opferns, u.a. mit dem einzigartigen Ritual des ‚Ochsen-Mords‘ (der Bouphonia. Kapitel 4, S. 79-108). Die Transformation des in der Hebräischen Bibel beschriebenen Opfercodex bis zum ‚Selbstopfer‘ Christi im Hebräerbrief. (Kapitel 5, S. 109-132).

Ein weiteres zentrales Kapitel aber bietet Das Opfer als Gabe. In dem Kapitel 3 (S. 63-78) weite ich das Thema vom Opfer als blutigem Tieropfer, ja Menschenopfer auf die Weite und die soziale Bedeutung in opfernden Gesellschaften, auf die Gabe. Das Opfer ist nicht nur ein Geschenk an die Götter, eine Kommunikation mit den Göttern (die eine fiktionale Erzählung bleibt), sondern auch mit den Menschen, die man soziologisch beschreiben kann. Als Dreieck gewinnt die Graphik eine neue Plausibilität: Was einerseits eine materielle Einbuße für die Gebenden bedeutet, ist gegenüber der Gottheit ein – nur erhoffter[9] – Gewinn, sicher aber gewinnt man soziales Kapital (Anerkennung) in der Gemeinschaft und wird beim nächsten Opfer eingeladen werden, wird also von der Gabe, die nun andere ausgeben, einen Teil (zurück) bekommen.

 

Abb. 1 (aus meinem Buch): Konfiguration des Opfervorgang (S. 18)

Kapitel 1 diskutiert die Semantik des Wortes Opfer/sacrificium/victima und die These von der Höherentwicklung der Kultur. Kapitel 2 stellt gegeneinander die festliche Mahlzeit, zu der Gott einlädt (eine Idee von Julius Wellhausen, 1844-1918), während seine Zeitgenossen im Viktorianischen England W. Robertson Smith, James Frazer u.a. die Gewalt hervorhoben und die Illusion des Opfers, was Sigmund Freud übernahm für seinen Mythos vom Vatermord des Ödipus in Totem und Tabu 1912/13.

Das Buch des Religionswissenschaftlers Christoph Auffarth bietet in dichter Darstellung ein umfassendes Bild der Entwicklung der Europäischen Religions­geschichte am Leitfaden des Opfers vom Alten Orient, dem Alten Israel, über die griechisch-römische Antike und das christliche Zeitalter[10] bis zur (vermeintlich säkularen)[11] Moderne. Die Ausrufung des ‚Endes des Opfers‘, der Gewalt im blutigen Opfer‘ und stattdessen des endgültig, abschließenden christlichen vergisst aber (1) den Fleischkonsum, wenn er nicht mehr sakral reduziert ist und (2) sakral ausgeweitet ist als Menschenopfer im Krieg bis hin zur Shoah und den Genoziden der Moderne.

Christoph Auffarth
Prof. für Religionswissenschaft
an der Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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Abb. 6.2 (S. 151) Die Grafik soll zeigen, wie das (frühe) Christentum einerseits aus dem Opferritual herausfällt mit der Ablehnung des blutigen Opfers, andrerseits andere, die kleinen Opfer weiter praktizierte.

Handlung mit welcher Materie? Klassische Kulte Antike Christen Weitere Entwick­lung jüdischer/ christlicher Gottesdienste
Tiere schlachten Rinder Schafe/ Ziegen Ferkel/ Schweine Tauben

 

Im Heiligtum: Geschlachtet und verspeist: Altar (Olympisches O.) – Oder ganz verbrannt oder versenkt. (Chthonisches O.)   Keine kultischen O. auf dem Altar. [Chr. profane Schlachtung. – Jüdisch, geschlachtet nach religiösen Regeln („kosher“)]
Weihungen/ Gaben Etwas zu essen. Modelle aus Ton aufgestellt Modelle aus Ton: Tiere, Beter. Menschl. Glieder Menschliche Glieder aus Wachs
Votive aufstellen Haus für Gott. Götterbilder (Holz, Metall) Edelsteine Münzen Tempelbauten

 

 

 

Geld-Opfer

Ikonen, Apsis-gemälde, Mosaiken ex votos.

Geld-Opfer

Geld „für die Armen“
Libation (Flüssiges) vergossen/ getrunken Wein Milch Honig Wein Milch Honig Wein [metaphorisch: Blut] Brot [metaphorisch: Fleisch] + Agape-Essen Wein und

 

 

 

Brot

Gemeinsames Essen Brot, Fleisch, Oliven, Feigen Brot, Fleisch, Oliven, Feigen
Licht anzünden Lampen mit Öl, Fackeln Lampen mit Öl, Fackeln Lampen mit Öl, Kerzen Lampen mit Öl, Kerzen
Wohlgeruch räuchern Duftrauch Fettdampf des Opfertiers Weihrauch vor den Bildern, bes. des Kaisers Weihrauch Weihrauch vor den Ikonen der Heiligen 

 

[1] Auf Englisch abrufbar: a self-introduction to my German book in English (99+) Auffarth, Opfer: | Christoph Auffarth – Academia.edu (12.08.2024).

[2] Ich habe fälschlich die Statue dem Künstler Ernst Barlach zugeschrieben. Empört über Kohls Entscheidung ereiferte sich der Historiker Reinhart Koselleck: Im Lande der Täter müsste es ein anderes Denkmal geben als dieses, das Rollen festschrieb (trauernde Mutter, getöteter Soldat) und vor allem ein typisch christliches Motiv für alle ‚Opfer des Nationalsozialismus und der Kriege‘ wählte: Maria beweint ihren toten Sohn Jesus, den vom Kreuz abgenommenen Retter der Welt (die Pietà). Vgl. die Rezension Auffarth, Wie wird aus Erfahrung und Erinnerung Geschichte? Zu Reinhart Kosellecks Konzeptionen: Reinhart Koselleck: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung. 2023. Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen 2023 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/09/19/reinhart-koselleck-geschichtskonzeptionen/ (19. Sept. 2023).

[3] Europäische Religionsgeschichte unterscheidet sich von Christentumsgeschichte oder Kirchenge­schichte, indem auch andere Akteure die Religionsgeschichte gestalten, die nicht ‚religiös‘ definiert sind, also Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, aber auch Atheismus, Marxismus, Feminismus etc. Das Prinzip der ‚mitlaufenden Alternativen‘ hat Burkhard Gladigow 1995 entworfen: „Europäische Religionsgeschichte“, in: Hans G. Kippenberg; Brigitte Luchesi (Hrsg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, 21–42. Repr. in Ders.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer 2005, 289–301. Eine Alternative hat Helmut Zander entwickelt, vgl. meine Rezension dazu: Auffarth, Helmut Zander: ‚Europäische‘ Religionsgeschichte. Religiöse Zughörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich. In: Religious Studies Review 44.1 (2018), 101f.

[4] Mit Max Weber sprach man von „Okzidentaler Entwicklung“ als der am weitesten fortgeschrittenen Entwicklung („Moderne“, „modernity“), der früher oder später die anderen Kulturen würden folgen. Später sprach man von „Sonderweg“. Dann kam die Erkenntnis, dass es keine Fortschritts-Linie gibt, die für alle gleich ist. „Multiple  modernities“ erkannte Shmuel  Eisenstadt von der Perspektive von Jerusalem aus, einst der Nabel der Welt. „Entwicklungspfad“ bedeutet, dass jede Kultur ihre Entwicklung nimmt, indem sie durch eigene Umstände (wie wirtschaftliche, soziale und kulturellen Besonderheiten) eine neue Stufe erreicht, die dann neue Bedingungen schafft (die nicht die gleichen einer anderen Kultur sind), von denen sie sich weiter entwickelt: jede nimmt ihren eigenen Pfad.

[5] Das hat Guy Stroumsa großartig für den französischen Juden Robert Hertz und seinen Lehrer Èmile Durkheim herausgearbeitet (Intellectual 2021 [wie Anm. 7], 19-28). Das christliche Ideal des Opfertods nimmt der jüdische Vater im Ersten Weltkrieg für sein kleines Kind auf sich.

[6] ‚Das Ritual wirkt‘, egal ob man daran glaubt oder nicht.

[7] Guy Stroumsa hat in 2005 das für die Rolle des Rabbi und den Talmud beschrieben, Zunächst aber nicht für die anderen religiösen Traditionen der Spätantike. Auffarth:  Ende des Opfers – eine jüdische Perspektive. Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spät­antike, 2011. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/12/30/das-ende-des-opferkults-die-religiosen-mutationen-der-spatantike-von-guy-g-stroumsa/ (30.12.2011). Dann aber erweitert er die Perspektive im Essay La fin du sacrifice revisited: Meine Rezensionen Auffarth: Jenseits des Eurozentrismus: Der Weltbürger Guy Stroumsa erschließt intellektuelle Blicke auf Religion und die Achsenzeit in der Spätantike: Guy Stroumsa: The Crucible of Religion in Late Antiquity. Selected Essays. (STAC 124) Tübingen: Mohr Siebeck 2021. Guy Stroumsa: Religion as Intellectual Challenge in the Long Twentieth Century. Selected Essays. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/04/27/stroumsa-religion/ (28. April 2023).

[8] Das Konzept hat Jan Assmann genealogisch hergeleitet, vor Karl Jaspers und Shmuel Eisenstadt. Guy Stroumsa hat das zunächst für das (rabbinische) Judentum beschrieben La fin du sacrifice 2005, dann – nach meinen Rezensionen – für alle religiöse Traditionen der Spätantike La fin du sacrifice reviseted in: GS:Crucible 2021 (wie Anm. 7), 151-162.

[9] Das dafür verwendete lateinische Wort do ut des „Ich gebe, damit Du gibst“ unterstellt den antiken Menschen, dass sie in der Absicht opfern, damit sie dank der Großzügigkeit der Gottheit etwas (mehr) zurück erhalten. In der Gabenökonomie (die ich in dem Kapitel erkläre) ist die Gabe/Opfer aber kein Tauschgeschäft, sondern Reziprozität , wechselseitige Anerkennung des sozialen Status.

[10] Die Kontinuität des Opferns im Christentum trotz der scharfen Ablehnung des blutigen (Tier-) Opfers habe ich in der unten stehenden Grafik entwickelt.

[11] In einem neuen Buch erklären Lorenz Trein und ich, dass die Alternative das Säkulare/das Religiöse keinen Gegensatz darstellt: „Ein systematischer Aufriss“, in: Lorenz Trein; Christoph Auffarth (Hrsg.): Säkulare Religion. Ein Beitrag zur Säkularisierungs­debatte. (Religion: Debatten und Reflexionen 3) Tübingen: Mohr Siebeck 2024.

 

Heid Altar und Kirche

Stefan Heid: Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie.

Dritte Auflage. Regensburg: Schnell+Steiner 2023.
512 Seiten.
ISBN 978-3-7954-3425-0.
50 €.

 

Der Fehler der Päpste:
Ein Kunstbuch und ein Streitbuch zum Altar in der christlichen Antike

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das Buch diskutiert die christlichen Altäre in der Antike mit exzellenter Detailliertheit und Illustrationen, will damit aber beweisen, dass die Liturgie-Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1963) ein Fehler war, den Altar in die Mitte der Gemeinde zu rücken und dass der Priester diese zum Mahl einlädt.

Ausführlich:

Der Autor will mit diesem Buch zweierlei beweisen: (1) In einer Untersuchung zur früh­christlichen Archäologie will er unter dem besonderen Gesichtspunkt zeigen, wie der Altar in den Kirchengebäuden ausgesehen hat und wie er den materiellen und sakralen Mittelpunkt im Gottesdienst der antiken Christen bildete. (2) Eine Streitschrift gegen die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die rückte nämlich den Altar oder genauer die Mensa (‚Tisch‘, auch Volksaltar genannt) in die Mitte der Gemeinde. Der Priester steht nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde, wenn er ‚die Gaben bereitet und das Opfer darbringt‘, sondern tut das nun im Angesicht der mit ihm feiernden Laien. Damit sind große theolo­gische Konzeptionen verbunden (in Abkehr von Spitzensätzen des Ersten Vatikanischen Konzils 1870, die die Kirche zu einer reinen Klerikerkirche machte). Der Autor, Stefan Heid, des nach fünf Jahren bereits in der dritten Auflage vorgelegten Buches ist eine Autorität auf dem Gebiet der christlich-römischen Archäologie. In der Zusammenfassung (S. 473) gibt er kurz und bündig eine Abfuhr „Der heutige Volksaltar, ob rund oder eckig, ist das Produkt einer historischen Fehlinformation bzw. eines ahistorischen Archäologismus. […] Seine [sc. des Altars] Funktion war von vornherein, Ort des Gebetes und auch Ort des Opfers zu sein. Das Gebet ist auf Gott hin gerichtet und zufolge einer universalen Praxis nach Osten zu voll­ziehen. […] Allein die lateinische Kirche hat sich vom ökumenischen Konsens verabschiedet […] in der Meinung, den Ursprung wiederherzustellen.“[1] Die Rüge gegenüber dem Archäologismus verwendet ein Wort, das der letzte Pius-Papst vor dem Zweiten Vatikanum noch einmal gegen den so genannten Modernismus schleuderte.[2] Indem der Autor also die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils als Fehlweg zeiht, dient die Untersu­chung des antiken Altars dem historischen Beweis, dass ‚die Tradition‘ Recht hat. Und dass alle Unrecht haben, die für die ersten Gottesdienste von einem Gebäude der ‚Kirche‘ ausgehen, das zunächst keinen Altar kannte und die Gemeinschaft sich im Kreis um einen Tisch zum Mahl versammelte.

Den Schritt, was ein Altar in den antiken Religionen war, genauer die unterschiedlichen Formen von Einrichtungen, die wir als „Altar“ zusammenfassen, also die Religionsgeschichte, lässt der Traditions-Archäologe aus. Damit sind zwei grundlegende Argumente nicht berücksichtigt: (1) der antike Altar stand nicht im Tempel, sondern vor dem Gebäude im Freien. Wenn ein Opfer dargebracht wurde, versammelte sich die Festgemeinde mit dem Rücken zum Bild Gottes, der Priester also sowohl mit Blick auf die Gemeinde und das Gottesbild, das freilich viele Meter entfernt nicht wirklich einbezogen war.[3] Das heißt, der antike Altar wird nicht für alle Formen des Gottesdienstes gebraucht (Gebete, Hymnen, Geschenke, festliche Aufführungen) und er hat keine direkte Beziehung zum Bild im Tempel. Im Tempel selbst gab es kleinere Abstellmöbel, Tischchen oder gemauerte Bänke, auf denen man eine Gabe ablegen oder Duft entzünden konnte. Das Bindeglied sei der ‚Sakraltisch‘, der im Innern des Tempels vor dem Götterbild aufgestellt wurde (20f) und der ‚Schaubrottisch‘ des Jerusalemer Tempels.[4] (2) Im Judentum entwickelte sich schon, bevor der Tempel im Jahre 70 n.Chr. von den Römern zerstört wurde und damit der Gottesdienst am dortigen Altar völlig endete, eine neue Form des Gottesdienstes und Versammlungs­räume ohne Altar und ohne Opfer, die Synagoge. Der Gottesdienst zentriert sich um die Verlesung und Auslegung der Tora, Psalmengesang; das Gebäude hat kein sakrales Zentrum in einem Altar. Daran schließt der Gottesdienst der christlichen Feier zunächst an.[5] Das Gebäude ist nicht mehr sakral, oft wird der Begriff ‚profanes Gebäude‘ für Synagoge und ‚Kirche‘ verwendet.

Dem widerspricht SH: Die antiken Kirchen seien von Anfang an sakral durch den Altar. Die sog. Hauskirchen seien ein Phantom. Hier wäre zweierlei nötig (1) den Wandel der ‚Heiligkeit‘ grundsätzlich zu reflektieren im Unterschied zur sakralen Materialisierung.[6] Wie der Altar, an dem nur metaphorisch ein ‚Opfer‘ dargebracht wird, ins Innere des Gebäudes kommt, welche Funktion der Kultspezialist (den es als Beruf noch nicht gab, im Judentum wird die Lesung von jedem männlichen Mitglied vorgetragen) hat, wenn er kein Opferritual am Altar vollzieht und die Frage des Mahles und/ oder der Eucharistie als „Opfer“ wird nicht ernsthaft erwogen. (2) Statt des Altars außerhalb des antiken (auch jüdischen) Tempels ist nach SHs Meinung der Beistelltisch das Möbel, das jetzt in der Kirche den „Altar“ bildet. Ohne solche grundsätzlichen Fragen zu stellen und mit dem dünnen Bindeglied, führt der Autor das Material vor, immer mit harscher Abfuhr anderer Meinungen,[7] der fast von allen Forschern geteilten Auffassung, dass es in der Entwicklung der Liturgie und des Kirchengebäudes grund­sätzliche Änderungen und Brüche gegeben habe.

Eine magistrale Rezension zur ersten Auflage 2019 veröffentlichte Sible de Blaauw.[8] Seinen umfang­reichen Artikel für das Reallexikon für Antike und Christentum von 2008 ‚Kultgebäude (Kirchenbau)‘ RAC 22 (2008), 227-393 ist mehrfach als Gegenbeispiel aufgeführt, etwa S. 11 Anm. 6, sonst aber meist positiv und grundlegend. So erklärt SH 287 Anm. 674 „Der Beitrag [De Blaauw 2010] ist fundamental für die Frage der architektonischen und liturgischen Ostung. Er widerspricht der älteren Meinung (z.B. bei Gamber 1994, 49; auch noch Heid 2006, 381), in den frühchristlichen Basiliken Roms fände sich die Apsis ‚praktisch in allen Himmelsrichtungen‘.“ Der Autor war also früher selbst dieser Meinung. Dem langjährigen Herausgeber des RAC, Theodor Klauser, widerspricht SH mehrfach (so besonders 12 Anm. 9), im Unterschied zu dem als spiritus rector geltenden, aber distanziert zu dem maßgeblichen Lexikon stehenden Franz Josef Dölger (etwa 13 Anm. 16), Klausers Lehrer.[9] Die Kontroverse um die philologische Untersuchung von Otto Zwierlein, der die auf Rom bezogenen Petrus-Tradition nicht vor etwa 200 n.Chr. entstehen sieht, wird hier nicht erwähnt, SH hat dazu schon ein eigenes Buch zusammengestellt.[10]

Die Forschungen von Klausers Schüler Otto Nußbaum über die Stellung des Zelebranten am Altar führten „punktgenau zum Konzilsende“ 449 zu der These, dass zunächst der Priester versus populum, also zur Gemeinde hin, die Liturgie leitete; erst im 6. Jh. habe sich die Ostung durchgesetzt, wonach der Priester vor dem Altar und mit dem Rücken zur Gemeinde stand (SH widerspricht 441-473). Ein Sonderfall ist St. Peter im Vatikan, weil dort der Eingang, nicht die Apsis nach Osten ausgerichtet ist. Wenn der Papst die Liturgie leitet, wendet er sich nach Osten ‚Gott zu‘ und damit gleichzeitig der Gemeinde (289).[11] Die Situation in Sankt Paul vor den Toren Roms führt SH sehr genau vor. In dieser Kathedrale, dem Gegenstück zu St. Peter auf dem Vatikan (ebenfalls außerhalb der Stadtmauern), steht der Altar frei im Altarraum, so dass der Liturg sowohl vor wie hinter dem Altar stehen kann. SH entscheidet, dass der Liturg mit dem Rücken zur Gemeinde nach Osten hin gestanden habe. „Erst jetzt [nach dem Großbrand der Kirche 1823] zelebriert der Papst – bis heute – liturgisch falsch, nämlich nach Westen zum Volk hin.“[12]

Und das ist nun die andere Seite des Buches: in umfassender Kenntnis des Materials führt SH die bisher diskutierten Denkmäler vor, die Abbildungen und Rekonstruktionszeich­nungen sind vorzüglich, die Forschungsliteratur in beeindruckender Weise aufgeführt, wenn auch Gegenmeinungen immer mit einem abfälligen Urteil vorgestellt werden. Das Kapitel Kult 165-335 (etwa ein Drittel des Buches) und dessen Kernstück Gebetshaltung am Altar gilt der Behauptung, dass der Priester prinzipiell vor dem Altar gestanden habe mit Blick ‚auf Gott‘ nach Osten und nach oben schauend, er bete ja nicht die Gemeinde an (als ob das jemand denken würde!). Die Behauptung, dass ‚die Kirche‘ ‚universal‘ in allen Kirchen­familien das so handhabte, wird vor allem an den Kirchen in Rom besprochen (278-355), aber ein Kapitel zu den Regionen in Nordafrika, im Nahen Osten und in Europa (249-278) soll die These des universalen liturgischen Prinzips bestätigen. Nur die lateinische Kirche weiche seit fünfzig Jahren davon ab. Fälschlicher Weise. Die Veränderung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die den Altar in die Mitte der Gemeinde stellt: „Wieso hat man dann in den letzten 50 Jahren überall den sogenannten Volksaltar eingeführt? Man wird nicht fehlgehen, den Grund in der Aufgabe wesentlicher Prinzipien christlicher Liturgie zu sehen, verursacht durch den Paradigmenwechsel vom Opfer zum Mahl.“ (441).[13]

Man wird das Buch wegen seiner im Detail vorgeführten Beschreibungen und vorzüglichen Illustrationen gerne als Handbuch benutzen mit der Vorsicht, dass die Argumentation einseitig einer These gilt.

 

Bremen/Wellerscheid, Juni 2024                                                               Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Enzyklika Mediator Dei. AAS 39(1947), S. 528-580 [Abschnitt 201 in der lat.-dt. Ausgabe Freiburg: Herder 1948]. At prorsus opus est hisce omnibus in rebus intento vigiletis animo, ne in agrum dominicum veniat inimicus et superseminet zizania in medio tritici (cfr. Matth. 13, 24-25); hoc est ne irrepant in greges vestros subtiles illi perniciosique errores, qui falsus mysticismus ac noxius quietismus audiunt — qui quidem errores iam a Nobis, ut nostis, reprobati sunt (Litt. Encycl. Mystici Corporis) —  itemque ne animos seducat periculosus quidam humanismus, neve fallax doctrina inducatur ipsam perturbans catholicae fidei notionem, neve denique nimium restituendae in liturgicis rebus antiquitatis studium. “Unbedingt erforderlich ist jedoch, daß ihr bei all dem wachsam zuseht, damit nicht der Feind in den Acker des Herrn eindringe und Unkraut unter den Weizen säe: daß sich also in eure Herde [sic, statt Plural] nicht feingesponnene und verderbliche Irrtümer einschleichen, so da sind: falscher Mystizismus und schädlicher Quietismus, – Irrtümer, die von Uns, wie ihr wißt, bereits zurückgewiesen wurden –, und daß nicht ein gefährlicher Humanismus die Seelen verleite, auch nicht eine trügerische, am katholischen Glaubensbegriff selbst rüttelnde Lehre eingeführt, noch schließlich ein übertriebener Archäologismus in liturgischen Dingen angestrebt werde.“ Vgl. Bert Wendel: Die Liturgie-Enzyklika „Mediator Dei“ vom 20. November 1947 zur liturgisch-zeitgeschichtlichen und theologischen Bedeutung einer lehramtlichen Äußerung Papst Pius‘ XII (1939 – 1958) über den Gottesdienst der Kirche. Regensburg: Roderer 2004, 178-192, der jedoch keine Namen nennt, gegen wen sich der Vorwurf des Archäologismus richtet.

[2] Stefan Heid, geboren 1961, in einer erstaunlichen Karriere zum Leiter sowohl der Wissenschafts­schmiede des Campo Santo Teutonico auf dem Gelände des Vatikan als auch des päpstlichen Instituts für christliche Archäologie in Rom, dazu s. Stefan Heid – Wikipedia. (7. Februar 2024).

[3] Statt ‚Götterbild‘ verwende ich Gottesbild. Der Plural („Götter“) im erstgenannten Begriff wertet schon die antike Gottesvorstellung als polytheistischen Fehler. Wie eng miteinander verwoben das christliche und das klassische Gottesbild in neuplatonischer Terminologie war, zeigt Auffarth: The Materiality of God’s Image: Olympian Zeus and the Ancient Christology. In: Jan N. Bremmer; Andrew Erskine (ed.): The Gods of Ancient Greece: Identities and Transformation. (Edinburgh Leventis Studies 5) Liverpool 2010, 465-480. SH selbst stellt das Apsisbild mit Christus dar als Bezugspunkt für den Blick und die Ansprache im Gebet, weshalb der Priester vor dem Altar stehe mit Blick auf Christus (357-411).

[4] Als Beleg verweist SH auf gerade mal zwei Reliefs (ThesCRA 2[2004], Tafel 103, Abb. 224 und Tafel 104, Abb. 269, und bildet ein Beispiel ab (20 Abb. 4), ohne sie als Seltenheit zu diskutieren. Die lectisternien der klassisch-antiken Gottesdienste sind nicht erwähnt (Index), die hier diskutiert werden müssten. [ThesCRA, der Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum ist das Handbuch zu den antiken Religionen, das Quellen und Archäologie zusammenführt]

[5] SH 353 „… insofern die neue Bewegung [des werdenden Christentums] im Raum des Judentums auflebt. Abgelehnt werden allein die paganen Realitäten von Altar, Schlachtopfer und Tempel. Die Eucharistie erschließt und vollzieht sich in ihrer religionsgeschichtlichen Einbettung als sakrifizielles Tun: In aufklärerischer Absetzung vom paganen Kult, aber in biblischer Anknüpfung an den Opfer­dienst des Alten Bundes wird die Eucharistie als Opferhandlung verstanden. […] Die Ablehnung des paganen Tempels und die Schlichtheit frühchristlicher Versammlungsräume sind nicht Ausdruck einer programmatischen Profanierung, […].“

[6] Dazu Christoph Auffarth: Antike Konzepte von Heilig und Heiligkeit. Eine religionswissenschaft­liche Perspektive. In: Peter Gemeinhardt; Katharina Heyden (Hrsg.): Communio Sanctorum: Heilige, Heiliges und Heiligkeit in spätantiken Religionskulturen. (RGVV 61) Berlin; New York 2012, 1-33. Ders.: Le rite sacrificiel antique: la longue durée et la fin du sacrifice. [übersetzt von Aurian Delli Pizzi] in: Kernos 25 (2012), 297-303. Und in großer Perspektive: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen 2023 zur Mutation von Religion in der Spätantike (im Gespräch mit Guy Stroumsa). Dagegen wird bei SH alles „sakral“, was auch nur in Berührung mit dem ‚Sakraltisch‘ kommt (54-68) [kontagiöse Berührungsmagie].

[7] Wörter wie „Unsinnigkeit“; „er glaubt zu wissen“ (13); „reines Wunschdenken“ (18) und so durch­gehend. Noch ein Beispiel: „noch abwegiger wird es […]“ (431). Gerne wird die Gegenmeinung als liberaler Protestantismus pauschalisiert, auch wenn er von Katholiken geäußert wird (10-15). Nur ein Katholik sei fähig: „wenn Geschichtsforschung auch mit der religiösen Vorstellungskraft und dem Respekt vor Traditionen zu tun hat, wird deren konfessio­nelle Provenienz relevant.“ (15).

[8] Sible Lambertus de Blaauw, Rezension zu: Heid, Stefan: Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie. Regensburg 2019, ISBN 978-3-7954-3425-0, In: H-Soz-Kult, 24.08.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28941> (7. Februar 2024). Sible de Blaauw ist der für die christliche Archäologie zuständige Herausgeber des Reallexikons für Antike und Christentum.

[9] Zur Bedeutung des vom Papst verdammten Modernismus und ‚Archäologismus‘ auf das RAC Auffarth: Das Reallexikon für Antike und Christentum und der katholische Modernismus. In: Maren Niehoff; Francesco Zanella (Hrsg.): Das frühe Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) und der Nationalsozialismus. Paderborn: Brill | Schöningh 2024 (im Druck).

[10] Stefan Heid (Hrsg.): Petrus und Paulus in Rom. Eine interdisziplinäre Debatte. Freiburg: Herder 2011. Die Daten der Kontroverse sind zusammengestellt im Wikipedia-Artikel zu Zwierlein (23.06.2024).

[11] Der Liturg hebt seine Augen auf der aufgehenden Sonne entgegen, und sieht dabei in der Apsis, wenn sie dann nach Osten ausgerichtet ist, auf das Bild des thronenden Christus (des Weltenrichters, des Lammes, Gottes und Christus ‚sitzend zur Rechten Gottes‘): 357-411.

[12] S. 321. Die Rekonstruktion des Altarraums in San Paolo fuori di Mura mit sehr anschaulichen Rekonstruktionsskizzen 312-327.

[13] „Wesentlich“ meint, dass die traditionelle Stellung des Priesters vor dem Altar das Wesen der Messe ausmache, die Stellung zur Gemeinde („Volk“) hin aber das Wesen zerstöre. Unterlegt wird die Behauptung mit zwei äußerst polemischen Zitaten aus Alfred Lorenzer (Das Konzil der Buchhalter 1984) und Martin Mosebach (Häresie der Formlosigkeit 2012).

 

 

Augustinus-Lexikon Band V

Augustinus-Lexikon.

 

Herausgegeben von Cornelius Mayer, Robert Dodaro und Christof Müller
5 Bände.

Basel: Schwabe 1995-2024.

Band 5 erschien am 29. April 2024.

[Unten die Liste der Stichwörter mit ihren Bearbeiter:innen]

 

Augustinus als Knotenpunkt der Antike und des Mittelalters –
in einem Lexikon analysiert.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Großprojekte in der Erforschung der Religion der Spätantike.

Mit dem gerade erschienenen fünften Band schließen die internationalen Mitarbeiter das Augustinus-Lexikon ab. Die sogenannte Patristik, die Erforschung der christlichen Theologen der Spätantike, ist international aufgestellt. Schon die antiken Theologen schrieben auf Griechisch, zunehmend dann auch auf Latein, Syrisch, Koptisch; der Erforschung ihrer Werke widmen sich Forschende in Frankreich, Italien, Spanien, in den deutschsprachigen Klöstern und Universitäten, in Polen, in England und Amerika. Die Artikel im AL konnten in Französisch, Deutsch und Englisch abgefasst werden, im letzten Band finden sich fast nur noch deutsche und englische Artikel. Mit der ‚Forschung in Klöstern‘ ist angesprochen, dass die Geistesarbeit auch der Pflege der Religion diente, dass Frömmigkeit und genaue Analyse sich nicht im Wege standen. Musterbeispiele sind

  • die Mauriner, eine Mönchsgemeinschaft der Benediktiner, die (1618 gegründet) arbeitsteilig Großprojekte erarbeiteten, wie die textkritische Edition des Gesamtwerks Augustins und dann der Vetus Latina.

Die 18 Bände der Opera omnia des Augustinus benutze ich gerne,[1] weil sie vollständig (einschließlich der Augustin nur zugeschriebenen Werke) und übersichtlich gedruckt durch zwei Bände erschlossen werden: Der eine ist Band 15 mit der genauesten Chronologie entlang dem Leben des Augustinus von seinem Geburtsort in Nordafrika (Tagaste liegt im heutigen Algerien, nahe der Grenze nach Tunesien), dank seiner Bildung gelang dem Mann aus der Provinz der Aufstieg zum gefeierten Rhetoriker am Hof der Kaiser in Mailand (nicht mehr in Rom), dann seine Auszeit, seine Taufe zum Christen, die Rückkehr über den Hafen Roms, Ostia, wo seine Mutter Monnica starb, nach Africa, wo er nach einiger Zeit dann Bischof wurde. In diesem Vita-Band steht, wann und wo er welche Predigt, welchen Brief, welche Schrift er zu welcher Gelegenheit verfasste.[2] – Der andere Band 18, Spalte 1-832 enthält einen Index der Personen und Begriffe sowie der Bibelstellen 833-940, die Augustinus ausführlich erklärt. Das ist eine unverzichtbare Aufschlüsselung der Sprache und Begriffe Augustins in einem Lexikon, das eben nicht nur die Wörter in alphabetischer Reihenfolge bietet (eine ‚Konkordanz‘), sondern sie sortiert unter Oberbegriffen und aufgeschlüsselt nach den Hauptaussagen.

  • Dann die Vetus Latina: die Rekonstruktion der lateinischen Bibelübersetzungen, bevor die Übersetzung des Hieronymus ‚die Verbreitete‘ Vulgata Auch dieses Unternehmen wurde von den Maurinern angefangen. Zahllose ungenannte Mönche identifizierten in den lateinischen Werken, die vor Hieronymus geschrieben wurden, Bibelzitate und sammelten den Wortlaut, den sie dann Bibelübersetzungen zuordneten. Heute wird diese Arbeit im Kloster Beuron organisiert.
  • Ein weiteres Großprojekt ist der Heiligenkalender, in den für jeden Tag des Jahres alle Texte gesammelt gedruckt werden, die das Leben und Werk des jeweiligen Heiligen beschreiben: die Acta Sanctorum der Bollandisten.[3]
  • Nicht dazu gezählt werden kann Jacques-Paul Migne, der auf die Idee kam, sämtliche Werke aller Kirchenväter drucken zu lassen und im Abonnement an Priester, Klöster und Bibliotheken zu verkaufen. Der „Plagiator Gottes“ druckte Texte nach, die andere in mühsamer Arbeit aus Handschriften ediert hatten, in den 217 Bänden der Patrologia Latina 1844-1855 und den 161 Bänden der Patrologia Graeca (1857-1866).[4]
  • Zur Anlage des Reallexikons für Antike und Christentum, das sich ebenfalls der Vollendung in 40 Bänden nähert, weiter unten.

Das Projekt des Corpus Gissense und das Augustinus-Lexikon

Initiator und langjährigen Leiter des AL war Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius (Petrus) Mayer OSA (1929-2021). Der Donauschwabe trat in den Augustiner-Orden ein. Er wurde Professor für Systematische Theologie und Dogmengeschichte, an der Justus-Liebig-Universität, Gießen., siehe Cornelius Petrus Mayer – Wikipedia [31.03.2024]. Dort beantragte, besorgte die Finanzierung und organisierte Pater Cornelius Mayer das internationale Netzwerk der Mitarbeiter der beiden riesigen Projekte. Zunächst ging es um die Digitalisierung aller Texte des Augustinus im Corpus Augustinianum Gissense online, veröffentlicht erst als CD in zwei Auflagen, die dritte Version ist online zugänglich (kostenpflichtig). Diese Datengrundlage basiert auf den jeweils besten kritischen Text-Ausgaben. Die Texte sind lemmatisiert, d.h. Verben der 1.Person Singular zugeordnet (wie sie auch in den Lexika zu finden sind), Substantive und Adjektive im Nominativ Singular. Man muss also nicht alle Formen des Wortes durchsuchen (oder trunkieren), sondern findet unter der Grundform sämtliche Formen des Wortes im Gesamtwerk des Augustinus.[5] Die Leitung des Gesamtwerks übernahmen Robert Dodaro[6] und Christof Müller.[7]

Auf der Grundlage dieser vollständigen Konkordanz konnte das hier besprochene Augustinus-Lexikon von internationalen Spezialisten der Augustinus-Forschung erarbeitet und mit dem fünften Band abgeschlossen werden. Ein ‹Digitaler AL-Schlüssel› genanntes Instrument wird das AL-Gesamtwerk insbesondere unter verschiedenen modernen Fragestellungen dreisprachig erschließen. Denn alle Stichwörter des AL sind lateinische Wörter, die Augustinus verwendete.[8]

Das Augustinus-Lexikon

Das Augustinus-Lexikon (AL) umfasst in rund 1200 Lemmata [Stichwörtern] folgende Arten von Stichwörtern, die je mit einem lateinischen Begriff zu finden sind: Das Böse unter ‚malum‘, die Gnadenlehre unter ‚gratia‘, Gott unter ‚deus‘, der Freie Wille unter (de) ‚libero arbitrio‘:

  • Die Werke Augustins wie ‚civitate Dei, de‘. Die Liste der Abkürzungen im Werk­verzeichnis und die jeweils beste kritische Edition auf 32 Spalten, die dazu gehörigen Erklärungen, v.a. zu den neu gefundenen Predigten usf. noch einmal 19 Spalten. Die von ihm gefundenen Predigten ordnet François Dolbeau in dem umfassenden Artikel (155 Spalten) ‚sermones (ad populum)‘ AL 5, 317-361 nun ein in das Gesamtcorpus der Predigten, ein Glanzstück des Abschlussbandes (dazu Anm. 208 auf S. xxxivf). Dem entsprach der Artikel ‚epistulae‘ in AL 2, 893-1057 (Johannes Diviak). Oder Roland Kanys Artikel ‚De Trinitate‘ (AL 5, 776-821).
  • Personen aus seinem Umkreis, seine Lehrer, seine Gegner, seine Mutter, Vorbilder, wie Ambrosius, Augustins (nie namentlich genannte) Partnerin und der gemeinsame Sohn Adeodatus, die zahllosen Gegner wie Manichäer, der ‚letzte Heide‘ Symmachus. Oder die Philosophenschulen Academici [Platoniker] und Stoici (AL 5, 582-588 Gretchen Reydams-Schils). Sehr wichtige Quelle in de civitate Dei ist Varro (AL 5, 849-863 Wolfgang Hübner, vgl. ‚di gentium‘ AL 2, 368-381 von Burkhart Cardauns).
  • Texte, mit denen sich Augustinus auseinandersetzt, griechische (AL 5, 89-102 Alfons Fürst), jüdische (Al 5, 103-105 Jan Dochhorn), lateinische (AL 5, Wolfgang Hübner; dazu einzelne Schriftsteller wie Sallustius, Terentius, Sibylla [Prophetinnen aus Italien]) und Texte der Bibel (AL 5, 130-175 Pierre-Maurice Bogaert; Isabelle Bochet; dazu zu den einzelnen Schriften wie Genesis; de genesi ad litteram (AL 3,113-132 Dorothea Weber) oder (in) Iohannis euangelium tractatus (AL 3, 704-730 Hildegund Müller)
  • Sehr wertvoll sind Artikel zu Realien, wie Reisen und Bewegungsmittel, Schiffsrouten und Straßen, v.a. die von Konrad Vössing verfassten Artikel Itinera (AL 3, 758-775), magistratus (AL 3, 1093-1098) oder Studium (AL 5, 588-593). Oder die von Serge Lancel, etwa Mediolanum [Mailand] (AL 3, 1234-1242).
  • Begriffe, die Grundbegriffe philosophischer/theologischer Diskussionen sind oder die Augustinus neu einführt hat, und wessen Begriffe er aufgreift und wie er sie umprägt, etwa materia, forma, figura, mens, homo (AL 3, 381-416 Cornelius Mayer) mors, tempus, gratia (AL 3, 182-242 Volker Henning Drecoll), iustitia (AL 3, 865-882 Robert Dodaro) und iustificatio (AL 3,859-864 Alfred Schindler). Malum (das Böse AL 3, 1111-1121 Hermann Häring), Philosophia (AL 4, 719-742 Giovanni Catapano). Religio (AL 4, 1138-1145 Christian Tornau).
  • Begriffe, die grundlegend wurden für die Kirchensprache: Liturgie, Dogmatik, Recht: Militia Christiana, Monachus und Monasterium, mysterium, oratio [Gebet], sacramentum, paenitentia [Buße], peccatum und peccatum originale [Sünde, Ursünde], praedestinatio [Vorbestimmung] mit providentia [Vorsehung] (AL 4, 826-837) Resurrectio, redemptio [Erlösung].

Manche für die Religionswissenschaft interessante Artikel sind nicht kritisch genug. Das Problem liegt darin, dass den Stichwörtern die Konzepte des Augustinus zugrunde liegen, wie man sie im Corpus Gissense vollständig verzeichnet findet; wie also Augustinus sie in seinen Texten darlegte. Die sog. Häresie[9] oder die Heiden sind zu sehr vom Standpunkt von Augustinus her beschrieben, etwa der Artikel catholicus (AL 1, 815-820). Unter Kirchen­geschichtler:innen ist es zwar üblich, dass man von der ‚herrschenden‘ Meinung als „Großkirche“ o.ä. spricht, aber vielfach ist das lokal die Minderheit, während die Mehrheiten in Gruppen auseinanderdividiert werden, mit je einem anderen Häretiker an der Spitze. Dafür ist Augustinus in Auseinandersetzung mit den ‚Donatisten‘ ein Musterbeispiel, die seiner Meinung nicht Christus folgten, sondern einem gewissen Donatus.[10] Die Catholici – wobei Augustin auch böse mali catholici kennt und verdammt – vernetzten sich untereinander und konnten auf die Macht des Kaisers pochen, einschließlich militärischer Gewalt. Das Wort compelle intrare („Nötige sie einzutreten!“ im Gleichnis Jesu bei Lukas 14,23) verwendet Augustin als Rechtfertigung von Gewaltanwendung gegen Ketzer (AL 1, 1084f). Kritischer sind die Stichwörter, die Marc-Yves Perrin geschrieben hat (schisma AL 5, 77-82; traditor AL 5, 731-736).[11] Oder Iudaei/Iudas (AL 3, 781-798 Johannes von Oort). Manichaei (AL 3, 1121-1159 in Verbindung mit malum AL 3, 111-1121 Hermann Häring; Volker Henning Drecoll). Paganus [Heide] (AL 4, 446-455 Christian Tornau: Der Begriff sei erst im 4. Jh. entstanden, davor s. Artikel gentes AL 3, 140-147 Wolfgang Hübner).

 

Das Augustinus-Projekt kommt nach fast 50 Jahren mit dem fünften Band zum Abschluss des Lexikons. Es begann mit einer vollständigen Konkordanz aller Texte; alle Wörter wurden auf die lexikalische Grundform eingeordnet, so dass man im Corpus Augustinianum Gissense (online, kostenpflichtig) sämtliche Wörter, die Augustinus geschrieben hat, zusammengestellt findet, auch die in den neu gefundenen Handschriften. Aus dieser Konkordanz haben Wissenschaftler aus aller Welt, die sich mit den Theologen der Spätantike beschäftigen (Patristik) dieses Lexikon erarbeitet. Die Bilanz fällt differenziert aus: Augustinus ist für die folgende Entwicklung des Christentums in Lateineuropa zweifellos eine zentrale Instanz. Augustinus wurde im lateinischen Mittelalter intensiv rezipiert – auch wenn man nicht seine Theologie für die Philosophie ‚des‘ Mittelalters halten darf. Er verfügte noch über eine umfassende Bildung der Antike, wobei ihn Platon (mehr als Aristoteles) in der Rezeption durch Cicero interessierte. Varro rezipiert Augustin (de civitate Dei 4,37 und 6,5f) wegen seiner historisch-enzyklopädischen Erklärungen, darunter die Dreiteilung der Religion in theologia mythica – theologia physica/naturalis – theologia civilis. Weiter interessiert ihn die praktische Philosophie der Stoiker. So etwa übernimmt er deren Kriterien, wann ein Krieg ein ‚gerechter Krieg‘ sei (in de civitate Dei 19,7), die heute noch verwendet wird. Der Krieg an sich sei christlich nicht verboten. Das Staatsverständnis ist allerdings ein negatives: „Was sind Staaten anderes als kriminelle Vereinigungen, wenn die Gerechtigkeit fehlt?“ (civ. 4,4). Die Guten seien manchmal gezwungen (necessitas), für die Herstellung der Gerechtigkeit Krieg zu führen (civ 15,5). ‚Gute Gewalt‘ müsse man auch gegen Häretiker einsetzen. Das AL kommt vom Wortschatz, den Begriffen und Konzepti­onen Augustinus‘ her und geht nicht sehr tief zu den Vorgängern und wenig auf die Nachfolger ein (etwa wenig zu Tyconius AL 5, 827-833, der doch Augustinus tief beeinflusst hat, auch in der Abgrenzung, mit seiner hermeneutischen Methode und seinem Apokalypse-Kommentar). Man muss allerdings einen lateinischen Begriff kennen, um seine Ideen im Lexikon erschlossen zu bekommen. Wenn man den richtigen Begriff gefunden hat, dann erhält man eine umfassende Zusammenfassung aus allen Schriften des Augustinus und erschöpfend Literaturangaben. Um das Lexikon benutzbar zu machen über den engeren Kreis der Forschenden hinaus ist in Arbeit ein »AL-Schlüssel«, der um das lateinische Kerngebäude ein Gerüst legt mit modernen Begriffen. Anders angelegt, nämlich nach deutschen Begriffen, möglichst umfassend alle Theologen der Spätantike – griechische, lateinische, jüdische Theologen – und bisweilen sogar eine Geschichte der Religionen findet man im »Reallexikon für Antike und Christentum« reiche Information, das nach etwa 90 Jahren im Endspurt der Vollendung steht.

Ein Seitenblick auf das Reallexikon für Antike und Christentum

Ganz anders als das AL, das auf dem vollständig erschlossenen Corpus eines einzigen Theologen beruht, war das Reallexikon für Antike und Christentum angelegt. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde das Lexikon geplant, die ersten ‚Lieferungen‘ erschienen im Zweiten Weltkrieg, zusammengefasst im Band 1, der das Erscheinungsdatum 1950 trägt. Nach rund 90 Jahren soll es mit Band 40 abgeschlossen werden. Eine digitale Ausgabe ist in Arbeit.

Für die Digitalisierung ergibt sich das Problem, dass die ältesten Artikel in der Zeit des National­sozialismus geplant und Verfasser vereinbart wurden, deren Artikel oft noch in späteren Bänden gedruckt wurden.[12] Ein eklatantes Lemma stellt der Artikel „Antisemitismus“ dar. Dafür wurde jetzt ein Ersatz verfasst und auch digital veröffentlicht.[13] Eine wissenschaftliche Tagung hat sich der Frage angenommen; die Ergebnisse werden veröffentlicht. Ein Beispiel ist geplante Artikel „Rasse“, der im Sinne des Nationalsozialismus den Redakteuren unverzichtbar schien, aber keine ‚Realie‘ der Antike und des Christentums darstellt.[14] So gibt es dann in der späteren Ausführung dieses Lemma nicht. Die Planer des Lexikons beantragten Gelder bei (der Vorgängerinstitution) der Deutschen Forschungs­gemeinschaft, wo Anträge auch von Nationalsozialisten begutachtet wurden, und planten auch mit Mitarbeitern, die die Ideologie des NS vertraten, wie den Mitgliedern des Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben“.[15]

Aber wie alle solche Projekte, die über einen so langen Zeitraum realisiert werden, spiegelt sich im RAC Wissenschaftsgeschichte. Zum einen (1) ist das Christentum der Spätantike ein Thema, das in vielen Sprachen und national, besonders aber katholisch geprägten[16]) Wissenschaftskulturen erforscht wird. Das AL wird in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) verfasst, für das RAC werden die Beiträge ins Deutsche übersetzt. (2) Das Thema Spätantike und Religionen in der Spätantike hat sich über viele Disziplinen verbreitert und ist nicht mehr die Disziplin der Patristik (Dogmengeschichte)[17] (3) Es geht nicht mehr um die Frage, worin das Christentum besser war als die anderen Religonen, so dass es das Ende der Antike überlebte, während das Heidentum starb. (Dass auch das Judentum weiterlebte, wurde dabei immer vergessen). Die Frage hat sich aber verändert. Es geht nicht mehr um das Christentum gegen die (heidnische) Antike, sondern um die (Religions-) Geschichte der Spätantike als Transformation,[18] in dem auch Menschen, die an Christus glaubten, in ihrer antiken Lebenswelt sozialisiert waren, in ihren Familien mit nicht Getauften lebten.[19]

Das Lexikon drohte uferlos zu werden, weil Artikel immer umfangreicher wurden, aber die Beschränkung und Kürzung auf vereinbarte Längen, der Verweis auf andere Artikel, wo das Thema schon behandelt wurde, lassen die Vollendung absehen. Der Religionswissenschaftler Karl Hoheisel war lange in der Redaktion des RAC tätig. Er schrieb unter anderem den Artikel Homosexualität (RAC 16 (1994), 289-364 – fast 80 Spalten). Carsten Colpe sorgte für religionswissenschaftliche Konzeption, etwa im Artikel Gnosis (II Gnostizismus. RAC 11 (1981), 537-659 – 120 Spalten; Ersatz für den zweiten Band seiner Göttinger Habilitations­schrift). Unter den jetzigen Herausgeber:innen hat Ilinca Tanaseanu-Döbler neben dem Artikel ‚religio‘, der behandelt, wie das römische Konzept christlich aufgegriffen wurde, einen Artikel „Religion“ verfasst, der zeigt, wie das metasprachliche Konzept für die Analyse der Antike unverzichtbar ist.[20]

Mit dem Seitenblick auf das RAC kann hier keine Besprechung der Fülle dieses Lexikons erfolgen. Forschende sind mit zwei mittlerweile unverzichtbaren Lexika ausgestattet, die je für Fragen der Religionsgeschichte der Spätantike zu konsultieren sind, je mit ihren Eigenheiten. Die Ergebnisse der Forschung sind ausführlich und prägnant zusammengefasst, so dass man mit großem Gewinn erfährt, welche Fragen in der Forschung bearbeitet werden und welche Fragen nicht gestellte und erforscht wurden. Großprojekte, die Jahrzehnte brauchen von der Planung, Organisation, Finanzierung, Redaktion bis zur Vollendung, sind mit dem AL gelungen (bis auf das Register) bzw. das RAC steht kurz davor. Damit stehen Werkzeuge zur Verfügung, die man immer – wie Der Neue Pauly – zuerst lesen muss, wenn man eine eigene Forschung durchführt.

 

Bremen/Wellerscheid, 5. Juni 2024                                                                       Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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Anhang: Die Lemmata des Augustinus-Lexikons, Band 5

Augustinus-Lexikon. Band 5: Sacrificium – Zosimus. Herausgeber Robert Dodaro und Christof Müller. Basel: Schwabe 2019-2024. (29. April 2024).

 

Sacrificium offerre 1-15 Martin Klöckener
Saecularia, saeculum 15-22 Notker Baumann
Sallustius 23-26 Hans Armin Gärtner
salutatio 26-32 Notker Baumann
De sancta uirginitate 32-38 Andreas Grote
Sanctimonalis 32-41 Andreas Grote
Sanctus, sanctitas 41-50 Michael Margoni-Kögler
Sanguis 50-54 Jochen Schultheiß
Sanitas 54-58 Francois Dolbeau
Sapiens 59-66 Gerd von Riel
Sara 67-69 Martine Dulaey
Saracina 69-73 Francois Dolbeau
Satisfactio 73-75 Alfons Fürst
Scandalum 76-77 Hans Armin Gärtner
Schisma, schismatici 77-82 Michel-Yves Perrin
Schola 82-87 Peter Gemeinhardt
Scientia 87-89 Gerd van Riel
Scriptores Graeci 89-102 Alfons Fürst
Scriptores Iudaei 103-105 Jan Dochhorn
Scriptores latini 105-130 Wolfgang Hübner
Scriptura sacra, divina 130-175 Pierre-Maurice Bogaert, Isabelle Bochet
Secta 175-180 Christian Tornau
Contra Secundinum Manichaeum; Secundinus 180-184

184-186

Miriam Kudella
Securitas 187-188 Hans Armin Gärtner
Sedes apostolica 188-191 Marc-Yves Perrin
Seditio 191-194 Marc-Yves Perrin
Semen 194-199 Alexander Eisgrub
Seneca 199-201 Theres Fuhrer
Sensus sensibilia 202-211 Christian Tornau
Sententia 211-214 Jochen Schultheiß
De sententia Iacobi 214-218 Alfons Fürst
Sepulchrum, sepultura 219-225 Martin Klöckener
Sermo 225-229 Michèle Fruyt
Sermo ad Caesariensis eccl. 229-232 Michel-Yves Perrin
Sermo domini in monte 232-238 Hans van Reisen
c. sermonem Arrianorum 238-244 Pierre-Marie Hombert
Sermones ad populum 244-399 = 155 Spalten Francois Dolbeau
Sero te amaui 399-400 James O‘Donnell
Serpens 401-404 Alexander Eisbrub
Seruitus – libertas 404-408 Volker-Henning Drecoll
seruitus 408-412 Noel Lenski
Seruus Dei 412-418 Andreas Grot
seueritas 419-420 Hans Armin Gärtner
Sexus 420-422 David G. Hunter
Si fallor, sum 420-424 Marko J. Fuchs
Sibylla 424-428 Jean-Michel Roessli
Sicca Veneria 428-429 Francois Baratte
Sidus, sidera 429-432 Wolfgang Hübner
Signum – res 432-450 Giovanni Captapano
Similitudo – dissimilitudo 450-459 Catherine Lefort
Simplex, simplicitas 459-461 Bouton-Touboulic Anne-I.
Ad Simplicianum 461-473, 474-477 Volker Henning Drecoll
Simulacrum 477-480 Anne Achtenkamp
Sinus 480-482 Martine Dulaey
Sion 482-486 Michael Margoni-Kögler
Sitifis 486-487 Francois Baratte
Sixtus (Xystus) 487-492 Marc-Yves Perrin
Sobrietas – ebrietas 492-495 Hermann-Josef Sieben
Societas 495-500 Jochen Schultheiß
Sol 500-503 Martin Wallraff
soliloquia 504-509 Catherine Leort
somnium 509-514 Martine Dualey
Somnus 514-518 Martine Dualey
Species 518-523 Jean-Michel Fontanier
Speculum 523-528 Pierre-Maurice Bogaert
Spes 528-538 Notker Baumann
Spiritalis 538-542 Isabelle Bochet
De spiritu et littera 543-551 Isabelle Bochet
Spiritus 551-559 Christian Tornau
Spiritus sanctus 559-578 Nello Cipriani
Stephanus martyr 578-582 Gert Partoens
Stoici 582-588 Gretchen Reydams-Schils
Studium 588-593 Konrad Vössing
Stultitia 593-596 Tobias Uhle
Substantia 596-599 Michael Schramm
Superbia 599-604 Josef Lössl
Superstitio 605-612 Christian Turnau
Supplicatio 612-614 Martin Klöckener
Sursum Cor 614-616 Christian Rentsch
De Symbolo ad catuchumen 615-620 Francois Dolbeau
Symbolum 621-626 Wolfram Kinzig
Symmachus, Q. Aurelius 626-627 Therese Furrer
Synagoga 627-630 Alban Massie
Tabernaculum 630-631 Martine Dulaey
Taedium 631-634 Alexandra Parvan
Taurus 634-635 Martine Dulaey
Templum 635-638 Alexander Zerfaß
Tempora (christiana) 639-641 Hervé Inglebert
Temporalia – aeterna 642-645 Walter Mesch
Temptatio 645-649 Jörn Müller
Tempus 649-661 Walter Mesch
Tenebrae 661-664 Gregor Wurst
Terentius 664-668 Jan-Erik Heßler
Terra, terrenus 668-672 Gerd van Riel, Chr. Müller
Tertullianus 672-682 Frédéric Chapot
Testamentum 682-684 Martine Dualey
Testimonium 685-688 Michael Margoni-Kögler
Thagaste 688-695 Michel-Yves Perrin
Theatrum 695-700 Karin Schlapbach
Theodorus, Flauius Mallius 700-702 Claire Sotinel
Theodosius 702-706 Sebastian Schmidt-Hofner
Theologia, theologus 706-710 Wolfgang Hübner
Theurgia 710-714 Richard Goulet
Timasius et Iacobus 714
Timor 715-719 Pierre Descotes
Tolle lege 719-720 Dorothea Weber
Tractatus 720-724 Gert Patoens
Tractoria 724-725 Josef Lössl
Traditio 726-731 Thomas Graumann
Traditor 731-736 Michel-Yves Perrin
Traducianus 736-737 Mickael Ribreau
Tranquilitas 738-742 Jörn Müller
Transfiguratio domini 742-744 Martine Dulaey
Transitus 744-747 Martin Klöckener
Tribulatio 747-751 Martine Dulaey
Triduum crucifixi 751-753 Martin Klöckener
Trinitas 753-776 Emmanuel Bermon
De Trinitate 776-821 Roland Kany
Tristitia 821-826 Alexandra Párvan
Trygetius 826-827 Jörg Trelenberg
Tyconius 827-833 Martine Dulaey
Typus 833-836 Michael Cameron
Valerius comes 836-840 Konrad Vössing
Valerius Episcopus 840-845 Michael Cameron
Vanitas 845-849 Thomas Fries
Varro 849-863 Wolfgang Hübner
Vas 863-865 Volker Henning Drecoll
Velamen, velum 865-867 Martine Dualey
De vera religione 867-875 Josef Lössl
Verbum 875-883 Johannes Brachtendorf
Verbum Dei 883-894 Johannes Brachtendorf
Verecundus Mediolanus 894-895
Vergilius 895-902 Stefan Freund
Veritas, uerum 902-918 Giovanni Catapano
Vermis, uermiculus 918-919 Alexandra Eisgrub
Versus 919-922 Dorothea Weber
Vestigium 922-926 Pawel Sambor
Vestimentum, uestis 927-930 Martine Dualey
Vetus – nouus 930-934 Monnica Klöckener
Via, uiator 934-938 Notker Baumann
Victoria, uincere 938-941 Christian Hornung
De videndo Dei = ep. 147 941-946 Jerôme Lagouanère
Viduitas 946-950 David G. Hunter
Vigilia 950-956 Martin Klöckener
Vincentius marty 956-960 Francois Dolbeau
Vincentius Victor 960-962 Alfons Fürst
Vindicianus 963-964 James O’Donnell
Vinum 964-967 Alexander Zerfaß
Vir 967-972 Jochen Schultheiß
Virginitas, uirgo 972-976 David G. Hunter
Virtus 976-981 Gert van Riel
Vis 981-984 Giovanni Catapano
Visibilia – inuisibilia 984-986 Jerôme Lagouanère
Visio 986-993 Jerôme Lagouanère
Vita 993-1000 Volker Henning Drecoll
Vita aeterna 1000-1006 Notker Baumann
Vitalis 1006-1008 Jérémy Delmulle
Vitium 1008-1012 Gerd van Riel
Vmbra 1012-1017 Michael Cameron
Vunctio 1017-1021 Michael Margoni-Kögler
De unico baptismo 1021-1025 Michel-Yves Perrin
Vnitas 1025-1028 Jerôme Lagouanère
Vnum – multum 1028-1031 Jerôme Lagouanère
Vocatio 1031-1034 Josef Lössl
Volatilia 1034-1037 Alexander Eisgrub
Volumen 1037-1043 Pierre Petitmengin
Voluntas 1043-1066 Jörn Müller
Voluptas 1066-1072 Therese Fuhrer
Volusianus 1072-1075 Konrad Vössing
Votum 1075-1081 Martin Klöckener
Vox 1081-1089 Wolfgang Hübner
Vtica 1089-1090 Francois Baratte
De utilitate credendi 1090-1096 Isabelle Bochet
De utilitate ieiunii 1096-1102 Francois Dolbeau
Vulnus 1102-1107 Alexandra Párvan
Vulpus 1107-1108 Alexander Eisgrub
Vzalis 1108-1109 Francois Baratte
Xenedochium 1109-1111 Andreas Grote
Zosimus 1111-1118 Volker Henning Drecoll

[1] Sie steht in einer Ausgabe gedruckt 1798-1807 in Bassano nahe Venedig (Editio tertia Veneta post Lovanensium theologorum recensionen) in meiner privaten Bibliothek. Das Papier ist noch vor der Zeit des säurehaltigen Industriepapiers bedruckt, d.h. es wird nicht braun und zerfällt irgendwann. Erst seit den 1980er Jahren verwendet man für wissenschaftliche Literatur wieder säureloses Papier, das Jahrhunderte hält. Die Digitalisierung wird voraussichtlich mindestens jede Generation auf den nächsten technologischen Standard übertragen werden müssen, damit die Daten weder verschwinden noch auf neuen Geräten nicht mehr entziffert werden können. – Ein wissenschaftlicher Artikel ist online zugänglich: Gregor Emmenegger: Die Kongregation von Saint-Maur (Mauriner) und ihre Kirchenvätereditionen. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Hrsg.): Europäische Geschichte Online, 2011; urn:nbn:de:0159-20100921200 (23.05.2024).

[2] Der Artikel ‚Augustinus (vita)‘ (AL 1, 519-550 Gerald Bonner) bezieht sich auf diese Grundlage und bemerkt zu der hervorragenden Biographie von Peter Brown „can only add a limited amount of factual information“. Wohl aber der Kontext lässt sich genau ermitteln, dazu immer noch lesenswert Frederik van der Meer: Augustinus der Seelsorger. [niederländisches Original Utrecht ²1949] Köln: Bachem 1951.

[3] Antwerpen 1683 – Brüssel 1940 die 69 Bände, s. Die verfügbaren Bände der Acta Sanctorum – Ökumenisches Heiligenlexikon (23.05.2024).

[4] Ralph Howard Bloch: God’s Plagiarist. Being an Account of the Fabulous Industry and Irregular Commerce of the Abbé Migne. Chicago, IL: Univ. of Chicago Press, 1994.

[5] Die sehr informative Internet-Seite Augustinus-Lexikon (03.03.2024).

[6] Robert Dodaro OSA war bis 2016 Präsident des päpstlichen Institutum Patristicum Augustinianum in Rom, s. Robert Dodaro – Wikipedia (04.06.2024).

[7] Christof Müller war langjähriger Mitarbeiter von Cornelius Mayer und übernahm 2010 als Professor an der Universität Würzburg die Leitung des Projektes. Er leitet dort das Zentrum für Augustinus-Forschung, s. Christof Müller – Wikipedia (04.06.2024).

[8] Konzept (augustinus.de) erklärt zum ‚AL-Schlüssel‘: „für die Suche nach dem Begriff ‹Frau› im AL (muss) nicht nur auf das Lemma ‹Femina›, sondern auch auf ‹Coniux›, ‹Mulier›, ‹Vxor› und ‹Virgo›, außerdem auch auf ‹Adulterium›, ‹Eua›, ‹Matrimonium› und ‹Nuptiae› hingewiesen werden.“

[9] De haeresibus AL 3,

[10] Donatistae AL 2, 606-638 + Contra Donatistas 639-644 + Donatus 644-649 Serge Lancel; James S. Alexander.

[11] Perrin hat das bedeutende Buch verfasst, das das Problem umfassend und nicht nur bei Augustinus beschreibt: Civitas confusionis. De la participation des fidèles aux controverses doctrinales dans l‘antiquité tardive. Paris: nuvis 2017.

[12] Die im Verlag dafür gewonnene Mitarbeiterin hat das Ergebnis ihrer Durchsicht veröffentlicht: Christine Ruhrberg: Die Frühgeschichte des Reallexikons für Antike und Christentum. Nachgetragene Lektüren. 2022_preprint_cr.pdf (uni-leipzig.de) (30. August 2022).

[13] Maren Niehoff: Antisemitismus. RAC 31 (2021), vi-xxxvii. Digital zugänglich (99+) Niehoff, Antisemitismus | Maren Niehoff – Academia.edu (04.06.2024) Das ersetzt den Artikel von Johannes Leipoldt, der als Lieferung 1941 erschien als Teil des Bandes 1 in RAC 1.

[14] Maren Niehoff; Francesco Zanella (Hrsg.): Das frühe Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) und der Nationalsozialismusozialismus. Paderborn: Schöningh 2024 (im Druck. Zum Eintrag „Rasse“ die Aufsätze von Zanella und Auffarth). Der Artikel sollte zunächst von dem Religionswissenschaftler Christel Matthias Schröder geschrieben werden, der die Herausgeber aber darauf hinwies, dass er im Konflikt mit dem Führer der Deutschen Glaubensbewegung, dem Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer stand, also einem von den Nationalsozialisten geförderten Religionsgründer einer indogermanischen Religion.

[15] Grundlegend zu diesem Institut s. Arnhold, Kirche im Abgrund, besprochen auf dieser Seite: “Entjudung” – Kirche im Abgrund. Von Oliver Arnhold http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/08/04/entjudung-kirche-im-abgrund-von-oliver-arnhold/ (4.August 2011).

[16] Zum Problem katholischer Forschung, nachdem Papst Pius x. in de Enzyklika Pascendi 1907 eine Häresie des „Modernismus“ umschrieben und damit den Forschern verboten hatte, dass man Christentum in die antike Religionsgeschichte (eine Mysterienreligion) einordnete oder die Dogmen der Kirche wesentliche Veränderungen durchlaufen hätten, s. den Aufsatz von Auffarth (wie Anm. 13). Die Gefahr, des Modernismus verdächtigt zu werden, bedrohte die freie Forschung.

[17] Guy Stroumsa hat die Vernachlässigung der jüdischen Entwicklung deutlich gemacht (La fin du sacrifice. Paris 2005) und für alle religiösen Traditionen eine ‚Mutation‘ erkannt. Das ist aufgegriffen und fortgeführt von Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen 2023.

[18] Bernhard Jussen: Das Geschenk des Orest. Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526-1535. München: Beck 2023 will ganz auf das Konzept ‚Mittelalter‘ verzichten und stattdessen die tausend Jahre als „Transformation der römischen Welt“ (10) verstehen.

[19] Wichtige Einsichten eröffnen die Arbeiten des Althistorikers Hartmut Leppin, zuletzt Frühchrist­liche Gräber und soziale Anerkennung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 121 (2024), 19-47.

[20] Ilinca Tanaseanu-Döbler: Religion. RAC 28 (2018), 1014-1082 – neben Majastina Kahlos: religio. RAC 28 (2018), 992-1014.

Kommentar zu Nietzsche

Katharina Grätz: Kommentar zu Nietzsches »Also sprach Zarathustra« I und II. –
Katharina Grätz: Kommentar zu Nietzsches »Also sprach Zarathustra« III und IV

(Nietzsche Kommentar, Band 4.1; 4.2) 2 Bände.
Berlin: De Gruyter 2024.
XII, 947; XX, 981 Seiten .
ISBN 9783110293319. 99,95 €. – ISBN 9783110293067.
99,95 €

 

Nietzsches Zarathustra umfassend kommentiert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das am meisten gelesene Buch Nietzsches ist zugleich voller Rätsel, was die Texte bedeuten. Katharina Grätz hat mit ihrem großen Kommentar die Erzählstränge, die Bezüge zum übrigen Werk Nietzsches, seine – im Zarathustra nie genannten – Übernahmen aus anderen Werken herausgearbeitet und damit ein Fundament geschaffen, das jeder braucht, die oder der das Buch genauer lesen will, nicht nur Forschende.

Ausführlich:

Ein Kommentar zu Nietzsches Zarathustra stellt eine besonders herausfordernde Aufgabe, die Katharina Grätz[1] für den Nietzsche Kommentar in zwei Bänden hervorragend gelöst hat. Denn „Von allen Werken N.s erzielte Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen nicht nur mit Abstand die größte Breitenwirkung, sondern zugleich wurden die Verständnis­barrieren von früh an als besonders hoch empfunden.“[2] „Seine [Nietzsches im Zarathustra] grundlegende Textstrategie des verhüllenden Sprechens“ (NK 4/1, 21) verlangt nach Entschlüs­selung der Anspielungen und nicht nachgewiesenen direkten und indirekten Zitate: So nennt FN außer ‚Zarathustra‘ keine Namen mit der einzigen Ausnahme „der Hebräer Jesus“ (Za 95,7). „[D]ie Integration des Quellenmaterials in Za (ist) noch eine Stufe weiter voran­geschritten. Das trägt dem poetisch-zeitenthobenen Charakter des Werks Rechnung, das den Anschluss an aktuelle Diskurse möglichst übertünchte und wissenschaftliches Vokabular weitgehend vermeidet.“ (NK 4/1, 23).

Wer ist mit Zarathustra gemeint, dem Einsiedler, der zu den Menschen herabsteigt, um seine Botschaft zu künden, bevor er wieder in die Bergeseinsamkeit hinaufsteigt und dort seine Angel auswirft, um Menschen zu fischen? Meint FN sich selbst, ist er der Erlöser, der Prophet,[3] der Evangelist?[4] Und warum in der Figur eines persischen Religionsstifters?

„Dem formelhaften Ausspruch ‚Das Ich geheiligt‘ stehen semantisch konträre Formulierun­gen gegenüber. Die von Jaspers herausgestellte […] Widersprüchlichkeit lässt sich für Za nachdrücklich unterstreichen. Im Spannungsverhältnis zur verkündeten Heiligsprechung des Ich steht die radikale Relativierung des Individuums, etwa wenn Zarathustra gegenüber seinen Gefährten verlauten lässt: „Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!“ (KSA 4, 101, 23-25)“.[5] Und das sei als Persiflage auf Jesus im Johannes-Evangelium (6,47) zu verstehen, wo der sagt: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben“ (NK 4/1, 489f). Zur Bibel als Prätext NK 4/1, 24-26: vieles ist möglich, weniges eindeutig.

Die Grundlage des Textes des Nietzsche Kommentars ist der von Nietzsche selbst für den Druck besorgte Text. Die einzelnen Bände erschienen Za I 1883, Za II im gleichen Jahr, Za III 1884, Za IV gar nicht öffentlich (NK 4/2, 415f), sondern nur in wenigen Exemplaren eines Privatdrucks 1885. Das Prinzip dieser Kommentar-Reihe, ist ja nicht die Notizen, die Fragmente aus dem Nachlass als ‚Nietzsches eigentliches Werk‘ zu kommentieren, schon gar nicht die für die Rezeption so verhängnisvolle Kompilation von Nietzsches Schwester Elisabeth „Der Wille zur Macht“. Aber interessant sind auch die „Vorstufen“, also Entwürfe und Planänderungen. Nun wird angekündigt, dass auch der Nachlass neu ediert und mit einem Kommentar versehen werden soll.

Den Nachlass berechnen die Projektleiter mit einem Verhältnis „gedruckte Werke = 6.052 Seiten, nachgelassene Manuskripte = 41.306 Seiten“ und plädieren dafür: „Nietzsches Nachlass im digitalen Medium einer informationstechnologisch avancierten Open Access-Publikation in vollständiger, verlässlicher und zugleich zitierfähiger Textgestalt der Forschung zugänglich zu machen sowie philosophisch und kulturhistorisch zu kommentieren, ist unseres Erachtens das Desiderat der gegen­wärtigen Nietzsche-Forschung.“ Was in den Bänden 7-13 der bisherigen KSA (ca. 3500 Seiten) unter ‚Nachlass‘ ediert ist, biete „keine Textgrundlage, die aktuellen editorischen Standards entspricht.“[6] Geplant ist demnach (1) eine digitale Ausgabe, die alle Stufen der Genese eines Textes vorstellt (2) mit einem Kommentar dazu und (3) eine gedruckte NKSA (Neue Kritische Studienausgabe), die dann den Nachlass in Band 7-20 in der Version des „Textes letzter Hand“ bietet.[7]

Für die Anlage des Nietzsche-Kommmentars kann ich auf die früheren Rezensionen ver­weisen.[8] Die Ausgabe von Colli/ Montinari bildet die Grundlage jeder intensiveren Beschäf­tigung mit Nietzsche.[9] Als Arbeitsinstrument bleibt vorerst die KSA Kritische Studienausgabe (1980, ²1988) der Referenztext, auch für den Kommentar.[10]

Wie in der Reihe vorgesehen, gibt SK zunächst einen Überblickskommentar zum Ganzen Band 1, 3-69, dann die Überblicks- und Stellenkommentare zu Za, Erster Theil 73-495; Za Zweiter Theil 499-841. Im ersten Teilband auch das Literaturverzeichnis (Quellen und zeitgenössische Literatur 843-867; 867-948 sowie das Sach- und Begriffsregister und das Personenregister 949-970.  Der zweite Band (eigene Paginierung) umfasst Kommentar für den dritten Theil 3-406 und den vierten, zunächst nur als Privatdruck veröffentlichten Teil Überblick 409-428; Überblicks- und Stellenkommentar der einzelnen Kapitel 429-848. Das Literaturverzeichnis 849-956 ist weitgehend identisch mit dem von Band I, während das Sach- und Begriffsregister sowie das Personenregister 957-981 sich nur auf den zweiten Band beziehen. Auf 82 Seiten ist das Literaturverzeichnis mit ca. 1800 Einträgen, dann auf 22 und 24 Seiten die ausführlichen, sehr wertvollen Sach- und Begriffsregister wie das Personen­register. Dem Einwand, dass Hunderte von Belegen für ‚höhere Menschen‘, ‚Christentum‘, ‚ewige Wiederkunft‘, ‚Moral‘, oder ‚Jesus von Nazareth‘, ‚Köselitz‘ (Nietzsches Lektor, der sich Peter Gast nennen ließ) eine Suche nicht sehr erleichtert, ist jetzt nachgekommen, indem die Suche nach einer wichtigen Stelle durch fette Hervorhebung erleichtert wird.

 

Die Wahl des Zarathustra als Propheten, der dem Propheten der abendländischen bürgerlichen Religion, dem Christus, widerspricht, kommt nicht ganz ‚unzeitgemäß‘. War Zarathustra oder Zoroaster (so die lateinische Form) schon seit der Neuzeit immer wieder als ‚mitlaufende Alternative‘ in der Europäischen Religionsgeschichte als ein alter Ego von Autoren abseits des Mainstreams aufgerufen worden,[11] so fand FN die Informationen zu dem arischen Religionsstifter (der dem indogermanischen Europa näher stand als der Hebräer Jesus) in einem Buch, das, fachwissenschaftlich informiert, aber nicht die Religion des Zarathustra untersuchte. Vielmehr stellte FNs Gewährsmann Friedrich Anton Heller von Hellwald die Informationen über Zarathustra schon im Kontext seine Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart (1875, ²1876) dar (NK 4/1, 14-20). Es geht FN aber nicht darum, den persischen Religionsstifter und dessen (soweit aus dem Avesta rekonstru­ierbaren) Lehren für die Gegenwart fruchtbar zu machen, vielmehr ist der Name eine Projektionsfläche für seine eigenwillige Verkündigung. FN kündigt seinen Za als den „längst verheißenen Antichrist“ an, sein Buch als ein „Attentat gegen das Christenthum“, wie es seit Voltaire nicht mehr vorgekommen sei.[12]

Freilich habe die Kirche auch ihren eigenen Religionsstifter völlig missverstanden und ver­zerrt. Ernst Benz rekonstruierte das Jesusbild Nietzsches in der Zeit des Nationalsozialismus zugunsten der Deutschen Christen gegen das verfälschte Christusbild der Kirche und hielt auch nach 1945 daran fest.[13] Es geht FN um den im bürgerlichen Christentum rezipierten Christus, aber auch der Hebräer Jesus ist wohl kaum als positives Vorbild dargestellt. Vielmehr soll Za „die Bibel der Zukunft“ werden, ein „fünftes Evangelium“ (KSA 15,188; NK 4/1, 31f).[14] Nur: Wie ist das Verhältnis FN zu dem Propheten ‚Zarathustra‘? Ist er Sprachrohr für FN als den Propheten der Moderne? Dazu ist FN zu ironisch distanziert, etwa im Kapitel, wo der ‚Affe des Zarathustra‘ den Propheten nachäfft aus der Erfahrung „der großen Stadt“. (Za III KSA 4, 222-225. Dazu NK 4/2, 147-161, vgl. NK 4/1, 128-132). Das hat Auswirkungen auf die „Hauptlehren“ FNs die gerne so bezeichnet werden), die im Za verkündet werden (NK 4/1, 39-44):

  • „Der Übermensch
  • Der Gedanke der ewigen Wiederkunft
  • Der Wille zur Macht

Im Kapitel Von der Selbst-Ueberwindung (Za II = KSA 4, 146-149) bezeichnet FN: „jener Wille selber, der ‚Wille zur Macht‘, – der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“.  (KSA 4, 147,5-6) Damit setzt er sich einerseits von Schopenhauer ab. Anderseits verwendet er nicht „unerschöpflich“, das die nie versiegende, also die „Ewige Wiederkehr“ der zeugenden Kraft behauptet. N spricht aber von „unerschöpft“, eine Formel, die aus dem Glaubensbe­kenntnis bekannt ist.[15]  Damit spielt er auf einen zentralen Begriff an, der im Mittelpunkt christlicher Theologie, in der Christologie eine Widersprüchlichkeit auflösen will, den zwischen dem Menschen Jesus und dem Gott Christus. Die Formel „Gezeugt, nicht geschaffen“ nimmt Christus aus den erschaffenen Menschen heraus und weist ihm eine andere Qualität zu: göttlicher Natur und präexistent. KG hat nichts dazu im Kommentar, aber sie hat recht, wenn sie zu FN’s Bibelzitaten (und mindestens so wichtig: Anspielungen auf Gesangbuchtexte) sagt, „darüber lässt sich durchaus streiten“ (NK 4/1, 26).

Wo und wie schließt der Zarathustra ab? Nachdem FN den dritten Teil für den Druck fertiggestellt hatte, arbeitete er noch an einem vierten Teil. Den gab er aber nicht an seinen Verleger (der ob des schleppenden Absatzes das wohl auch kaum gedruckt hätte), sondern ließ ihn nur in einer kleinen Auflage privat drucken und schickte ihn an ganz wenige, an zehn Freundinnen und Freunde. Erst in postumen Ausgaben ist der vierte Teil dann gedruckt. Aber auch im vierten Teil stirbt Zarathustra noch nicht. FN macht im Za IV ein anderes Thema auf: die Höheren Menschen. Also wohl lebende Menschen, die FN auf die von Za geforderte höhere Stufe hin zum Übermenschen schon getreten sind. gleichzeitig ist Za IV nicht so sehr Fortsetzung als Kontrafaktur, teilweise Burleske (NK 4/2, 409-428).

Die Bände sind in Fadenheftung gebunden, die haltbarere Form: angemessen für einen vielbenutzen Kommentar, den man nicht einmal durchliest, vielmehr mit Hilfe des detaillierten Index und der Seitenzahlen des Originaltextes vielmals aufschlagen wird. Weniger schön ist eine Äußerlichkeit: die Bände sind weder in der Farbe noch in der Struktur (glänzend kaschiert statt gewebeartig geprägtes Efalin) des Einbandes gleich mit den anderen Bänden der Reihe. Aber das eine Nebensache!

Hauptsache ist: Katharina Graetz hat in einer enormen Arbeitsleistung den Kommentar geschaffen zu Nietzsches in der Rezeption wichtigstes Buch.[16] Sie hat in der Auseinandersetzung mit den vielen Deutungen nicht aus Einzelsätzen große Interpretationen abgeleitet, sondern in der Gesamtdeutung behutsam und überzeugend ein fundamentales Werk vorgelegt, an dem sich alle Nietzsche-Interpreten – und das Interesse an FN ist wieder und weiter enorm[17] – dankbar wertvollste Bezüge zu anderen, FN auf FN, Anspielungen, Kontrafakturen entnehmen werden. Der (verbesserte) Index erschließt das Werk. Für ein wissenschaftliches Werk ist der Preis sehr moderat, Nietzsche-Fans sollten es sich in das Regal stellen und nutzen.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2024                                                              Christoph Auffarth
Religionswissenschat
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Katharina Grätz ist Professorin für neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg. Ihre Hompage Prof. Dr. Katharina Grätz – Startseite — Neuere Deutsche Literatur (uni-freiburg.de) (17.03.2024). Die Autorin kürze ich mit den Initialen ab KG, Zitate aus dem Kommentar mit NK 4/ Band, Seite. Das Kürzel NK mit Bandangabe verweist auf den Nietzsche Kommentar, zu dem die hier vorgestellten Bände gehören. Nietzsche wird im Folgenden mit FN abgekürzt, Za steht für FNs Werk Zarathustra. Der Text wird nach der Ausgabe der Kritischen Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin: de Gruyter; München dtv ²1988) KSA 4 zitiert, wie auch die Kommentie­rung entlang der Seite und Zeile dieser Ausgabe voranschreitet.

[2] NK 4/1, ix (= II vii).

[3] FN bezeichnet sich im Brief 580 (KSB 7, 21) als „comme poète-prophète“ (NK 4/2, 415).

[4] Kluge Fragen untersucht Heinrich Meier: Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Ausein­andersetzung. München: Beck 2017).

[5] NK 4/2, 223. „Widersprüchlichkeit“ bezieht sich auf Karl Jaspers: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin: De Gruyter 1936. 41974. ND 1981, 420. KG hat noch nicht die kritische Neuausgabe benutzt, hrsg. von Dominic Kaegi. (Karl Jaspers Gesamtausgabe I 18) Basel: Schwabe 2020 (mit instruktiver Einleitung und dem lesenswerten Korrekturvorschlag aus Angst des Lektors Verlags de Gruyter vor Zensur bei der Neuausgabe 1949 des ursprünglich 1936 erschienenen Werks).

[6] Nietzsches Nachlass. Probleme und Perspektiven der Edition und Kommentierung. Herausgegeben von: Barbara Beßlich, Paolo D´Iorio, Katharina Grätz, Sebastian Kaufmann und Andreas Urs Sommer. (Nietzsche-Lektüren 9) Berlin: de Gruyter 2023, hier S. 2 und Anm. 3. Bei der Arbeit am NK wurden etwa 4000 Fehler entdeckt, vgl. ibidem 25, Anm. 24.

[7] Die open access Plattform www.nietzschesource.org unter Leitung von Paolo D‘Iorio. Zu den Transkriptions-Fehlern in der KSA (wie Anm. 5), S. 25 Anm. 24.

[8] Zum „Willen zur Macht“ s. meine Besprechung: Nietzsches Kritik der bürgerlichen Moral „Jenseits von Gut und Böse“ und „Der Wille zur Macht“: Der neue Nietzsche-Kommentar (2). In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 26(2018), 381-385. Zu den ersten drei Bänden: Ders.: Nietzsches Religionskritik und Religionsproduktion: der neue „Nietzsche Kommentar“ (1). Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Band 1/1; 6/1; 6/2. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21(2013), 273-279. [Im Druck ist die gemeinsame Überschrift weggefallen]. Ders.: Lust am Polemisieren: Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen und Die Genealogie der Moral. Der neue Nietzsche-Kommentar (3). In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 29(2021), 151-158. Ders.: Nietzsche probt den Zarathustra: eine fröhliche Wissenschaft. Sebastian Kaufmann: Kommentar zu Nietzsches ›Die fröhliche Wissenschaft‹. (Nietzsche Kommentar, Band 3.2) 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/06/06/kommentar-zu-nietzsche/ (6. Juni 2023).

[9] Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. München: Beck 2022. Der Titel spielt wohl an auf ‚Der Spion, der aus der Kälte kam‘, einem Roman von John le Carré 1963 über die Geheimdienste im ‚Kalten Krieg‘.

[10] Der Nietzsche Kommentar (NK) zitiert im Stellenkommentar jeweils die Seite und Zeile der KSA (Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giogio Colli; Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter/ dtv ²1988), für Zarathustra (Za) also KSA Band 4. Für Verweise innerhalb des vorliegenden Kommentars ist ebenfalls der Kommentar zur Seite aus KSA angegeben. Der Verweis „NK 4/2, 240, 7f“ bedeutet demnach nicht etwa im zweiten Band die Seite 240, sondern den Kommentar zur Seite 240 der KSA (der im Kommentar NK 4/2, 221-223 steht).

[11] Vom Konzept Burkhard Gladigows einer Europäischen Religionsgeschichte [1995] und den darin typischen mitlaufenden Alternativen, s. Christoph Auffarth; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Burkhard Gladigows Beitrag zum Paradigmen­wechsel. Tübingen: Tübingen University Press 2021. – Michael Stausberg hat mit iranistischer Kompetenz seine mustergültige Religionsgeschichte Die Religion Zarathustras. 3 Bände, Stuttgart: Kohlhammer 2001-2004 bis hin zur Gegenwart der Parsen erschlossen. Die Rezeptionsgeschichte (im Wesentlichen des 15. bis 18. Jahrhunderts) hat Stausberg mit der Kompetenz in der Europäischen Religionsgeschichte aus vielen nahezu unbekannten Werken aufgearbeitet: Faszination Zarathustra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der frühen Neuzeit. (RGVV 42) 2 Bände 1998 (Mit einem gewichtigen Geleitwort von Carsten Colpe). Zu Nietzsche Michael Stausberg: Zarathus(h)tra-Zoroaster: Ost-westliche Spiegelungen von den Anfängen bis Nietzsche. In: Mathias Mayer: Also wie sprach Zarathustra. West-östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich. (Klassische Moderne 6) Baden-Baden: Ergon ²2019, 11-29.

[12] FN, Brief an Overbeck 1883 (zitiert NK 4/1, 39).

[13] Ernst Benz: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums. Zeitschrift für Kirchengeschichte 56 (1937), 169-313. Auch separat als Buch Stuttgart: Kohlhammer 1937 [149 Seiten]. Nach dem Ende des NS erweitert [180 Seiten] neu aufgelegt als Beiheft 3 zur Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, die EB zusammen mit Hans-Joachim Schoeps herausgab. Dazu Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[14] Die Forderung eines „Fünften Evangeliums“ zielt darauf, die Religion auf eine neue Stufe zu heben, die die vier kanonischen Evangelien übertrifft und ersetzt, wie etwa Rudolf Steiner in seinen sechs Vorträgen (beginnend mit dem Ersten Vortrag, Kristiania (Oslo), 1. Oktober 1913). Aber auch inner­halb der liberalen Theologie des Protestantismus wurde die „Weiterentwicklung“ des Christentums über die Bibel hinaus zur Religion der Menschheit/Moderne gefordert.

[15] Im Nicaeno-Constantinopolitanum hat das Lateinische Deum verum de Deo vero, genitum non factum, consubstantialem Patri; per quem omnia facta sunt., während das (protestantische) Deutsche formuliert „gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.“ Also Christus, der unerschaffene, ist selbst Schöpfer.

[16] KG arbeitet NK 4/1, 45-51 heraus, wie FN sich selbst für dieses Werk lobt, es für das „erste Buch aller Bücher“ KSB 8, Brief 1226) erklärt, gleichzeitig aber es für ein „unverständliches Buch“ hält, für dessen Erkenntnis Leser erst noch geboren werden müssten, denn der Za „hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinaus, als ‚moderne‘ Menschen erreichen könnten“ (KSA 6, 298). So erklärt er den Za gleichzeitig für die „Vorhalle zu meiner Philosophie – für mich gebaut, mir Muth zu machen“ (KSB 6 Brief 509 NK 4/1, 47), das heißt die Kathedrale muss noch gebaut werden; bislang steht nur der Eingang. – Das Gegenstück „Von der verkleinernden Tugend“ (Za III KSA 4, 209-217) unterscheidet KG von der „berüchtigten Elmauer Rede Peter Sloterdijks Regeln für den Menschenpark (1999)“, der FN vermeintlich neue Aktualität zuschrieb durch die Züchtung von Menschen für Morgen. Dafür könne man sich nicht auf FNs Za berufen (NK 4/3, 119f).

[17] Etwa jüngst Mark-Georg Dehrmann / Christoph König (Hrsg.) Zarathustra-Lektüren. (Beiträge zu Friedrich Nietzsche 25) Basel: Schwabe 2023. Christoph König (Hrsg.): Zweite Autorschaft: Philologie, Poesie und Philosophie in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und „Dionysos-Dithyramben“. Göttingen: Wallstein 2021. Mayer, Also wie sprach Zarathustra (wie Anm. 13).

 

 

 

Richenhagen Jerusalem

Elisabeth Richenhagen: Schon stehen wir in Deinen Toren, Jerusalem.
Pilgerwesen und Jerusalembild am Vorabend des Ersten Kreuzzuges.

(Orbis Mediaevalis: Vorstellungswelten des Mittelalters 18)

Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.
ISBN 978-3847110811

 

Pilger machen sich auf nach Jerusalem:
Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Ein wichtiges Forschungsprojekt für das Verständnis der Kreuzzüge stellen die Pilgerfahrten dar; nicht einfach als Vorstufe, sondern gerade in der Verschiedenheit zu den späteren Kreuzzügen stellt das Phänomen der Pilgerfahrten in großen organisierten Gruppen ein Thema dar, das zwar schon in einzelnen Ereignissen erforscht wurde, aber noch nicht systematisch für das ganze 11. Jahrhundert, bevor am Ende des Jahrhunderts 1095 Papst Urban II. den Aufruf zum Ersten Kreuzzug predigte. Elisabeth Richenhagen hat das Thema für ihre Dissertation erforscht.[1] Dafür erweitert sie die Quellenbasis enorm und umfassend. Zwar sind „aus dem 11. Jahrhundert keine klassischen Pilger- und Reiseberichte […] überliefert“ (30). ‚Klassisch‘ meint die Erzählung einer individuellen Pilgerschaft, etwa die der Egeria.[2] Dafür aber gibt es andere Quellen-Gattungen (Graphik VII 4, S. 389: prozentual aus den 260 Quellen): Historiographische, hagiographische Quellen, Urkunden, Briefe, Sonstige). Eine Leitfrage bildet: „Warum rückt angesichts der biblischen und liturgischen Allgegenwart des Himmlischen Jerusalems im 11. Jahrhundert die irdische Stadt wieder in den Fokus?“ (29).[3]

Die I. Einleitung (11-47) erläutert Forschungsstand, das Quellenkorpus,[4] Methoden und theoretische Herangehensweise, und die mittelalterlichen Vorstellungen von Jerusalem.

Der Teil II. Die Suche nach Jerusalem am Vorabend des Ersten Kreuzzugs (49-94) kontrastiert in tiefgehender Interpretation Briefe und Texte zur Gegenüberstellung des irdischen zum himmlischen Jerusalem. Dahinter steht eine soziale Differenz und deren Rechtfertigung: Im Prinzip dürfen Mönche gar nicht auf Pilgerreise, haben sie doch die stabilitas loci geschworen, dass sie ihr Kloster nicht mehr verlassen werden. So ergeben sich Argumente, warum ihr Leben im Kloster mehr wert sei, als sich auf die Reise nach Jerusalem einzulassen. Sie seien mit ihrer Askese auf der ‚Reise‘, die sie endgültig in das himmlische Jerusalem führt.[5] ER kann eine ganze Reihe von Beispielen von Mönchen auf Pilgerfahrt anführen, aber doch meist als gerade noch gut gegangenes eigenmächtiges Verhalten, das im Nachhinein verziehen wird, etwa Lambert von Hersfeld (83): die Autoren der Texte sind meist selbst Mönche. Deutlich wird aber schon eine neue Rolle: Äbte und Bischöfe als Organisatoren und Führer großer Pilgerfahrten (87-89: der byzantinische Mönch Symeon ‚von Trier‘). Für Laien dagegen wird die Pilgerfahrt in (oft von Äbten und Bischöfen) organisierten größeren Gruppen ein empfohlenes Ziel, das Heil zu erlangen.

III. Exil/Liminalität/Läuterung auf dem Weg nach Jerusalem (95-172): Warum doch das lebensbedrohliche Abenteuer der Reise nach Jerusalem? Peregrinus (und verwandte Begriffe) ist nicht einfach als ‚Pilgerschaft hin zu einem heiligen Ort‘ zu verstehen, obwohl das Wort dann zur meist gebrauchten Bezeichnung wurde.

Augustinus wird oft ungenau herangezogen: Er verwendet den Gegensatz civis/civitas – peregrinus mit der präzisen römischen Terminologie: Bürger, Bürgerschaft – Nichtbürger. D.h. das Wort enthält weniger eine Bewegungsdynamik, sondern einen Statusunterschied. Christen sind schon Bürger bei Gott („Gottesstaat“ für civitas Dei trifft nicht), dafür peregrini Nichtbürger gegenüber der civitas terrena der Bürgerschaft auf Erden.[6]

Die Pilgerfahrt als Exil wird teils als weltliche Strafe ausgesprochen, häufiger aber als satis­factio gegenüber Gott verstanden und freiwillig auf sich genommen. Die große ‚deutsche‘ Pilgerfahrt von 1064/65 interpretiert ER vorzüglich auf die Topoi hin, die sie biblischen Exempeln gleichstellt (145-151; 159). Dabei wird deutlich: Die Heilsgeschichte ist nicht mit den biblischen Ereignissen und Gottes wunderbarem Eingreifen damals abgeschlossen, sondern sie wird fortgeführt bis in die Gegenwart.[7] Auch sonst gelingt es der Autorin, die Traditionslinien der Pilgerfahrt zu skizzieren, dabei aber herauszuarbeiten, was im 11. Jahrhundert anders und neu ist.

  1. Erinnerung und Vergegenwärtigung in Jerusalem (173-252). An den verschiedenen Deutungen des Wortes „wo seine Füße standen“ (ubi steterunt pedes eius Psalm 132,7) entwickelt ER eine reizvolle Entfaltung von der Verkörperung und Materialisierung der Kontaktreliquie Jerusalem. Die heiligen Orte (loca sancta) berührt, emotional beweint, geküsst, einen Krümel davon mit nach Hause gebracht zu haben ist der Höhepunkt (und gleichzeitig der Wendepunkt für die Rückreise) der Pilgerfahrt. Die Grabeskirche steht in der Bedeutung vor allen anderen Orten: im gleichen Gebäude der Felsen von Golgata, die Höhle, wo das Kreuz gefunden wurde (wo an der Treppe unzählige Pilger ein Kreuz in die Wände geritzt haben) und das winzige Gebäude mit dem Grab, in das immer nur drei bis maximal fünf Menschen hineingelassen werden. Die Griechen nennen sie ‚Auferstehung‘, die Lateiner „Grab“. Das Grab des Lebenden, dieses Oxymoron („was sich beißt“) gibt die Gewissheit, dass der Erlöser als erster auferstanden ist und damit den Tod auch für alle Christen überwunden hat. Auffälligerweise wissen nur wenige im Westen, dass die Grabeskirche erst wenige Jahre zuvor, im Jahre 1009, zerstört worden war,[8] aber gerne behauptet man, dass die Juden und die Muslime die Christen behindern wollen in ihrem verkörperten Glauben, der in Reliquien materiell mächtig (ER verwendet und erklärt die Mächtigkeit virtus am Ort) und transportabel ist.[9]
  2. Eschatologie und Apokalypse in Jerusalem (253-305). Sehr wichtig ist schließlich die Diskussion, ob die Pilgerfahrten (und die Kreuzzüge) apokalyptisch motiviert waren. Die Vermutung, dass die Vollendung des Millenniums, also der tausend Jahre nach Christi Geburt bzw. seiner Kreuzigung und Auferstehung in Verbindung mit Apk. 20, die Christen in eine Ekstase versetzt habe, die sie an den Ort des jüngsten Gerichtes eilen ließ, erweist sich als falsch. Nicht das Weltende, sondern das individuelle Ende lässt Menschen die Pilgerfahrt nach Jerusalem als die heilsmächtigste Form auf sich nehmen, wohl wissend, dass sie auf dem Weg sterben könnten. Das zeigen u.a. Testamente, die die Pilger vor ihrem Aufbruch aufsetzen ließen.[10]

Die Lektüre setzt die Kenntnis des Lateinischen voraus. ER beherrscht die Sprache der Quellen wie auch der Begriffssprache. Fehler in den vielen Zitaten habe ich keine gesehen. ER übersetzt viele der Zitate erstmals auf Deutsch, es bleiben aber auch viele Quellen und Begriffe ohne Übersetzung. Ein Register zur Erschließung dieses gehaltvollen Buches fehlt leider.

Elisabeth Richenhagen ist ein wichtiges Buch gelungen, das die Kreuzzugsforschung bedeutend voranbringt; es stellt auch ein hervorragendes Beispiel dar für die in der Mediävistik gerade diskutierten kulturwissenschaftlichen Themen.  Ihre Fähigkeit zur Erschließung von Quellen, die von Historikern bisher gemieden wurden (wie der als notorisch in den Fakten und Datierungen ungenau geziehenen Rodulfus Glaber S. 362-373) oder hagiographische Legenden (beispielsweise die doppelte Legende von Erzbischof Ursus von Bari S. 165f, die in  Bari anders erzählt wird als im gegnerischen Montecassino). Wichtig die Zielsetzung von ER: „um zeitgenössische Vorstellungen nachvollziehen zu können und anachronistischen Fehlschlüssen vorzubeugen“ (95). Was Carl Erdmann vor bald 90 Jahren als Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens so eindrücklich auf verschiedenen Ebenen untersucht hat,[11] das hat ER für das Pilgerwesen als eine Wurzel hier weitergeführt, auf breitere Basis gestellt und eindrücklich präzisiert.

Was den Ausblick auf die Kreuzzüge, besonders den Ersten Kreuzzug angeht – das ist nicht der Gegenstand des Buches –, so ist die Formel von der „Bewaffneten Pilgerfahrt“ (zusam­menfassend ER 313) und die These vom Kreuzzug des Papstes falsch: Weder trugen die Pilger des 11. Jahrhunderts keine Waffen bei sich noch sind die Krieger der Kreuzzüge in erster Linie Pilger.[12] Vielmehr sind die Teilnehmer am Ersten Kreuzzug (und die des von Peter dem Eremiten angeführten Zuges) ganz unterschiedlich in ihrer sozialen Stellung wie in ihrer Motivation. Pilger ziehen zusammen mit Kriegern in einem joint venture. An der Situation um Antiochia, ein dreiviertel Jahr erst Belagerer, dann Belagerte, kommt es zur Krise: Die Pilger und ihre Geistlichen wollen weiter nach Jerusalem und von dort wieder nach Hause, die Krieger (mit ihren Geistlichen)[13] wollen Land erwerben und bleiben. Der päpstliche Leiter Ademar hatte schon vorher kaum Einfluss auf das Verhalten der Krieger, schon gar keine Herrschaft, aber nun war er gestorben. Gehen die Krieger weiter mit den Pilgern nach Jerusalem oder haben sie ihr Ziel erreicht? Da wird ein einfacher Mann zum Anführer, autorisiert durch Visionen des verstorbenen Ademar und durch die wahre oder falsche Reliquie der Heiligen Lanze.[14] – Wie gesagt, das ist nur ein Ausblick, nicht das Untersuchungsprojekt dieser Dissertation. Sie führt die Forschung wirklich weiter und ist eine sehr gute Monographie für die neuen Fragestellungen der Mediävistik.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2024                                                             Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Dr. Elisabeth M. Richenhagen studierte Geschichte, Philosophie und Politische Wissenschaft in Bonn und Paris, Frankreich. Während ihrer Promotion war sie am DHI Paris und als Visiting Scholar am Oxford Centre for Global History, Großbritannien, tätig und wurde 2017/18 an der Universität Bonn bei Prof. Matthias Becher promoviert. Vgl. (23) Elisabeth Richenhagen | LinkedIn (19.03.2024). Den Namen kürze ich ab mit den Initialen ER.

[2] Das Reisebuch Itinerarium (Ende des 4. Jahrhunderts) der wohlhabenden Dame (auch Aetheria) aus dem spätantiken Spanien wird immer wieder beachtet und liegt in zweisprachigen Ausgaben vor: von Georg Röwekamp (Fontes Christiani) Freiburg: Herder, 1995, ³2018 und von Kai Brodersen (Sammlung Tusculum) Berlin: de Gruyter 2017.

[3] Das war auch meine Leitfrage in meiner Dissertation an der theologischen Fakultät Groningen Mittelalterliche Eschatologie 1996, erweitert gedruckt als Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, von der ER wichtige Anregungen aufgenommen hat (15-17; 270 Anm. 1103 und öfter).

[4] Das am Lehrstuhl in Bonn erarbeitete Repertorium Saracenorum, hrsg. von Matthias Becher und Katharina Gahbler (ER 41 Anm. 116) präsentiert u.a. die Pilgerfahrt von 1045/46 mit lateinischem Text und deutscher Übersetzung der Annales Altahenses 0007 – Repertorium Saracenorum (uni-koeln.de) (8.4.2024).

[5] ER führt erst spät das grundlegende Argument der stabilitas loci ein (76-78; zu stark 80f: Das früh­mittelalterliche [irische und angelsächsische] Mönchtum als peregrinatio kann hier nicht angeführt werden). Der Papst schloss im Kreuzzugsaufruf von 1095 Mönche von der Teilnahme aus. – ER geht – sinnvollerweise – über den Zeitraum, den sie sich eigentlich gesteckt hat, das 11. Jahrhundert, hinaus.

[6] „Augustinus sieht entsprechend im gesamten Leben eine Pilgerfahrt in die himmlische Heimat“ (103 mit Anm. 350; die als Beleg angeführte Stelle serm 346B 1 Vitam nostram […] peregrinationem quandam esse a patria sagt gerade nicht „ad patriam“ Pilgerfahrt zur Heimat, sondern spricht vom Fremd-Sein fern der Heimat. Mit dieser Fehldeutung steht ER in Übereinstimmung mit vielen Forscher:innen. Dagegen der Befund Notker Baumann: peregrinatio/peregrinus. Augustinus-Lexikon 4(2012-2018), 668-674.

[7] Hans-Henning Kortüm hat die Bedeutung dieser Pilgerfahrt herausgestellt: Der Pilgerzug von 1064/65 ins Heilige Land. Eine Studie über Orientalismuskonstruktionen im 11. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 277 (2003), 561-592.

[8] Die muslimische Seite fehlt. Dazu etwa Josef van Ess: Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit: der Kalif al-Ḥākim (386 – 411 H.). Heidelberg: Winter, 1977

[9] Vgl. CA: Jerusalem in den Niederlanden: Die Heilsgeschichte und -gegenwart im Haus nebenan. Nadine Mai: Die Brügger Jerusalemkapelle und die monumentale Nachbildung der Heiligen Stätten um 1500 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/03/02/jerusalem-transformationen/ (2. März 2023).

[10] Grundlegend dazu eine Untersuchung von Nikolas Jaspert zu Testamenten aus Katalonien (2015).

[11] S. Auffarth: Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann, der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste. Folker Reichert: Fackel in der Finsternis. Der Historiker Carl Erdmann und das „Dritte Reich“ 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/23/carl-erdmann/ (23.3.2022).

[12] ER führt 148 Anm. 548 die Thesen der Forscher auf, die teils hier schon ‚die bewaffnete Pilgerfahrt‘ sehen wollen. Meine Differenzierung der unterschiedlichen Motive der Teilnehmer der Kreuzzüge, s. Christoph Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävistenverbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176.

[13] Diese Unterscheidung fehlt bei Thomas Haas: Geistliche als Kreuzfahrer. Heidelberg 2012. Dazu meine Rezension Zeitschrift für Religionswissenschaft 22(2014), 414f.

[14] Unter den Dissertationen zum Thema Kreuzzug, die ich rezensiert habe, gehört diese zu den besten deutschsprachigen Arbeiten, vergleichbar mit (1) Kulturkontakt – Kulturkonstrukte: In den Chroniken gedeutete Erfahrung auf den Kreuzzügen. [Rezension zu] Kristin Skottki: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/09/17/christen-muslime-und-der-erste-kreuzzug/ (17. September 2016). – (2) Ohne Vorurteile ins Land der Muslime – in der Kreuzfahrerzeit: Christiane M. Thomsen: Burchards Bericht über den Orient. Reiseerfahrungen eines staufischen Gesandten im Reich Saladins 1175/1176. 2018. In:https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/08/03/burchard-ueber-den-orient/ (3.8.2018).

Religion und Migration

Martin Baumann; Alexander-Kenneth Nagel:
Religion und Migration.

(Studienkurs Religion)

Baden-Baden: Nomos, 2023.
242 Seiten.
ISBN 978-3-8487-7916-1.
24 €.

 

Religion der Migrant:innen als Brücke und als Zaun: ein Lehrbuch

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das wichtige Lehrbuch gibt dichte Informationen zu Forschungen, Ergebnissen und Methoden aus der Religionswissenschaft zur wechselseitigen Bedeutung (intersection) von Migration und Religion. Beide Autoren haben lange Forschungserfahrung, vor allem mit sozialwissenschaftlichen Projekten, aus denen sie lebendige, lebensnahe Beispiele vorstellen.[1]

Ausführlich:

Von den beiden Autoren sind der eine, Martin Baumann, Religionswissenschaftler mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt,[2] der andere, Alexander-Kenneth Nagel, Soziologe mit religionswissenschaftlichem Schwerpunkt.[3] Obwohl das Thema Migration ein vielbe­forschtes Thema in vielen Disziplinen darstellt, ist das Thema Migration und Religion selten Gegenstand, dafür aber mit vielen Vorurteilen – auch von Wissenschaftler:innen – beschwert und mit politischen Forderungen befrachtet (s. S. 26 „Islamisierung der Integrations­debatte“). „So scheint uns, dass sich […] eine säkularistische Norm etabliert hat, die Religion in der Moderne für überwunden hält. […] Gerade in den Sozial-, Medien- und Erziehungs­wissenschaften, die seit den 1960er Jahren einen markanten Aufschwung erlebten, gilt vielen Forscher:innen Religion als ein Relikt des 19. Jahrhunderts.“ (200) Das zweite Kapitel (35-57) zeichnet nach, wie aus dem negativen Diaspora-Begriff für Juden und Jüdinnen das (eher positive) Analyse-Modell in den Kultur- und Sozialwissenschaften wurde. Das jüdische Verständnis Golah/ Galut (zum intransitiven Verb גלה ‚in die Verbannung verschleppen, deportieren‘) ist nicht das Gleiche wie Diaspora, dessen positive Bedeutung ‚Samen aus­streuen‘ erst später auf ‚Zerstreut Sein‘ eingeengt wurde. Dabei ist das oft verwendete Dreieck (S. 39; 50) ein Konzept, das gerade für Jüd:innen nicht zutrifft vor der Bewegung des Zionismus im Kontext der Bildung der sog. Nationalstaaten (und da auch nur für eine Minderheit der Jüd:innen).[4]

Der Mythos der Nostalgie auf die ‚Heimat‘ bezogen ist zu Recht in den Hintergrund getre­ten. Stattdessen hat die Diaspora-Forschung seit den 1990er Jahren erst einmal verschiedene Typen unterschieden:[5] erzwungene Vertreibung (Opfer) – Arbeitsdiaspora – Handelsdia­spora – imperiale Diaspora – kulturelle Diaspora. Das heißt, einer passiven Vertreibung stehen proaktive Mobilität gegenüber. Auch für die jüdische Diaspora hat Cohen darauf hingewiesen, dass der einseitig betonten Opferrolle andere Aspekte der aktiven Eingliede­rung in die Aufnahmegesellschaft gegenüber stehen.[6] Im Nahostkonflikt bekämpfen sich zwei Opfernarrative einander, Shoah und Nakba, die längst nichts mehr mit der jetzigen Realität zu tun haben.[7] Die Kriterien von Cohen 2008 sind auf S. 45 kurz zusammengefasst. Schließlich erläutern die Autoren das Modell von Steven Vertovec 46-48, das dann zu den neuen Forschungen zu transnationalen Netzwerken führt (die durch die leichtere Kommuni­kation mittels Handys intensiviert wird).[8] Von hoher Bedeutung ist die dritte Generation ‚mit Migrationshintergrund‘, die von der ‚Heimat‘ nur noch von Besuchen oder Erzählungen weiß, vielleicht noch die Sprache beherrscht (Phasenmodell; dazu eindrücklich Baumann 2002). – Kapitel 3: Religion, Migration und gesellschaftlicher Zusammenhalt (59-79). Hier werden Fragen der sog. ‚Integration‘ behandelt. Dabei steht im Mittelpunkt der (National-) Staat, der durch Gesetze und Grad der Durchsetzung in Justiz und Polizei die Bedingungen schafft, an die sich Migrant:innen anpassen oder eine Strategie der Vermeidung aufbauen. Auf der anderen Seite setzen die Staaten Bedingungen für die Migration, ein ‚Migrations­regime‘ 65-79.

Kapitel 4 bringt die Selbstorganisation von Migranten ins Spiel, die sich meist über das Feiern ihrer Religion zusammenfinden (81-108). Anstelle des Verdachtes der Parallelgesell­schaft hat AN in seinen Forschungen herausgefunden, wie diese Organisationen (auch Moscheegemeinden 77) sowohl Heimat als auch Brückenorte sind (instruktive Grafik 86f), benennt aber auch die Grenzen (91-94). In Kapitel 5 geht es dann um Forschungen zur persönlichen Religiosität (109-131), qualitativ untersucht an Tibetern in der Schweiz und sunniti­schen Muslimen in Deutschland: Migranten werden religiöser als vor dem Umzug und zugleich müssen sie ihre Religion anpassen an die neue Lebenswelt. Das ändert sich in der zweiten Generation, geschlechtsspezifisch, in der Gewichtung von Tradition und Selbst; sie wird individueller und pragmatisch in ihrer Religionsausübung.[9]

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit „Anwendungsfeldern“: Kapitel 6 Die Ausein­andersetzung um repräsentative religiöse Architektur beschäftigt sich nach einer theoreti­schen Einführung in die Raumsoziologie (Lefebvre; Martina Löw) vorwiegend mit Schweizer Beispielen. Neben dem Volksentscheid zu den Minaretten erstaunt, dass auch christlich-orthodoxe Kirchen Mühe mit der Erteilung von Baugenehmigungen hatten. Konkrete Beispiele erläutern, welche Fehler bei der Vorbereitung solcher Bauanträge gemacht wurden und welche Strategien den Weg dorthin erleichtern. Kapitel 7 untersucht Aktivitäten des „Dialogs“, verschiedenen Formen vom Schulgottesdienst bis zum interreligiösen Friedens­gebet im Rathaus. Wenn es in die Öffentlichkeit geht, sind immer die big five zu beteiligen, also die sog. Weltreligionen Christentum in katholischer, evangelischer und orthodoxer Konfession, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, dazu können Vertreter lokaler kleinerer Gemeinden eingeladen werden. Muslime zu integrieren ist eine wesentliche Motivation: „Ihre Teilnahme stellt faktisch eine Art Minimalbedingung für den interreligiösen Dialog dar.“ (175) Dabei spielen aber die innerislamischen Differenzen keine Rolle. Politik sieht im inter­religiösen Dialog ein Instrument des kooperativen Problemlösungshandelns, wertet dabei die Vertreter der ‚großen‘ Religionen auf zulasten der kleineren religiösen Gruppierungen. Eine gewisse religiöse Kompetenz bei Politiker:innen sei zur Einschätzung nötig, wen man einlädt und damit stärkt. So war die Zusammenarbeit mit der DITIB, der von der türkischen Regierung bestimmten Organisation (vgl. 179), lange die einfachste Lösung, bis dann die Einweihungsfeier der Moschee in Köln zeigte, dass der türkische Präsident für eine Rede eingeflogen wurde, die Oberbürgermeisterin der Stadt aber ausgeladen wurde. (Dazu Kapitel 9) War hier von der lokalen Ebene hin zur Regierbarkeit (governance) der Bogen des Kapitels geschlagen, so stellt das Kapitel 8 die übernationale Dimension von religiöser Vergemeinschaftung dar. Die transnationale Vernetzung gilt als riskant für den Aufnahme­staat, ist aber im Sinne des obigen Schemas ein Grundelement. Das nicht nur in der Verbin­dung zum Heimatland, sondern auch mit Diaspora-Gruppen in anderen Ländern. Durch den Medienwandel besonders hin zu den preisgünstigen und nahezu synchronen Gesprä­chen über die Sozialen Medien spielen Territorium und nationale Grenzen keine Rolle mehr für die ‚Deterritoriale Vergemeinschaftung‘. Das eröffnet auch anderen Autoritäten Aufmerksamkeit wie den ‚Cyber-Muftis‘, die auf Fragen, wie man sich religiös korrekt in einer fremden Umgebung verhalten solle, Fatwas erteilen, die auch von anderen gelesen werden. Spannend ist auch das andere Beispiel einer Hindu-Gruppe, die sich in England selbst organisierte, für heilige Orte (shrines) in der Heimat, im indischen Punjab, Spenden organisierte, und in England sich gegenseitig unterstützte, so dass sie gegenüber der großen Mehrheit der Sikhs, die sie als „Unberührbare“ verachteten, einen rasanten Aufschwung erlebten. Kapitel 9 berichtet über Religionskompetenz in der Einwanderungsgesellschaft (199-218). Dem Thema Schule als Zwangsinstitution („unausweichlich“), dem alle Migrant:innen als Kinder und in der zweiten Generation ausgesetzt sind, bedürfte größerer Auf­merksamkeit. Die drei Seiten 211-214 sind gut und verweisen auf ein Praxisbuch, aber das Thema hat sehr viel mehr Facetten.[10]

Der Band ist als Lehrbuch gestaltet: Die Kapitel beginnen mit einer Zusammenfassung, in gerahmten Absätzen werden Definitionen hervorgehoben, Kurzbiographien. Am Schluss der Kapitel stehen Reflexionsfragen und Denkanstöße sowie Literatur zur Einführung zum jeweiligen Kapitel. Abgeschlossen wird das Buch durch eine umfangreiche Bibliographie 219-237, ca. 360 Titel, vorzugsweise in Deutsch und Englisch, sowie ein Register zu Namen und Stichworten.[11] Das Buch ist erschienen in der Reihe Studienkurs Religion. Dort liegen bereits vor Sebastian Gäb: Religionsphilosophie 2022. Oliver Freiberger: Religionsvergleich 2022. Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller: Religionen und Tod 2022. Der Schwerpunkt liegt durch die sozialwissenschaftliche Herangehensweise nur auf der Moderne; Historisches fehlt fast völlig. Doch das hervorragend gearbeitete Lehrbuch gehört in die Reihe von Büchern, die jede:r Religionswissenschaftler:in, ob Studierende oder Lehrende, durchge­arbeitet haben muss, um grundlegende Voraussetzungen für Veränderungen von Religionen zu kennen. Auch in der Verwaltung und Polizei sind die vorgestellten Erkenntnisse Lehr- und Lernstoff für die im Kapitel 9 erklärten Grundsensibilisierung für Religionskompetenz. Das Buch bündelt Forschungen und informiert sehr ausgeglichen Ergebnisse, strukturiert erhellend durch (öfter neue) Kategorien den theoretischen Zugang, der dann mit Fallbei­spielen konkretisiert wird. Auf so knappem Raum kann man das nicht besser machen. Und ein Thema ist erschlossen, zu dem es solch ein Lehrbuch noch nicht gab. Gratulation!

 

Bremen/Wellerscheid, Februar 2024                                                         Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das ausführliche Inhaltsverzeichnis result_katan.pl (bsz-bw.de) (12.12.2023).

[2] Martin Baumann ist Prof. in Luzern/Schweiz seit 2001. Seine Homepage Prof. Dr. Martin Baumann – Universität Luzern (unilu.ch) (28.10.2023).

[3]Alexander-Kenneth Nagel ist Professor in Göttingen seit 2015. Die Homepage Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel – Georg-August-Universität Göttingen (uni-goettingen.de) (28.10.2023).

[4] Wie im Fall der türkischen Arbeitsmigration das Aufnahmeland unterstellte, dass die Migranten ihren Ruhestand im ‚Heimatland‘ verbringen wollten, so gibt es einen ‚christlichen Zionismus‘, der Jüd:innen unterstellt, dass sie eigentlich ‚zurück nach Jerusalem‘ ziehen wollten, ein Land, das niemand realiter kannte, sondern nur noch als Metapher. Zum christlichen Zionismus s. Shlomo Sand: Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. 2012. Meine Rezension (11. Juli 2013) http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/07/11/die-erfindung-des-landes-israel-mythos-und-wahrheit/. Baumann/Nagel verweisen S. 46 auf den einseitigen Mythos von den „Glaubensflüchtlingen“.

[5] Wegweisend das Buch Global Diasporas von Robin Cohen, dessen erste Auflage 1997 grundlegend überarbeitet wurde ²2008 (³2022).

[6] Cohen verweist auf die Jüd:innen, die, auch nachdem eine Minderheit 532 v.Chr. zurück nach Israel gewandert war (und auch dort als Minderheit das nachexilische Judentum bestimmte), in Babel blieben und dort eine blühende Gemeinde Yehud bildeten, und u.a. dort der babylonische Talmud das Leben in der Diaspora gestaltete.

[7] Anne Rohrbach: Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten. Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“. Bielefeld: transcript 2017.

[8] Bei Suhrkamp erscheint 2024 eine Übersetzung von Vertovec‘ Superdiversity.

[9] Das Buch thematisiert mit seinem empirisch-sozialwissenschaftlichen Anspruch kaum historische Untersuchungen. Für die Antike zuletzt Christoph Auffarth: Religion im Gepäck. Von Migranten und religiösen Virtuosen im römischen Kaiserreich. In: Ciprian Burlacioiu (Hrsg.): Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 152) Berlin: De Gruyter 2022, 37-66.

[10] Eine gute Studie teilnehmender Beobachtung vor allem an Schülerinnen hat Assia Harwazinski veröffentlicht: Islam als Migrationsreligion. Vom Umgang der Deutschen mit ihrer muslimischen Minderheit am Beispiel der Region Stuttgart. Marburg: Tectum 2004.

[11] Die Stichworte des Index sind teils etwas pauschal, etwa „Islam“ mit 32 Einträgen, aber nicht differenziert. Das Stichwort „Islamkonferenz“ etwa fehlt. Zu ‚Ehrenmorden‘ steht etwas auf S. 185.

Troeltsch: Vorlesungen Glaubenslehre

Ernst Troeltsch: Vorlesungen zur Glaubenslehre.
(Kritische Gesamtausgabe 26)

Herausgegeben von: Friedrich Wilhelm Graf

Berlin: De Gruyter 2023.
XXII, 836 Seiten.
ISBN 978-3-11-127355-6.

 

Keine Dogmen mehr: Troeltschs ‚Glaubenslehre‘

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Um die Jahrhundertwende 1900 hielt Ernst Troeltsch (1865-1923) vielfach eine Vor­lesung „Glaubenslehre“, die keine Dogmen vorschrieb, sondern die Vielfalt von Glaubens­gemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirche zum Prinzip macht: Es gehe in der ‚Lehre von Gott‘ (Theologie) nicht um die Definition von Gott, sondern um das Bewusstsein von Gott bei den Gläubigen (und Ungläubigen). Eine hervorragende kritische Neuausgabe bietet Text(e) und Kontexte.

Ausführlich:

Zu den Aufgaben des Professors für systematische Theologie an der Universität Heidelberg gehörte die große Vorlesung. Das Verzeichnis aller von Ernst Troeltsch angebotenen Lehr­veranstaltungen ist im Anhang 2, Seite 723-730 zu finden. Alle zwei Jahre hielt ET in zwei aufeinanderfolgenden Semestern je fünfstündig die Vorlesung „Glaubenslehre“. (alternie­rend mit Ethik, Dogmatik, Dogmen- und Theologiegeschichte). Die Ethik-Vorlesung soll als Band 27 der KGA erscheinen.[1]

Von der Vorlesung gibt es kein eigenhändiges Manuskript ETs (wie ja überhaupt der Nachlass verloren ist). Der junge Professor, seit 1894 als  29-Jähriger an der badischen Landesuniversität in Heidelberg tätig, wurde als feuriger Vortragender bewundert, weil er so gar nicht dem Bild der „‘Mandarine‘ der Zeit entsprach.[2] Er las er kein Manuskript vor, vor allem kein Handbuchwissen, sondern konnte aus der Fülle der riesigen Zahl der aktuell erschienenen Bücher, die er rezensierte, die gerade diskutierten Fragen erläutern.[3] Ein amerikanischer Student, der ihn 1912 in Heidelberg hörte, gab folgendes Urteil:

That a new School will form itself about him is unlikely; his teaching is too individualistic for that. But many a student is attracted by his powerful reasoning, fearlessly critical of all the prevailing tendencies – orthodox, Ritschlian, Hegelian, pragmatic – and gets from him a deeper hold on the realities of the spiritual life and a stronger faith in Christianity as the permanent expression of that life.[4]

Doch dank der Aufmerksamkeit der Herausgeber konnten drei Notizbücher (‚Kladden‘) entdeckt und erworben werden, die Mitschriften von drei Vorlesungen ETs enthalten. Zudem ist die eine Vorlesung, die Glaubenslehre schon einmal in Buchform erschienen: Eine Studentin hörte 1911/12 die Vorlesung und gab sie 1925 heraus. Diese Studentin, Baronin Gertrud von Le Fort, hielt Kontakt, auch als ET Professor in Berlin wurde und unterstützte die Familie mit Lebensmitteln aus ihrem Gutshof, als nach dem Ersten Weltkrieg in der Großstadt alles rar wurde. Die Korrespondenz, die Danksagungen sind erhalten und im Band 22 (Briefe V, 1918-1923) der KGA ediert.[5] Die Edition von Gertrud von Le Fort ist S. 401-699 abgedruckt, unverändert, aber mit Kommentaren und einem ausführlichen Editions­bericht 307-399, der auf Archivstudien beruht. Über die mühseligen Abstimmungen mit der Witwe Marta Troeltsch und die Vermittlung durch den Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Schubert berichtet FWG 315-390. Sie hütete den Nachlass, aber anders als die Witwe Max Webers, Marianne, investierte sie kaum Arbeit in die Ausgabe, aber machte immer neue Auflagen, wie die Editionen erfolgen sollte.

So konnte Friedrich Wilhelm Graf also eine Edition in dreifacher Version erarbeiten: (1) die sorgfältige Abschrift einer Mitschrift der Vorlesungen aus dem SoSe 1906 und WiSe 1906/07. Der Verfasser ließ sich nicht ermitteln (S. 111-257). Dazu kommen (2) die „Diktate zur Dogmatik“ aus dem SoSe 1908, die Karl Barth sich abschrieb, als er in Marburg studierte (259-306). Und (3) die vielfach wörtliche Wiedergabe der Vorlesung in der überarbeiten Mitschrift von Gertrud von Le Fort (307-699). Über die Begründung der kritischen Edition der KGA berichtet der Herausgeber. Vor allem aber ordnet der Herausgeber aus einer um­fassenden und intimen Kenntnis des Gesamtwerkes die Vorlesung in einer Wissenschafts­geschichte ein und berichtet vom Profil des so eigenständigen Entwurfs einer Glaubens­lehre.[6] Unter den intensiven Forschungen zu Troeltsch und seinem Umkreis seit 1985[7] sind auch die Hörer und Hörerinnen der Vorlesungen untersucht, die dafür (beträchtliche) Hörergelder bezahlten.

Der Titel der Vorlesung „Glaubenslehre“ lässt etwas von der Herangehensweise ETs erkennen. FWG zitiert, dass ET schon beim Doktor-Examen eine These vorgelegt und verteidigt hat, „Das wissenschaftliche Moment der Dogmatik liegt in der Prinzipienlehre; bei der Darlegung der Glaubensinhalts selbst kann von Wissenschaft im strengen Sinne nicht mehr die Rede sein.“ (KGA 1, 70; KGA 26, 4). FWG stellt die Glaubenslehre unter die Überschrift „Dogmatik als praktische Theologie“ (62). ‚Dogmatik‘ beurteilte ET ambivalent: Einerseits hielt er sie als Hauptzweck der Theologie und schrieb zahlreiche Artikel zu den großen Themen für die Die Religion in Geschichte und Gegenwart1, dem Lexikon für Laien und Gelehrte des Protestantismus. Andrerseits bearbeitete er nicht die ‚ewig gültigen‘ Loci, sondern zielte auf „eine neue, wahrhaft moderne Dogmatik für die Umbruchzeit.“[8] Nicht Gott, sondern nur das menschliche Bewusstsein von Gott konnte das Thema der Glaubens-Lehre sein (67) und damit knüpfte er an die ‚Bewußstseinstheologie‘ Friedrich Daniel Schleiermachers an.[9] Letztlich sei eine ‚kirchliche‘ Dogmatik eine überholte Stufe der Christentumsgeschichte.[10] In der Moderne kann es nur um ein persönliches Bekenntnis gehen; die Volkskirche umfasse verschiedene Glaubensgemeinschaften, die je ihre eigenen dogmatischen Leitfäden vertreten (75); es gibt keine Dogmen mehr (77). Und eine Glaubenslehre müsse ohne Widerspruch mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Rationalität bestehen können, ohne dass es um eine Unterordnung gehe, sondern um das Aushandeln von Gegensätzen („Zusammenbestehbarkeit“ 77-80).[11] FWG erläutert auch grundlegend Nähe und Distanz ETs zu Schleiermacher (82-102).

Gegenüber der ersten Buchausgabe sind die beiden Versionen wertvoll, unvergleichlich aber bleibt die Arbeit, die Gertrud von Le Fort geleistet hat, um einen Eindruck vom Redner ET zu vermitteln, der über seinen Glauben spricht als einem sich verantwortenden Wissen­schaftler. Die umfassende Einordnung durch den Herausgeber zeigt Absicht und Rezeption, nachdem sich bereits mit der Dialektischen Theologie und dem katastrophalen Ende des Ersten Weltkriegs die Situation völlig anders darstellte als zu der Zeit, als ET die Vorlesungen hielt. Liberal und weltoffen, tolerant gegenüber anderen Meinungen war zu einer verpönten Haltung geworden, auch bei vielen, die ET zugehört hatten.

 

Bremen/Wellerscheid, Februar 2024                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Der Editionsplan der KGA ist 833-836 zu finden. Demnach stehen noch sechs Bände in acht Teilen aus. Hervorzuheben ist, dass die Reihe weiter in Fadenheftung und in Leineneinbänden erscheint.

[2] Fritz K. Ringer (1934 in Ludwigshafen – 2006 in Washington D.C.) arbeitete die Bedingungen der Karrieren der Universitätslehrer in Deutschland heraus und bezeichnets sie als ‚Mandarine‘, also die sprichwörtlich unterwürfigen Diener des Staates wie in China: The Decline of the German Mandarins: The German Academic Community 1890–1933. Harvard 1969; dt. 1983, später im Vergleich mit den französischen Universitäten: Fields of knowledge: French academic culture in comparative perspective 1890–1920. Cambridge: CUP 1992; dt. 2003.

[3] Die unglaubliche Fülle der von ihm rezensierten Bücher wird deutlich in den Bänden 2, 4 und 13 der KGA und der Bibliographie der in den Büchern und Aufsätzen aus vielen Gebieten der Geistes­wissenschaften, die die Herausgeber je in einer eigenen Rubrik der Bibliographien genau gelistet haben. Für das englischsprachige Publikum habe ich berichtet, zuletzt Numen 70(2023), 633-634.

[4] Lucius Hopkins Miller (1876-1949) 1913, zitiert KGA 26,3. – Albrecht Ritschl war der Professor für Dogmatik, der als der wichtigste Vertreter der ‚modernen‘ liberalen Theologie, gegen dessen Theo­logie aber die jungen Wilden der theologischen Fakultät in Göttingen die (informelle) ‚Religions­geschichtliche Schule‘ bildeten. Während viele von denen (wie Wilhelm Bousset) länger auf keine Professur berufen wurden, wurde ET schon mit 27 Jahren Professor erst in Bonn, dann in Heidelberg und schließlich (nachdem er 1908 schon einmal gescheitert war) als 50-Jähriger in Berlin.

[5] Siehe den Index der KGA 22! Lange Briefe ET an Le Fort (114-120; 160-162), zeitweilig stand im Raum, dass GvL in der großen Wohnung der Troeltschs in Berlin ein Zimmer beziehen könnte. Im vorliegenden Band KGA 26 ist ein Foto (S. 703) abgebildet, das Ernst, Marta und den spätgeborenen Sohn zeigt am Strand von Warnemünde (vgl. 311: im Jahre 1917); GvL als Freundin der Familie, sitzt davor im Sand. Ausführlich FWG in diesem Band 308-315. GvL wurde zu einer bedeutenden Schriftstellerin; sie konvertierte 1925 zum Katholizismus, verstand das aber nicht als Abkehr vom Protestantismus, sondern als „eine persönlich vollzogene Vereinigung“ (309). Marta Troeltsch weigerte sich, den Namen GvL auf dem Titelblatt zu gestatten (353f) und wollte zunächst das ganze Honorar für sich behalten, lenkte dann aber ein (383).

[6] Friedrich Wilhelm Graf hat als Krönung seiner lebenslangen Forschungen eine Biographie verfasst, vgl. „Advokat(en) einer liberalen Theologie: Ernst Troeltschs Biographie von Friedrich Wilhelm Graf“: Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/03/04/ernst-troeltsch-biographie/ (4. März 2023).

[7] In einer eigenen Reihe von FWG und Horst Renz hrsg. Troeltsch-Studien 1(1982) – 11 ETs Historismus (2000) und Troeltsch-Studien Neue Folge 1 (2006) – 7 (2021), wobei zuletzt 4: Briefwechsel Le Fort – Gogarten 2022 erschienen ist, sind Beiträge zu Kongressen und Monographien erschienen.

[8] FWG 67 in Aufnahme eines Zitats von Hans-Joachim Birkner 1987. Neben der Formulierung des ‚evangelischen Bekenntnisses‘ in der Confessio Augustana 1530 blieb grundlegend der Kommentar des Humanisten und Wittenberger Kollegen Luthers, Philipp Melanchthon, in den Loci Communes (Peter Litwan, Sven Grosse [Hrsg.]: Loci praecipui theologici nunc denuo cura et diligentia Summa recogniti multisque in locis copiose illustrati 1559. Studienausgabe Lateinisch-Deutsch. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018) bzw. auf reformierter Seite Jean Calvin Institutio Christianae Religionis (zuerst 1536, dritte völlig umgearbeitete Fassung 1559). – Die entsprechenden Texte von ET zur Dogmatik in KGA 3 und KGA 10 sind noch nicht ediert.

[9] 67-69. Da der Begriff von den Kritikern formuliert wurde, breitet FWG in einem Exkurs (69-73) ETs Begriffe aus und gibt die Belegstellen, etwa für ‚Melanchthons Definitionstheologie‘ gegen die Spekulationstheologie.

[10] 74. Genau das aber nahm sich der reformierte Theologe Karl Barth vor in seiner Kirchlichen Dogmatik 1932-1967 in 13 Teilbänden, unvollendet. Sie richtete sich in ihrer dialektischen Theologie gegen Schleiermacher und damit gegen Troeltsch. Vgl. 94 Anm. 432 zu einem Aufsatz von Eilert Herms und S. 101 zu Schleiermachers Bezug auf die evangelische Kirche.

[11] ETs Freund Max Weber dagegen entfernte sich vom Christentum v.a. seiner Mutter, weil man dafür seinen Verstand ‚opfern‘ müsse (sacrificium intellectus). Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023, 201.

Das Griechisch-Deutsche Wörterbuch

 

Franco Montanari: GD – Wörterbuch Altgriechisch-Deutsch.
Deutsche Ausgabe hrsg. von Michael Meier-Brügger und Paul Dräger.

Berlin: de Gruyter 2023. LXXXI, 2293 Seiten.

ISBN 978-3-11-018392-4.
99,95 €.

 

 

Das Griechisch-Deutsche Wörterbuch von Franco Montanari
in deutscher Bearbeitung wird der Maßstab

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Ein Ereignis ist anzukündigen: Das neue GD-Wörterbuch zum Altgriechischen ist umfassen­der als alle bisherigen, und doch erschwinglich. Jede Schule, jeder Lehrer sollte es sich anschaffen, in der Universität ist es unverzichtbar, auch für Theologen das Referenzwerk.

Als ich mein Studium der Altertumswissenschaften begann, schenkte mir mein Bruder das Griechisch-Wörterbuch, das schlicht das Optimum darstellte: den Liddel-Scott. Nein Little (wie ich bei der ersten Erwähnung falsch verstand) ist dieses Monsterbuch nicht: 2300 Seiten, 30 x 22 (also etwas über das Din A 4-Format, 8,5 cm dick, über 4 kilo schwer. Seither habe ich dieses Buch meist täglich gebraucht und exzellente Informationen gefunden: ein unverzicht­bares Arbeitsinstrument! Der Liddel-Scott war über Generationen verbessert worden, 1843 zum ersten Mal veröffentlicht, erschien die letzte, die neunte Auflage 1940, dazu noch ein Supplement 1968.[1] Aber das Lexikon ließ sich nicht mehr modernisieren. Seither ist (1) das Material der Papyri enorm gewachsen, (2) die Epigraphik findet ständig neue Inschriften,
(3) Für das Koiné-Griechisch, also das Griechisch, das im östlichen Teil des Mittelmeeres ein­schließlich in Rom die Umgangssprache war und auch im Neuen Testament verwendet wurde, gab es andere Lexika[2] und (4) die theologische Sprache der ‚Kirchenväter‘ (englisch patristic) hatte der LSJ ausgeschlossen und für die ein ‚Kamerad‘ companion im gleichen Verlag veröffentlicht wurde: der Lampe.[3] So endet die lexikalische Aufgabe im 2. Jahrhun­dert. (5) Für den Beginn fehlt das Griechisch vor Homer. Die 1951 entzifferte Sprache auf den Linear-B-Täfelchen erwies sich als ein frühes Griechisch. In dem spanischen Projekt gibt es dafür ein spezielles Lexikon für Linear B.[4] Im GD-Wörterbuch ist es nicht berücksichtigt.

So entstanden neue lexikalische Projekte: Die Digitalisierung (und kompetente Programmierer-Gräzisten) machten etwas Unglaubliches möglich: sämtliche griechischen Texte bis etwa zum Jahre 600 n.Chr. auf eine kleine Scheibe zu pressen und damit den Thesaurus Linguae Graecae TLG für jedes Wort durchsuchbar zu machen. Und man kann das nach Autoren, Epochen, Textformen eingrenzen, jede Wortform erklären lassen. Und dabei sind Papyri und Inschriften einbezogen, jeweils nach den besten verfügbaren Editionen.[5]

Für das Lateinische wurde eine Institution gegründet, die den entsprechenden Namen trägt, Thesaurus Linguae Latinae. Dessen Aufgabe ist die Erschließung und Unterscheidung der Bedeutungen der in der lateinischen Literatur bis in die Spätantike (600 n.Chr.) belegten Wörter mit den Kurzzitaten und Belegen (vollständig bei den selteneren, eine begründetet Auswahl bei den häufigeren Wörtern). In der Institution, bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt, arbeiten Wissenschaft­ler:innen auf der Grundlage eines Zettelarchivs (jeder Beleg eines Wortes auf einem eigenen Kartei­kärtchen) an den Lemmata.[6] Der Latinist und Linguist Eduard Wölfflin (München) in Verbindung mit Friedrich Leo in Göttingen und Franz Bücheler in Bonn entwickelte das Projekt, das Ende 1893 begründet, die Arbeit verteilt und finanziert wurde. Im Jahre 1900 erschien der erste Faszikel im Teubner Verlag (der heute zu de Gruyter gehört). Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen, man rechnet mit etwa 150 Jahren. Thesaurus Linguae Latinae – Wikipedia (10.2.2024). Das Lexikon ist dank des Verlages de Gruyter und der Berlin-Branden­burgischen Akademie der Wissenschaften auch online zugänglich: TLL Open Access: Thesaurus linguae Latinae (badw.de) (10.2.2024).

Der griechische Thesaurus Linguae Graecae hat angesichts des viel umfangreicheren Wortschatzes eine andere Geschichte: In der Renaissance erarbeitete der Gelehrte Stephanus (Étienne) einen Thesaurus in fünf umfangreichen Bänden und veröffentlichte ihn auf eigene Kosten in Genf 1572, eine ungeheure Leistung eines einzigen Mannes, die Generationen den griechischen Wortschatz erschloss. Als im 19. Jahrhundert die kritischen Ausgaben auf breiter Handschriftengrundlage erarbeitet wurden und die Fragmente (der Tragiker, Vorsokratiker, Historiker) gesammelt wurden, wurde ein neues Projekt nötig. Aber die Aufgabe erwies sich als riesig. Als Bruno Snell in der Mitte des 20. Jahrhunderts einen Plan entwarf, teilte er den Thesaurus in handhabbare Teilprojekte.[7] Er selbst institutionalisierte in Hamburg das Lexikon des frühgriechischen Epos (ab 1955), ein Lexikon zu den Hippokratischen (medizinischen) Schriften, das nie vollendete Platon-Lexikon, das Philo-Lexikon, neu erarbeitet das Lexikon zur Septuaginta. Das alles sind Thesauri-Lexika, also nicht nur die Konkordanz, sondern Konkordanz und Bedeutungswörterbücher. Dazu kommt der oben genannte TLG digital.

Was der TLG nicht kann: die unterschiedlichen Bedeutungen eines Wortes unterscheiden, eben die Aufgabe eines Lexikons/Wörterbuchs. Die Notwendigkeit eines neuen Lexikons war evident. Verschiedene Projekte bemühten sich um einen Ersatz, die die Defizite des LSJ überwinden sollten. So gibt es in Spanien das langsam wachsende Großunternehmen des von Francisco R. Adrados (1923-2020) begründeten Diccionario griego-español (mit Anhängen zu Spezialwortschätzen, u.a. das Mykenische Wörterbuch oder der juristische Wortschatz in Byzanz 2019).[8] Zudem ist The Cambridge Greek Lexicon, edited by James Diggle (editor-in-chief), B.L. Fraser, P. James, O.B. Simkin, A.A. Thompson, S.J. Westripp Cambridge: CUP 2021 erschienen (Ursprünglich als Neubearbeitung des LSJ gedacht): 1529 Seiten in 2 Bänden zu 37 000 griechischen Wörtern. Das vorliegende GD-Wörterbuch basiert auf dem italieni­schen Projekt des Teams um Franco Montanari:[9] Vocabolario della lingua greca, greco-italiano 2013:[10] Es enthält rund 140 000 Lemmata (S. 2294). Sehr knapp sind die etymologischen Hinweise. Aufgeführt sind zunächst die Wortformen in den verschiedenen Zeiten (wie Aoriststamm) und Modi (Aktiv/Medium/ Passiv), den Partizipformen. Dann kommt grau unterlegt die Breite der Bedeutungen des Wortes in Kurzform und in der Gliederung, die dann im Folgenden ausgeführt wird, dort dann mit den Belegen aus Literatur, Papyri, Inschriften, die die diese Bedeutung nahelegen. Die christlichen Bedeutungen sind berücksichtigt. Der Druck verwendet eine kleine Type, aber gut lesbar dargestellt, die Gliederung mit schwarz-inversen Zahlen 1, 2, 3 aktiv/Medium/Passiv, dann in a, b, c umrandet, die weitere Bedeutung in Fettschrift. Am Schluss Alternativen in den Dialekten. Die griechischen Belege im kurzen Kontext, Stellenangabe, deutsche Übersetzung. Die im LSJ im gleichen Lemma oft mühsam erkennbaren Wörter, die zwar gleich anfangen, aber dann eine andere Endung haben (z.B. Adjektive, Substantive zum Verb), sind im GD-Wörterbuch in eigene Lemmata getrennt.

Entsprechend meinen Interessen und Kompetenzen prüfe ich Beispiele:

  • τελέω (3 Spalten). Die religiöse Bedeutung 1 c in die Mysterien einführen einweihen, [wird auf die Etymologie des Wortes „zur Erfüllung bringen“ zurückgeführt] wahr­scheinlich aus der Idee, vollkommen zu machen – mit zwei Belegen. || feiern ausführen, begehen, Riten, Opfer, Orgien – 4 Belege | Ehen [schließen] – 2 Belege. Das entsprechende τελετή, ῆς, ἡ a Initiationsritus, Initiation, zu den Mysterien – 4 Belege | metaph. Initiation in die Riten der Liebe | Pl[ural]. Initiationsriten, Mysterien 5 Belege, beim letzten EUR. Bac. 73 (v.l.) [heißt an der Stelle Euripides, Bakchai ist τελετή eine varia lectio, d.h. eine Handschrift des Euripides überliefert einen anderen Text (nicht in der Edition von James Diggle 1994)] | Pl. auch theologische Lehren – 2 Belege || christl. Mysterium, sakramentaler Ritus 1 Beleg etc. b allgemein religiöser Ritus oder Zermonie, Fest, Feier, gew[öhnlich im] – drei Belege. c  Priestertum – 1 Beleg • dor[isch] -τά PIND. Lcc. [loci citati an den zitierten Stellen] – [bei b. wäre noch allgemeiner „Religion“ zu ergänzen].
  • τέμενος Heiligtum wird oft von τέμνειν (aus-)schneiden abgeleitetund falsch interpretiert im Sinne der profan/sakral-Unterscheidung, d.h. ein sakraler Bezirk wird aus dem profanen Ort ‚ausgeschnitten‘. Im Lemma des GD-Wörterbuches ist die Ableitung von τέμνειν angegeben, aber richtig als Bedeutung a Landstück, Grund, Feld, als Besitz Königen, Anführern etc. zugewiesen. [Die durch ein ‚Ausschneiden‘ sakrale Bedeutung im Unterschied zum Profanen ist damit eine falsche Vorstellung, etwas anders lateinisch templum – der Ausschnitt für die Beobachtung im Zelt des Auguren, der den Zug der Vögel beobachtet und daraus eine Divination erstellt, den Willen der Götter. Dass das Wort τέμενος schon im Mykenischen belegt ist und dort die Bedeutung a hat, ist nicht angegeben. Das Etymological Dictionary of Greek von Beekes[11] weist einen indo-europäischen Stamm nach und hat sowohl den mykenischen Beleg als auch eine Reihe inschriftlicher Belege. Beekes diskutiert das mögliche altorientalische Lehnwort Akadisch temennu. Dann wäre die Ableitung von τέμνειν eine Volksetymologie. «This is not very probable» 1465].
  • θύω GD-Wörterbuch unterscheidet deutlich zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen, nämlich opfern von wütend werden, rasen, sich erregen. Das Etymologische Lexikon von Beekes trennt in zwei Lemmata θύω1 und θύω Eine indo-europäische Etymologie sei möglich, jedenfalls kein fremder Ursprung, aber im Augenblick lasse sich nichts sagen ohne weitere Forschung (567). Dem Versuch, die beiden Lemmata auf eine gemeinsame Etymologie zurückzuführen, gibt Beekes eine Abfuhr: Vorgeschlagen wurde aus dem lateinischen suf-fio (der zweite Teil also aus θύω) ‚räuchern‘ die Grundbedeutung des Opferns als Verbrennen und Rauch erregen. Das sei nicht überzeugend (568). GD-Wörterbuch erwähnt: „[Vgl. lat. suf-fio?]“ Wer kann damit etwas anfagngen? Für Etymologien und alle attestierten dialektalen Formen muss man doch Beekes‘ EDG zu Rate ziehen.
  • λείβω ein Trankopfer geben. GD-Wörterbuch vermittelt zu lat. libare (davon abgeleitet der terminus technicus ‚Libation‘); es beruht auf einer idg. [indogermanischen, statt heute üblich indo-europäischen] Etymologie. Dativ für die göttlichen Empfänger, Akkusativ-Objekt θεοῖς ἐλειψάμην σπονδάς den Göttern brachte ich Trankopfer dar. Medium = Aktiv. Unter ‚σπονδή’ [s. σπένδω] auch die metaphorischen Bedeutung b Vertrag, Waffenstillstand, [da diese vereinbart wurden im Angesicht der Götter, deren Anwesenheit durch die symbolische Handlung, etwas Wein oder Milch oder Honig auf den Boden zu träufeln, dargestellt wurde].

Im Vorwort erklärt der deutsche Herausgeber, was seine Aufgabe war: Michael Meier-Brügger geboren 1948, seit 1996 bis zur Emeritierung 2013 Professor für Sprachwissenschaft im Institut für Klassi­sche Philologie an der Freien Universität.[12] Die Verabredung war, dass die Übersetzungen keine inhaltlichen Veränderungen an der Substanz des italienischen Werkes durchführen sollte, sondern nur die Bedeutungen aus dem Italienischen ins Englische (Leiden: Brill 2014), Griechische (Athen: Papadimas 2015) und ins Deutsche (2023) übertragen. Aber Meier-Brugger nahm die Aufgabe doch anders an, indem er die Belege noch einmal über­prüfen ließ und ihm dabei mehrere Korrekturen gelungen sind (Die sind in den anderen Ausgaben stehen geblieben, aber in der online Ausgabe der englischen mittlerweile übernommen). Die Arbeit stellte sich als sehr viel umfangreicher heraus, aber er konnte Paul Dräger, den Trierer Klassischen Philologen,[13] zur Mitarbeit gewinnen, der am Ende sogar mehr als die Hälfte der Lemmata bearbeitete. Zusätzlich zum gedruckten Buch ist eine Datenbank für Neufunde zugänglich.[14]

Statt des Altgriechisch-Englischen Lexikon von Liddel-Scott-Jones und dessen Neufassung als Cambridge Greek Lexicon wird das GD-Wörterbuch von Franco Montanari in seiner deutschen Bearbeitung das tägliche Arbeitsinstrument werden. Ein wirklicher Fortschritt! Und der Preis ist erstaunlich niedrig angesichts der umfassenden Informationen, die dieses große, großartige Werk bereithält. Wer immer sich mit altgriechischer Sprache intensiver beschäftigt, an Schulen, Studierende der Latinistik, Gräzistik, die Theologen (Neues Testament, Alte Kirchengeschichte), sollte diesen Band anschaffen. Ein Werkzeug fürs Leben.

Bremen/Wellerscheid, Februar 2024                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Henry George Liddell. Robert Scott. A Greek-English Lexicon. Revised and augmented throughout by Sir Henry Stuart Jones with the assistance of. Roderick McKenzie. Oxford: Clarendon Press 91940. Materialien zur Geschichte des Lexikons A Greek–English Lexicon – Wikipedia (9.2.2024). Es ist online zugänglich, u.a. Henry George Liddell, Robert Scott, A Greek-English Lexicon, Α α, (tufts.edu) (10.2.2024). Abgekürzt wird das Lexikon mit LSJ.

[2] Philologisch unübertroffen ist ‘der Bauer’, überarbeitet von Kurt Aland. Walter Bauer: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. Heraus­gegeben von: Kurt Aland und Barbara Aland. Berlin: De Gruyter 61988. Zur vertanen Chance, ein Koine-Wörterbuch zu schaffen s. Christoph Auffarth: Ein Gesamtbild der antiken Kultur. Adolf Erman und das Berliner Modell einer Kultur­wissenschaft der Antike um die Jahrhundertwende 1900. In: Bernd U. Schipper (Hrsg.): Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854-1927) in seiner Zeit. Berlin; New York 2006, 396-433.

[3] Geoffrey William Hugo Lampe: A Patristic Greek Lexicon. Oxford University Press 1961-1969. Hier stehen weniger die philologischen Aspekte als vielmehr die theologischen Bedeutungen im Vorder­grund.

[4] Diccionario Micénico. Redactado por Francisco Aura Jorro bajo la dirección de Francisco Rodríguez Adrados (Diccionario Griego-Español, Anejo I). 2 Bände, Madrid, CSIC, 1985, 1993. Ein Supplement ist 2020 erschienen: Diccionario griego-español ; Anejo, 7 ; Suplemento al diccionario micénico (DMic. Supl.). Autor ist neben Aura Jorro, Francisco; Bernabé Pajares, Alberto. Madrid : Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 2020. Im Internet zugänglich ist dazu gehörig der wertvolle Index, welche Silbengruppen auf welchen Linar-B Täfelchen bzw. Vasen bezeugt sind: http://bib.cervantesvirtual.com/portal/diccionariomicenico/(10.2.2024). [Der Wikipedia-Artikel Mykenisches Griechisch – Wikipedia ist nicht auf dem Laufenden].

[5] TLG – Home (uci.edu) (11.2.2024) Der Thesaurus wird ständig erweitert und durch die neuen besten Editionen verbessert – Neben der kostenpflichtigen Vollversion gibt es eine abridged version ohne Bezahlung.

[6] Lemma, plural Lemmata ist die übliche Bezeichnung für das Stichwort, das erklärt wird. Faszikel ist ein Heft meist von 80 Seiten, das die Verlage drucken, um zeitnah die Ergebnisse verwenden zu können, bevor die Hefte Jahre später zusammengebunden werden.

[7] Vgl. Gerhard Lohse, Bruno Snell 1896-1986. Göttingen 2023, 122-124: im Dezember 1944 (!) als Archiv für griechische Lexikographie initiiert unter internationaler Beteiligung. Vgl. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/11/13/lohse-bruno-snell/ (13.11.2023).

[8] Der erste Faszikel erschien 1989; der 2019 erschienene Faszikel 8 ist im griechischen Alphabet bei ἐπισκήνωσις angelangt und hat (in kleinerem Format) dafür 1878 Seiten belegt, was im vorliegenden Lexikon etwas über 700 Seiten umfasst, also noch nicht ganz ein Drittel. Die online-Ausgabe ist kostenpflichtig. https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=6777756 (10.2.2024).

[9] Franco Munari (geboren 1950) ist Professor für Gräzistik an der Universität Genua. Vgl. Franco Montanari – Wikipedia (10.2.2024).

[10] Die erste Auflage erschien Torino: Loescher 1995, die zweite 2004, aufgrund derer der Vorschlag der Übersetzung kam. Die dritte Auflage 2013 war dann die Vorlage für die griechische, englische und deutsche Ausgabe, die dann erst 10 Jahre später erschien.

[11] Robert Beekes: Etymological Dictionary of Greek. 2 Bände. Leiden: Brill 2009 [als erschwingliches Paperback 2016]. Das Buch umfasst 1808 Seiten.

[12] Michael Meier-Brügger – Wikipedia (10.2.2024). Die Homepage an der FU ist wenig aussagekräftig. Zuvor leitete er Das frühgriechische Epos.

[13] Paul Dräger, geboren 1942, Gymnasiallehrer, Lehraufträge an der Universität Trier und Saarbrücken, vgl. Paul Dräger – Wikipedia (10.2.2024).

[14] Italienisch www.aristarchus.unige.it („Words in Progress“ 11.2.2024), deutsch GD – Wörterbuch Altgriechisch-Deutsch Online (degruyter.com) versprochen werden jährliche updates.

 

Clemen Religionsgeschichte

Ulrich Vollmer: Carl Clemen und die Religionsgeschichte.

(Religionswissenschaft 23)
Berlin: Peter Lang, 2021.
592 Seiten. [Diss. Bonn 2020]
ISBN 978-3-631-84603-2

 

Eine Biographie zur Entstehung der Religionswissenschaft

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Für die Etablierung des Faches Religionswissenschaft an deutschen Universitäten ist diese sehr detaillierte Biographie zu einem der Vorkämpfer, Carl Clemen (1865-1940), ein wichtiger Bezugspunkt voller Informationen, auch zu Bedingungen von Wissenschaftlern dieser Zeit, vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus.

Ausführlich: Zur Geschichte der Faches Religionswissenschaft gibt es viele kürzere Darstel­lungen; aber ausführliche Diskussionen zu den damals diskutierten großen Themen sind nötig. Denn bis zur und bei der Herausbildung der Disziplin sind die verschiedenen Wurzeln zu unterscheiden: Die zwei im deutschsprachigen Raum bedeutsamsten sind (1) die Klassische Philologie bzw. die Altertumswissenschaft [namentlich: Hermann Usener, Albrecht Dieterich, Martin P. Nilsson, Franz Cumont],[1] (2) die Behandlung nichtchristlicher Religionen in den evangelisch-theologischen Fakultäten [s.u.],[2] daneben die (3) Indologie [Friedrich Max Müller] und (4), wie der französischsprachige (katholische) Bibelwissen­schaftler [Alfred Loisy] sich hin zum vergleichenden Religionswissenschaftler entwickelte.[3] Dazu kam (5) die frühe Kulturwissenschaft bzw. Soziologie mit Marcel Mauss und Émile Durkheim, Ernst Troeltsch und Max Weber. Rezipiert wurde die englische ‚anthropology‘ der Viktorianischen Zeit von Tylor, über Marrett zu W. Roberston Smith und Frazer.[4]

In den evangelisch-Theologischen Fakultäten verstand sich eine größere Zahl der Professo­ren als ‚liberal‘ in dem Sinne, dass es nicht mehr um die Anwendung des (zeitlosen) Wortes Gottes auf die eigene Zeit ging, sondern um die ‚Weiterentwicklung der Religion‘ für die Moderne.[5] Carl Clemen ging seinen eigenen Weg. Ulrich Vollmer[6] hat in vielen Archiven alles gesucht, was zu seiner Hauptfigur zu finden war: in gewisser Weise das Lebenswerk beider, Carl Clemens und Ulrich Vollmers, der dem Pionier der Religionsgeschichte diese umfangreiche Dissertation widmet.[7] 1865 nahe Leipzig geboren in einer Pfarrersfamilie, erhielt Clemen (in Folgenden CC) eine gründliche Gymnasialausbildung und studierte in Leipzig, Tübingen, Halle und ein Jahr in London. Nach der Habilitation 1892 folgten 18 Jahre als unbezahlter Privatdozent erst in Halle, dann in Bonn. Erst mit 45 Jahren wurde er Professor,[8] noch einmal 10 Jahre später Ordinarius mit einem eigenen Seminar, das auf dem Wirken und der Bibliothek von Hermann Usener aufbauen konnte. Sein Nachfolger wurde (nach vielen Stolpersteinen, darunter der Versuch vom Berliner NS-Ministerium, dem gescheiterten Landesbischof Ernst Ludwig Dietrich das Ordinariat zuzuschanzen S. 409-418) Gustav Mensching. Nach der Emeritierung betrieb CC die Eigenständigkeit der Religions­wissenschaft: In der viel gelesenen Rezensionszeitschrift Theologische Literaturzeitung, drängte er darauf, dass sie im Untertitel ab 1939 Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft hieß und damit beanspruchte, die Religionswissenschaft nicht mehr als Unterabteilung der Theologie zu verstehen (419-449).

Seine detailliert recherchierte Biographie ist typisch für viele Wissenschaftler der Zeit und UV gibt auch immer Vergleiche zu Kollegen und Institutionen, also (tendenziell) eine Sozialbiographie.[9] Auf die Biographie (19-114) folgt das Kapitel, wie sich Clemen von der Theologie ablöste zur Religionsgeschichte (115-174). Schon in seinen theologischen Arbeiten wurde Clemen der religionsgeschichtliche Vergleich zunehmend wichtig, zunächst am Neuen Testament (1904, ²1924), dann konzentrierte er sich ganz auf die Religionsgeschichte, nämlich die Grundlagen (175-226) mit der Erstellung einer jährlichen Bibliographie, der Edition von Quellen (Quellen zur persischen Religion 1920 usf.) und Übersetzungen. Kapitel 4 behandelt die einzelnen Religionen (227-302), darunter die Religionsgeschichte Europas (2 Bände 1926; 1931).[10] Und schließlich die große Sammlung Religionen der Erde 1927 (insgesamt 515 Seiten, UV 211-220, Neuauflage 1966 703 Seiten). Die heftig diskutierten Konzepte einer systematischen Religionswissenschaft (303-366) behandeln Magie, survivals und Volksreligion, Mystik, Psychoanalyse und eine beginnende Phänomenologie. Unter seinen vielen Schülern sind die bekanntesten Joachim Wach und Hans Alexander Winkler, dann die – später – im Ahnenerbe NS-Wissenschaft betreibenden Werner Müller und Otto Huth. Als Anhänge (auf knapp 150 Seiten) präsentiert UV Verzeichnisse (die Bibliographie der enorm vielen Schriften Clemens, die Lehrveranstaltungen, betreute Dissertationen [auf Autopsie aller Druckformen oder gar nur handschriftlich eingereichten Hochschulschriften beruhend], der von Clemen herausgegebenen Reihen. Es folgen die Verzeichnisse der Archivmaterialien, Gedruckte Quellen [umfasst v.a. die Forschungsliteratur], Internet­quellen. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis ersetzt nicht den leider fehlenden Index.

Die Konzentration auf eine Person hat den Vorteil, dass man allem nachgeht, was den Wissenschaftler betrifft. Im Fall CCs hat UV neben den gedruckten Schriften auch die Nachlässe vieler Kollegen in den Archiven durchsucht. Die Alternative des biographischen Tiefbohrens sind die Diskurse im Fach und den Nachbarfächern.[11] Da sich CC zu fast allem geäußert hat, viele kleine Monographien veröffentlichte, die immer mit Darstellung des Forschungsstandes einsetzen, gelingt UV eine ganz ordentliche Verbindung von beidem. Bemerkenswert ist CCs Kenntnis der internationalen Forschung, ob der französischen (die Durkheim-Schule) oder der englischen anthropology der Viktorianischen Zeit (Lang Tylor, Marrett, W. Robertson Smith, James George Frazer.

Im Unterkapitel Mystik macht UV die Bemerkung „im Anschluss an den Theologen Albrecht Ritschl und den Altphilologen Erwin Rohde – zwei in diesem Kontext und in dieser Kombination über­raschende Autoren“ (323). Diese Bewertung verkennt: CC ist in der theologischen Fakultät sozialisiert. Ritschl war nicht nur die Autorität in der systematischen Theologie dieser Zeit, sondern hat mehrfach aus protestantischer Sicht die Mystik abglehnt als katholische Verschleierung des Wortes Gottes – in Auseinandersetzung mit Joseph Görres‘ fündbändiger Geschichte der Mystik, die die Mystik als Kernstück des Katholizismus der Romantik vorgestellt hatte.[12] Erwin Rohde hingegen hatte in seiner Geschichte der griechischen Religion unter dem Titel Psyche einen religionskritischen Vergleich zwischen der Todesverachtung der homerischen Helden und der platonischen Konzeption der unsterblichen Seele in einer jenseitigen Welt (und ihrer Rezeption im Christentum) unternommen. Dabei identifizierte er: die „Mystik war ein fremder Blutstropfen im griechischen Blute“. Den habe das Christentum als orientalischen Import in die griechische (indoeuropäische) Geisteshaltung vermischt. Rohde war enger Freund von Friedrich Nietzsche.[13] Gravierend aber ist, dass Troeltsch’s Mystik-Konzept hier nicht aufgegriffen ist. Das heißt, CC war vertraut mit den großen Diskursen seiner Zeit, entzieht sich aber der tiefergehenden Auseinandersetzung durch eine positivistische Reduktion auf die in den Quellen aufscheinenden ‚Fakten‘. UV macht deutlich, dass CC mit seinen eigenen Übersetzungen durchaus die Interpretation der Quellen schon lenkt (sehr gut UV 323, Anm. 106),[14] aber nicht eigentlich Quellenkritik betreibt. Dass er sich am Ende Ritschl anschließt in seiner Definition der Mystik („Mystik als Einswerden des Menschen mit Gott“) wird anderen Mystik-Formen nicht gerecht.[15]

Ulrich Vollmer hat in jahrelanger Arbeit alles Erreichbare zu Carl Clemen zusammenge­tragen und so im Genre der Biographie ein überaus informatives Werk über die Entstehung der Religionswissenschaft als Universitätsdisziplin verfasst in dem Strang, der in der liberalen evangelischen Theologie in der Bibelwissenschaft begann und sich zunehmend davon emanzipierte. Die Eierschalen blieben: Religion waren heilige Texte, die der Philologe übersetzt und kommentiert, aber am Ende doch immer an ‚seinem‘ Christentum vergleicht. Die Methode aber, dass jeder Religion die gleiche Phänomenologie zugrunde liege und somit auch das Christentum in den Vergleich einbezogen wird, aber keine Geschichte hat, führte zur Ablehnung der Religionswissenschaft, wie sie sein Schüler Joachim Wach systematisch aufzubauen versuchte.[16] Jede Darstellung der Geschichte der Religionswissenschaft wird von diesem Buch ungemein profitieren.

 

Bremen/Wellerscheid, Januar 2023                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Dazu ein Strang Christoph Auffarth: Mysterien aus dem Orient: von Friedrich Creuzer 1806 bis Franz Cumont 1906. In: Corinne Bonnet [u.a.] (Hrsg.): Franz Cumont. Rom: Belgisches Historisches Institut [im Druck].

[2] Während katholischerseits Franz Josef Dölger auf dem Lehrstuhl in Münster nur sehr sporadisch Religionen außerhalb des antiken Christentums behandelte, suchte der österreichische Missionar Pater Wilhelm Schmidt Beweise für den Ur-Monotheismus in Religionen auch vor den ‚Hochreligionen‘. Vgl. UV 233-236.238.

[3] Dazu herausragend Annelies Lannoy: Ein neuer Zweig der Geschichte der Religionswissenschaft durch die Erforschung des katholischen Wissenschaftlers Alfred Loisy. Annelies Lannoy: Alfred Loisy and the making of history of religions. A study of the development of comparative religion in the early 20th century 2020. In https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/01/16/lannoy-alfred-loisy/ (16.1.2021). Eine kürzere Fassung und ohne Fußnoten in Zeitschrift für Religionswissenschaft 29(2021), 158-160. Dies.; Danny Praet (Hrsg.): The Christian Mystery 2023. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/11/07/the-christian-mystery/ (7.11.2023).

[4] Eine knappe Synthese, die sich nicht auf das Universitätsfach begrenzt, bei Christoph Auffarth; Hubert Mohr: Strömungen der Kultur- und Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert – ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick. In: Metzler Lexikon Religion, hrsg. von CA; Jutta Bernard; HM. Stuttgart: Metzler 2002, Band 4, 1-38.

[5] In Berlin, wo jeder ‚liberale‘ Lehrstuhl einen ‚positiven‘ Kollegen gegenüber gestellt bekam, wagte sich Otto Pfleiderer weit vor und aus seinem Lehrstuhl wurde die Professur für Religionsgeschichte. In seinem Sinne entstand ein Band: Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion. München: Lehmann 1905 (darin skizzierte der Wiener Indologie Leopold von Schroeder die Kontinuität der arischen Religion bis zur deutschen [völkischen – Er bewunderte Richard Wagner] Religion, 1-39). Eine Sammlung von Autobiographien von Theologen wurde unter dem Titel (von Erich Stange) herausgegeben Die Religionswissenschaft in Selbstdarstellungen. Band 1. Leipzig: Meiner 1925.

[6] Dr. Ulrich Vollmer *1948, war bis 2012 wissenschaftlicher Angestellter am Religionswissenschaft­lichen Seminar in Bonn. Im Folgenden kürze ich den Namen mit den Initialen UV ab.

[7] Eine Vorstudie von Ulrich Vollmer: Die Religionswissenschaftler Carl Clemen (1865–1940) und Gustav Mensching (1901–1978). In: Harald Meyer, Christine Schirrmacher und Ulrich Vollmer (Hrsg.): Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften. Bonn: Ostasien-Verlag 2018, 43-64.

[8] Für die Besetzung von Professuren an den preußischen Universitäten wurden zwar die Fakultäten gefragt, Namen zu nennen, entschieden wurde aber in Berlin, wo sich der entscheidende Mann im Ministerium, Friedrich Althoff, von Berliner Professoren beraten ließ. Deren Schüler kamen sehr jung auf Lehrstühle, andere mussten lange sich als Privatdozenten in prekären Verhältnissen halten, unter anderem Wilhem Bousset, Rudolf Otto.

[9] Max Weber hat die Bedingungen der Privatdozenten in seiner Rede 1917 Wissenschaft als Beruf (Kritische Ausgabe in MWG 17) knapp beschrieben. Zu der Alterskohorte gehörten u.a. Hermann Gunkel (*1862), Max Weber (*1864), Ernst Troeltsch (*1865), Wilhelm Bousset (*1865), Nathan Söderblom (*1866).

[10] Im Unterschied zu dem Konzept der Europäischen Religionsgeschichte (Gladigow 1995) behandelt Clemen die einzelnen Religionen in Europa je für sich, nicht als ‚mitlaufende Alternativen‘. Vgl. UV 228.

[11] Musterbeispiele für diese Alternative sind Volkhard Krech: Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871-1933. Tübingen: Mohr Siebeck 2002 oder Michael Stausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. 2 Bände. (RGVV 42) Berlin: De Gruyter 1998.

[12] Joseph Görres: Die christliche Mystik. vier Bände. Regensburg: Manz 1836–1842. Zweite Auflage in fünf Bänden, 1879-1880. Albrecht Ritschl: Über die Mystik, besonders die deutsche im 14. Jahrhundert. Bonn 1853. Ritschls Sohn Otto (1860-1944) war Kollege von CC in der Bonner theologischen Fakultät. Vgl. Marvin Döbler: Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux. (BERG 2) Göttingen: V&R 2013, 30-32.

[13] Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2 Bände. Freiburg; Tübingen: Mohr ²1898. “Fremder Blutstropfen”: Ders.: Die Religion der Griechen. Heidelberg: Springer 1895, 27. Christoph Auffarth: Mysteries from the Orient: One Hundred Years of the History of Ideas from Creuzer 1806 to Cumont 1906. In: Corinne Bonnet; Annelies Lannoy; Danny Praet (Hrsg.): Franz Cumont: Rom: Academia Belgica 2024, im Druck. Zu Rohde: Hubert Cancik: Erwin Rohde. Ein Philologe der Bismarck-Zeit. In: Semper apertus, Band 2. Heidelberg: Springer 1985, 436-505.

[14] Sehr gut die Analyse S. 323 Anm. 106, wenn CC u.a. die Übersetzung mit „Erhebung“ „eine semantisch sehr abgeschwächte Wiedergabe von [griechisch Ekstasis] ἔκστασις“ herausstellt.

[15] UV 323; zurecht spricht UV von „christlich-theologischer Engführung“ 324. Christoph Auffarth: Begabt zu außerordentlichen Erfahrungen: Mystik und Religion. Mystik. Jahrbuch für Biblische Theologie 38(2023[2024]), im Druck.

[16] Dazu Jörg Rüpke: ‚Systematische Religionswissenschaft‘ und ‚Religionsgeschichte‘: von Wach zu Gladigow. In: Christoph Auffarth; Alexandra Grieser; Anne Koch (Hrsg.): Religion in der Kultur – Kultur in der Religion. Gladigows Beitrag zum Paradigmenwechsel. Tübingen: Tübingen University Press 2021, 69-87.

Gelebte Reformation

Francisca Loetz (Hrsg.in): Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800

Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2022.
ISBN 978-3-290-18468-1
544 S.; € 60,00

 

Wie veränderte die Reformation das gesellschaftliche Leben langfristig?
„Gelebte Reformation“ in Fallbeispielen.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Kein Jubiläumsbuch! Eine historische Bestandsaufnahme prüft an Fällen, die in den Archiven dokumentiert und untersucht sind, wie theologische Ideale der Reformatoren und Normen der Obrigkeit langfristig zu Änderungen führten im Vergleich zu vorher und drei Jahrhunderten nachher, zu katholischen Orten. Exzellent geplantes und herausgegebenes Buch, auch in der Gestaltung ein Schmuckstück! Es präsentiert ein frisches Bild auf das reformierte Zürich 1500-1800. Unter den Reformationsbüchern herausragend.

Ausführlich:
In der Reformationsdekade, den zehn Jahren der Vorbereitung auf das Jubiläum 500 Jahre Reformation 2017,[1] sind zahlreiche Bücher erschienen. Das hier vorzustellende Buch ist m.E. das wertvollste und anregendste. Das Jahr 1517, dessen gedacht wurde, ließ so viele Publi­kationen darauf verfallen, sich doch wieder auf Luther und die theologischen Programme zu konzentrieren, mit den Kirchenordnungen die Reformation ‚eingeführt‘ zu denken. Aber Programme und Gesetze sind noch nicht die Umsetzung in die Lebenswelt. Deshalb hat die Zürcher Frühneuzeit-Historikerin Francisca Loetz[2] in den Titel gesetzt ‚Gelebte‘ Reformation und viele Bereiche mit einbezogen, die in den meisten Reformationsgeschichten nicht behandelt werden.[3] Zum zweiten verblüfft weiterhin, dass der Zeitraum nicht mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 oder dem Westfälischen Frieden 1648 endet, sondern bis 1800 reicht.[4] Die Konzeption der polyzentrischen Reformation hat in der Dekade nur eine geringe Rolle gespielt; es ging ja auch um ein politisch gewolltes Fest in den ‚Neuen Bundesländern‘.[5] Das hier vorliegende Buch konzentriert sich auf Zürich, weitet aber die Epoche ‚Reformation‘.

Nun also das Buch zur ‚gelebten‘ und zur ‚langen‘ Reformation. Die einzelnen Teile werden mit das Leben widerspiegelnden, einander ergänzenden Handlungen überschrieben.

(1) Sich abgrenzen und sich annähern mit folgenden Kapiteln: André Holenstein zeigt an der Religions- und Machtpolitik, dass die katholischen Orte mit einer Allianz mit Mächten außerhalb der 13 Orte der Eidgenossenschaft liebäugelten, dann aber zugunsten des Mächtegleichgewichts innerhalb der Eidgenossenschaft davon abließen. Die zwei ‚Zürcher Disputationen‘ auf Deutsch im Rathaus 1523 vor 600 Interessierten durchgeführt, gaben Zwingli die Gelegenheit, vor seinen Kritikern die Grundsätze der Reformation auszuführen (Fabrice Flückiger, 32-48). Der Rat als Schiedsrichter erkannte an, dass die Bibel die Richtschnur aller Reformen sein müsse. (Im Unterschied zu Luther lehnte Zwingli die Einberufung eines Konzils ab – aus gutem Grund). Bei der Disputation im katholischen Baden 1526 wäre die Reformation fast gescheitert,[6] aber als Bern nach einer Disputation 1528 die Reformation annahm, stand Zürich nicht mehr allein in der Eidgenossenschaft. – Das Problem mit den ‚Türken‘ behandelt Francisca Loetz (49-65) sehr konzentriert auf Züricher Begegnungen mit Ländern und Personen, die man für ‚Türken‘ hielt und mit entsprechenden Bildern vom Orient und von brutalen Kämpfern begegnete. Die Frage, ob man den Koran in Übersetzung drucken und damit allgemein zugänglich machen dürfe, unterstützten die Reformatoren-Humanisten.

(2) Lesen und Lernen ist die nächste Abteilung überschrieben. Da geht es um die Frage, welche Kriterien ein reformierter Pfarrer erfüllen müsse (Bruce Gordon, 68-80); um die philologisch genaue Übersetzung der Zürcher Bibel (Anja Lobenstein-Reichmann 81-104 sehr gute Beispiele für die ‚didaktische Philologie‘) und die Frage, wer konnte in dieser Zeit so anspruchsvolle Texte lesen (Michael Egger: ein [mehrheitlich] lesendes Volk, 105-127).

(3) Sehen und Hören ist das Thema des nächsten Teils. Da geht es um die Veränderung des Stadtbildes infolge der Reformation (Martina Stercken 130-146).[7] Der Bildersturm war offenbar nicht so umfassend und gewaltsam (wie später in Basel und Bern. In Zürich ein „Bildersturm fast ohne Sturm“),[8] aber die Klöster wurden aufgelöst,[9] neu genutzt als Schulen oder Spitäler oder abgerissen. Öffentliche Inszenierungen und Feste wie Fastnacht werden abgeschafft, aber die Hinrichtung der Täufer 1527 wurde zum Schauspiel für die ganze Stadt. Wie verändert sich das Theater? (Hildegard E. Keller, 147-165). Das Theaterwesen in Zürich war – im Unterschied zu fast allen städtischen Theatern in Europa, abgesehen von London – sehr lebendig;[10] die Texte konnte man anschließend gedruckt kaufen und lesen. Bis der Antistes Breitinger mit seinem Bedencken von Comoedien und Spilen 1624 das Theaterspie­len für hundert Jahre lahmlegte, u.a. mit dem Argument, dass Theater katholisch sei: die Jesuiten hatten das Genre entdeckt. – Bilder waren in Frage gestellt durch das Bilderverbot. Die Reformierten trennten es als ‚zweites Gebot‘ vom lutherischen ‚ersten‘ ab und hoben es so heraus: Wie strikt handhabten die Zürcher dieses Verbot? (Carola Jaeggi, 166-184, hier 169). Auch hier ist die ‚lange Reformation‘ von Bedeutung. Die meisten Veränderungen an der mittelalterlichen Stadt bewirkten erst rund 80 Jahre später die reformierte Orthodoxie und noch weitergehend der Klassizismus zwei Jahrhunderte später. – Der Teil endet mit „Singen als Herzensgebet“ (Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder, 185-208). Rund 70 Jahre gab es gar keine Musik in den reformierten Gottesdiensten, bevor 1598 der Gemeinde- und Chorgesang eingeführt wurden. Zwingli störte, dass man die lateinischen Worte meist nicht verstand, zu Hause oder in der Schule dürften die Zürcher dagegen singen. Dafür gab es mehrere gedruckte Gesangbücher mit neuen Liedern auf Deutsch.

Der vierte Teil ist „Streiten und Bezeugen“ überschrieben. Er beginnt mit den kirchlichen Verhältnissen im Dorf (Peter Niederhäuser, 212-232) und erzählt dann vom Streit im Wirtshaus (Nicole Zellweger 233-248). Radikaler noch als Zwingli waren die Täufer, weil sie ihr Leben ganz umstellten als Jünger Jesu, dafür aber vom Staat verfolgt wurden (Urs B. Leu 249-265): weil sie nicht ihre Kinder taufen ließen, keinen Eid schworen u.a. Obwohl sie nach dem Desaster des Täuferreichs von Münster auf jede Gewalt verzichteten, galten sie als Störer der Ordnung und wurden vertrieben oder sogar zum Tode verurteilt.

(5) Ausgrenzen und Aufnehmen. Die Armenpolitik unterschied würdige und unwürdige Arme (Markus Brühlmeier und Dominik Sieber, 268-288). Auch hier eine lokale Studie, die zeigen will, dass mit der Reformation die Armut zum Makel geworden sei. Arme hatten nicht mehr als Beter für das Seelenheil der Spender:innen eine erwünschte Funktion. Auch die Zentralisierung der Armenversorgung beim Rat der Stadt begann schon vor Zwingli. Aber dass das meiste Geld, das gestiftet wurde, ging an die Kleriker, für Seelenmessen, Kerzen etc.; das änderte sich. Das Verbot des Segnens und Heilens sprachen die Reformatoren aus, weil das teuflische Magie sei, obwohl die Heiler:innen biblische Formeln verwen­deten (Eveline Szarka, 289-302). Auch hier kommt die Prüfung der ‚langen‘ Reformation zu dem Ergebnis, dass die Norm erst um ein Jahrhundert ‚versetzt‘ durchgesetzt wurde, zwei Jahrhunderte später aber ‚auslief‘, also nicht mehr angewendet wurde (300). – Was geschah mit den etwa 100 Mönchen und 150 Nonnen auf Zürcher Gebiet? (Peter Niederhäuser, 304-321) Während die Männer heirateten und einen Beruf ausübten (für das geistliche Amt waren die meisten nicht gebildet genug) oder auswandern konnten, war die Situation für die Nonnen wenig aussichtsreich. Die meisten blieben in der Wohngemeinschaft bis zu ihrem Tod, knapp versorgt vom Rat.

Nicht eheliche Sexualität Dulden und Bestrafen ist der 6. Teil überschrieben. Gerade für diese Fragestellung sind die ‚gelebten‘ Fälle, über die Aussagen in den Archiven verwahrt sind (rund 275 Bände des Ehegerichts, s. Abb. S. 330), Abbilder der Realitäten: Heterosexuelle Paare vor Gericht (Francisca Loetz, 324-339), die Prostituierten im reformierten Zürich (Adrina Schulz, 340-351) und Homosexualität (Markus Brühlmeier, 352-370) werden in spannenden Fällen vorgestellt.

Glauben und Zweifeln, der siebte Teil, handelt von der ‚Realität‘ von Gespenstern und der Leugnung der Reformatoren, dass man sie vertreiben könne. (Eveline Szarka, 374-390). Wenn Gespenster ein Haus befallen, dann sei das Gottes Prüfung, der man durch Buße zum Glauben entgehe. Das Delikt der Gotteslästerung hat Francisca Loetz (391-409) schon in ihrer großen Untersuchung bearbeitet und dabei herausgestellt, dass oft auch angesehene Bürger bestraft wurden, aber die Strafen doch eine Resozialisierung ermöglichten. Das Kapitel über die Zürcher Pfarrer (Nicole Zellweger, 410-429) macht deutlich, dass die wenigen Pfarrer im reformierten Zürich (nicht mehr der Hundertschaft eines eigenen Standes Kleriker) sich als Teil der Obrigkeit verstanden, die der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ schon im Diesseits zur Macht verhelfen müsse. Neben Mahnen und Lehren sind Pfarrer bei Foltern und Hinrichtungen beteiligt, um in der Todesstunde die Seele noch zu Gott zu führen, „eine ambivalente Rolle […] zwischen empathischer Lebenshilfe und strenger Zurechtweisung“ (426). Das fällt zum Teil unter die gewählte Überschrift „Trost“, aber eben auch unter Psychoterror, denn wer anders als die Pfarrer, die das studiert hatten, wussten über das Schicksal der Seele nach dem Tode.

Da viele der aus dem Leben gegriffenen ‚Fälle‘ aus archivalischen Quellen identifiziert, mühsam entziffert und in den Kontext der zuständigen Gerichte und Institutionen gestellt werden müssen, ist der Teil 8: Quellen (431-517) mit Einführungen versehen zu Briefen 433-, Mandaten 444-, dem Antistitialarchiv (447- Der Antistes ist der ‚Vorsteher‘ der Zürcher Kirche). Kundschaften (451-), Sillstandsprotokolle (455- Das sind Verhandlungen der lokalen Laien-Gerichte zu Fällen der Moral in Ehe, Armenwesen) und Objekte, die etwa Aussagen über die Einhaltung von Kleiderregelungen erlauben. Es folgen Quellenbeispiele zu einzelnen Kapiteln in der Originalsprache zeilengetreu transkribiert und mit einer kurzen Zusammenfassung eingeleitet (466-517: 13 Texte). Eine Chronologie, die wesentlichen Unterschiede zwischen evangelischem und katholischem Glauben, das Register beschließen den Band.

Das Buch ist von der Herausgeberin überaus sorgfältig geplant, redigiert, gegengelesen und vom Verlag geradezu bibliophil gestaltet.[11] Dazu gehören auch die vielen farbigen Abbildun­gen, je mit einer erklärenden Legende. Die konsequent historischen und lokalen Unter­suchungen (ohne dass die Mühen der Forschung kleinteilig benannt werden, stattdessen eine strikte Argumentation), je im vergleichenden Blick auf vorausgehende und folgende Zeiten wie auch zu altgläubigen ‚katholischen‘ Orten verändert das Bild von Zürich und seiner Reformation erheblich: „[D]ie konfessionelle Voreingenommenheit in der Geschichtsschrei­bung des frühen 20. Jahrhunderts, welche lange prägend blieb, obwohl sie der Situation […] wenig gerecht wird.“ (314) Das Buch sollte Vorbild für die Wahrnehmung der Reformation auch anderen Orten werden, sowohl in methodischer wie theoretischer Hinsicht.

 

Bremen/Wellerscheid, November 2023                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die scharfe Kritik an der Dekade und dem Jubiläum Hartmut Lehmann: Das Reformationsjubiläum 2017. Umstrittenes Erinnern. (Refo500 70) Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2021.

[2] Francisca Loetz ist seit 2003 Professorin an der Universität Zürich für Frühe Neuzeit. Studien in Heidelberg, Canterbury, Cambridge und Paris. Für ihre Habilitationsschrift „Mit Gott handeln. Das Delikt der Gotteslästerung im Kommunalstaat Zürich (16. bis 18. Jahrhundert)“ arbeitete sie schon im Archiv in Zürich. Aus der Arbeit in diesem unvergleichlich reichen Schatz sind viele ihrer Aufsätze und Bücher entstanden. Ihre Homepage Prof. Dr. Francisca Loetz | Historisches Seminar | UZH (5.11.2023).

[3] Dass Religion nicht mit Theologie, also den gewünschten und vorgeschriebenen Programmen oder kontrollierten Normen gleichzusetzen ist, hat die Forschungsmethode ‚lived religion‘ sich zur Aufgabe gemacht, vgl. für die Antike Jörg Rüpke etwa in dem Buch Religion in the Roman Empire, 2021 rezensiert https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/14/religion-in-the-roman-empire/ (14.1.2022). Vgl. auch Lived religion – Wikipedia (5.11.2023).

[4] Zur These, dass Die Reformation ein (auslösendes) Ereignis, weniger ein Prozess sei, vgl. meine Rezension Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012.   sowie https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/16/aneignungen-luthers/ (16. September 2022).

[5] Polyzentrik bei Irene Dingel: Geschichte der Reformation. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2018 mit den vier Zentren Wittenberg – Zürich – Straßburg – Genf. Etwas blass bleibt das Handbuch zur Schweizer Reformation, das sogar Genf ausklammert: Amy Nelson Burnett/ Emidio Campi (Hrsg.): Die schweizerische Reformation. Ein Handbuch. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, [2017] 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/06/16/handbuch-schweizerische-reformation/ (16.6.2018).

[6] Dazu die Rezension: http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2016/03/19/die-badener-disputation/ (19.3.2016).

[7] Die Frage hat der Rezensent für Bremen bearbeitet: Wie ändern die Reformationen das Bild einer Stadt? Die zwei Reformationen in Bremen. Religionsästhetik als verknüpfendes Konzept, in: Tilman Hannemann (Hrsg.): Studien zur Reformation in Bremen. (VIRR Veröffentlichungen des Instituts für Religionswissenschaft und Religionspädagogik 8) Bremen 2016, 27-82. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00105487-18 (3.9.2016). Weitergeführt auf Englisch in: In: Alexandra Grieser; Jay Johnston (ed.): Aesthetics of Religion. A Connective Concept. (Religion and Reason 58) Berlin: de Gruyter 2017, 189-209.

[8] So im übernächsten Kapitel Carola Jäggi 171. Erinnert sei an die großartige Ausstellung in Zürich: Cécile Dupeux; Peter Jezler: Bildersturm – Wahnsinn oder Gottes Wille? Zürich 2001. Einen Bildersturm in Wittenberg durch Andreas Karlstadt (172 mit Anm. 13) hat es nicht gegeben (Natalie Krentz: Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg 1500-1533. Tübingen 2014, 200-242).

[9] Christine Christ-von Wedel: Die Äbtissin, der Söldnerführer und ihre Töchter. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/20/die-aebtissin-der-soeldnerfuehrer-und-ihre-toechter/ (20.11.2019).

[10] Auf Altgriechisch führten die Studenten die Komödie Plutos (Reichtum) von Aristophanes auf [nicht Plautus; einer der seltenen Fehler]. Wer Aristophanes übersetzen kann, für den ist das Griechisch der Neuen Testaments eine leichte Übung.

[11] Martin Sallmann hat eine ausführliche, sehr positive Besprechung veröffentlicht (zuletzt angesehen 13.11. 2023): https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-129223.

Alexandreis

Walter von Châtillon: Alexandreis. Lateinisch – deutsch.
Herausgegeben und übersetzt von Martin Lehmann.

(Sammlung Tusculum) Berlin: de Gruyter 2023.
1040 Seiten.
ISBN: 978-3-11-079572-1

 

Alexander der Große als Vorbild
für den Anführer des Kreuzzugs im 12. Jahrhundert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Auf der Suche nach einem charismatischen Anführer für den neuen (Dritten) Kreuz­zug stellt Walter 1180 Alexander den Großen als Vorbild dar. Er verkörpert die moralischen Kompetenzen (Tugenden) seines Lehrers Aristoteles, ist aber letztlich zu maßlos in seinen Plänen, so dass er scheitern musste. Das Epos in 10 Büchern ist ein zentrales Beispiel für die Wiederaufnahme der Antike (Renaissance) im 12. Jahrhundert.

Ausführlich:
Am Schluss des Epos über Alexander den Großen verabschiedet sich der Dichter in ver­meintlicher Bescheidenheit, die umso mehr sein Selbstbewusstsein hervorhebt. Er dankt den Musen, die ihm Stoff und Ideen der Kunst gaben.[1] Walter will sich nun nicht mehr verführen lassen; er will jetzt aus einer Quelle trinken, die „einmal getrunken – heilend den zweiten Durst stillt“ (10, 460). Das heißt, Walter hat lange mit antiker Dichtung verbracht, frühere Meisterwerke studiert und kann vieles aus dem Kopf zitieren; dann hat er selbst die zehn Bücher kunstvoll in fünf Jahren formuliert (prologus 15). Aber jetzt muss der Mönch sich wieder christlichen Themen zuwenden, denn von Jesus sagt das Johannes-Evangelium (4,14), „(Ich bin) die Quelle des Lebens, wer aus mir trinkt, wird niemals mehr Durst haben.“ Dabei „wertet auch Walter […] das eigene Epos über den antiken Feldherrn und König nicht ab.“ Denn er schließt mit einem Dank an seinen Bischof Wilhelm von Blois, der ihm den Rücken gestärkt hat gegen seine Kritiker, und widmet ihm das gelehrte Werk und den Dichterkranz. Statt „Dichter“ verwendet er hier das Wort vates (10, 464), das Vergil für sich beanspruchte, weil er über die Kunst des Dichters hinaus auch „Prophet“ der Heilsgeschichte geworden ist. Und nun Walters Anspruch: „Mag auch meine Dichtung eines so bedeutenden Erzbischofs nicht würdig sein. Wenn wir, Bischof und Dichter, einmal tot sein werden, dann garantiert das Epos Alexandreis das (Nach-) Leben: Wir beide werden leben bleiben und mit dem Dichter (wieder vates) wird der Ruhm des Bischofs überdauern und in Ewigkeit niemals sterben.“ Erst tiefgestapelt, dann hochgestapelt. Und das übergroße Selbstbewusstsein, ein Werk für die Ewigkeit geschaffen zu haben – das beansprucht ja auch Horaz, der Heide[2] – wird noch übertroffen, dass Walter damit für den Bischof und für sich selbst das ewige Leben gesichert habe. Nicht das bescheidene Gebet: Möge Gott, der allein ewig ist, uns das Leben bei ihm verleihen. Sondern Ich (in der dritten Person: der Dichter-Prophet) habe den Ruhm für die Ewigkeit unvergänglich gemacht: wir werden leben (vivemus/vivet 10, 468).[3]

Was also bringt den Autor Walter von Châtillon (lat.: Gualterus de Castellione, Walterus ab Insulis; frz. Gautier de Châtillon; um 1135 in Lille geboren; gestorben um 1185) dazu, über Jahre hinweg ein Epos zu komponieren, in dessen Mittelpunkt Alexander der Große steht? Das Lob für den antiken Eroberer ist gestaltet als ein Lob der (auch christlichen) Tugenden bei der aktuellen „Suche nach einem alexanderhaften christlichen Anführer im Kampf gegen die Muslime“, v.a.: Wer führt den Dritten Kreuzzug an? (in der Mitte des Epos 5, 491-520)[4] Die von einem Anführer geforderten Tugenden halten sich an Aristoteles (1, 82-183), die sein Schüler Alexander im 10. Buch noch einmal begründet (10, 282-329). Gegenspieler und Träger der Untugenden ist der Perserkönig Darius.

Alexander der Große ist für die Christen des Mittelalters kein historischer Held der heidni­schen Antike, sondern Teil der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen (30-38).[5] Bildlich hat das der Autor der Ebstorfer Weltkarte hundert Jahre später herausgestellt: „Hier hat Alexander die beiden grausigen Völker Gog und Magog eingeschlossen, die der Antichrist im Gefolge haben wird. Diese ernähren sich von Menschenfleisch und trinken Blut.“[6] Die Reitervölker aus der Apokalypse leiten, wenn sie die eisernen Pforten durchbrochen haben werden, das Ende der Welt ein.[7] So lange waren sie aufgehalten, weil Alexander das Ende aufschob.

Die Alexandreis wurde außerordentlich oft abgeschrieben, so dass noch mehr als 200 Handschriften aus dem Mittelalter erhalten sind. Die maßgebliche kritische Ausgabe erstellte Marvin L. Colker, die 1978 erschienen ist[8]. In zahlreichen Sprachen sind (Teil-) Übersetzungen erschienen. Zuvor schon eine deutsche Übersetzung von Gerhard Streckenbach 1990.[9] Eine italienische zweisprachige Ausgabe, besorgt von Lorenzo Bernardinello, erschien Ospedaletto 2019. Gerade erschienen ist eine Edition und französische Übersetzung[10] sowie eine Untersuchung zu einem Kommentar dazu.[11] Außerdem verzeichnet der Verbundkatalog eine isländische, eine mazedonische, eine serbische Übersetzung.

Das vorliegende Buch umfasst zwei fast gleich große Teile, die auf die Einleitung (9-65) fol­gen:[12] (1) Text und Übersetzung 67-539, (2) Kommentar 541-1001, gefolgt von einem Literatur­verzeichnis und einem Index der Namen mit kurzen Erklärungen und der Stelle, wo sie im Text vorkommen (erfreulicherweise Stellenangabe, nicht Seitenangabe, die nur für die vor­liegende Edition zuträfe). Die Übersetzung in deutsche Prosa versucht weder Vers noch die gelehrten Worte des lateinischen Textes nachzuahmen. Die Zielsprache Deutsch ohne das Übersetzungsdeutsch[13] ist gut zu lesen und lenkt den Blick zur kunstvollen lateinischen Formulierung in der Versform des Epos in Hexametern. Großartig ist der Kommentar.[14] Mit allen Feinheiten der Klassischen Philologie und auf der Kenntnis der bisherigen Forschun­gen zu diesem Epos erklärt ML, worauf Walter anspielt, nachahmt oder widerspricht, wie er die großen Vorbilder Homer, Vergil (Text prologus 13-23; Kommentar 551f) und den Bibel­übersetzer Hieronymus (Text prologus 24-29; Kommentar 550f), dann Lucan und Claudian zu übertreffen sucht. Aristoteles ist die wissenschaftliche (poetologische und philosophische) Referenz zu den dichterischen Bezügen. Seine Tugendlehre (Schema S. 560) enthält die sonst als ‚Sanftmut‘ übersetzte πρᾳότης. Es geht aber nicht um Zurückhaltung, sondern als Teil des Zorns um die angemessene, nicht jähzornige und unbeherrschte Bereitschaft zur Auseinan­dersetzung, die „Zürnkraft“ (557f).

Das Werk ist ein herausragender Text für die ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘.[15] Zu ihr zählt auch der etwas ältere Landsmann und Intimfeind Alanus de Lille (ab Insulis).[16] Die exzellente Beherrschung der lateinischen Sprache auf der Grundlage der Kenntnis der lateinischen Literatur führte in ein Dilemma: Einerseits kann man die lateinische Literatur nicht einfach minus ihrer Götter übernehmen und nachahmen, andererseits ist das christliche Publikum – und das sind auch im 12. Jahrhundert fast ausschließlich Kleriker – darauf bedacht, dass die Christlichkeit Rahmen und Ziel bleibt. Die Götter bleiben weit­gehend ausgespart, Mars und Bellona lassen sich als Metonymien für ‚Krieg‘ verstehen (ML 22-25), Schicksal/Fatum handelt, nicht der Allmächtige. Tugenden kann man in christliche Moral integrieren. Eine ganz große Rolle aber spielt Natura.[17] Sie hat ihren großen Auftritt in ihrer Klagerede in der Unterwelt angesichts des Leviathan (10, 6-167 – für die es keine Vorlage in den Quellen gibt: ML 5; 971-974). Sie wird als Schöpferin, nicht aber als Göttin dargestellt.[18]

Das Werk mit dem Kommentar von Martin Lehmann erschließt dieses großartige lateinische Epos. Wie wertvoll ist es, den lateinischen kunstvollen Text direkt neben der schlichteren deutschen Übersetzung zu lesen (für Vergil-Kenner ein Genuss!). Der Kommentar ist eine hervorragende Einführung in die Philologie (des Mittelalters). Man bekommt hier alle Fein­heiten der Poetik, der rhetorischen Sprache, der Metonymie, der Anspielung und Über­trumpfen der antiken Vorbilder, der Christianisierung der Antike erklärt; eine behutsame Christianisierung, ohne die antike Sprache, in Maßen auch ihre Götter gewaltsam zu ver­kleiden. Gratulation zu dieser Meisterleistung an den Übersetzer und den Herausgebern der Reihe zu dem Mut, dieses wertvolle lateinische Epos in die Reihe aufzunehmen!

 

Bremen/Wellerscheid, November 2023                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die neun Musen – auch hier muss der Leser wissen, dass sie nach ihrem Aufenthaltsort benannt werden als Pieriden – werden aufgerufen, damit ein Dichter die vielen Details seines Epos richtig erinnert, der sog. Musenanruf (1 prooemium 1-5). Hier ist es ein Musenabschied. Je eine Muse ist für ein Text-Genus verantwortlich. Kalliope für das Epos, Thalia für das Theater (Komödie). Urania für die Astronomie, Klio für die Geschichtsschreibung. – Auf Zitate im Buch ist verwiesen durch die Initialen des Autors ML und die Seitenzahl.

[2] Horatius, carmen 3, 30: exegi monumentum aere perennius. Nicht einmal die Pyramiden werden so lange stehen. Er richtet das Selbstlob an die Muse Melpomene (lyrische Dichtung). Schon Thukydides (1,22) erhebt den Anspruch, seine Geschichtsschreibung des Peloponnesischen Krieges 431-404 v.Chr. sei „ein Besitz für immer“ κτῆμα εἰς ἀεί. Vgl. Reinhard Gruhl: Über den Umgang mit Dichterstolz (ebe-online.de) (19.11.2023). – Zu Demutsformeln, s. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateini­sches Mittelalter. Bern: Francke [1948], ²1954, 410-415; 92-95.

[3] Die Widmung an den Erzbischof Wilhelm von Blois ist schon am Anfang ausgesprochen (1,12-26), Walter kehrt also an den Ausgangspunkt zurück. Sehr kundig der Kommentar 998-1001, der zeigt, wir auch hier Horaz das Vorbild ist. Die Evangelien-Stelle ist nicht angemerkt.

[4] Zitat ML 37, 1001. Nach dem Ersten Kreuzzug mit der überraschenden Eroberung Jerusalems folgen nach Rückschlägen immer wieder Aufrufe zu neuen Kreuzzügen (von denen nur die großen gezählt werden). Der Dritte Kreuzzug brachte dann erstmals die großen Könige zum Entschluss, nach Jeru­salem zu ziehen, darunter Friedrich Barbarossa und Richard Löwenherz, nicht aber den französischen König Philipp ii. Augustus, den Walter wohl ganz besonders meinte (35, 830). „In der Mitte des Epos“ zeigt das Schema des Aufbaus S. 37.

[5] Umfassend LexMA [Lexikon des Mittelalters. Zürich, München] 1(1980), 354-366, bes. 356 (J Gruber). Zu Walters Quellen ML 17-20.

[6] Hic inclusit Alexander duas gentes immundas Gog et Magog, quas comites habebit Antichrist. Hii humanis carnibus vescuntur et sanguinem bibunt. Hartmut Kugler (Hrsg.): Die Ebstorfer Weltkarte. Berlin: Akademie 2007 auf Qudrant 8, Text 7. Sabine Schmolinsky: Gog und Magog. LexMA 4(1989), 1534: Alexander riegelte die Reitervölker aus dem Norden (biblisch: Ezechiel 38-39, Apokalypse 20,8) in einem Tal ab mittels eiserner Pforten: Josephus, bell. Iud. 7,7,4 und antiqu. 1,6,1. Im Koran Sure 18, 94-101; 21,96.

[7] Die Deutung der Gegenwart (des Mongolensturms) unmittelbar aus der Voraussage des Weltendes in der Apokalypse (Offenbarung des Johannes) hat Johannes Fried nachgewiesen: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 287-332.

[8] Galteri de Castellione: Alexandreis. Ed. Marvin L. Colker. Patavii [Padua]: Ante nore, 1978. Diese kritische Ausgabe auf der Grundlage von 209 Handschriften liegt auch der vorliegenden Ausgabe zugrunde mit wenigen Änderungen, die S. 49f zusammengestellt sind.

[9] Alexandreis. Das Lied von Alexander dem Großen. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Streckenbach unter Mitwirkung von Otto Klingner. Mit einer Einführung von Walter Berschin. Heidelberg: Lambert Schneider 1990 (Darmstadt: WBG ²2012).

[10] Gautier de Châtillon: Alexandréide. Edition des lateinischen Texts Marvin L. Colker [1927-2020]. Französischen Übersetzung von Jean-Yve Tiliette, Turnhout: Brepols [2022]. 354 Seiten.

[11] Dörthe Führer: Der «Alexandreis»-Kommentar Gaufrids von Vitry: Überlieferung – Fassungen – Inhalte. Bern: Peter Lang, 2023.

[12] Eine Bindung in zwei Bände würde die Benutzung einfacher machen. Die Bindung (fadengeheftet) ist besten Standards und wahrt den Charakter der Reihe, weiterhin als Leinenband. – Man entschied sich bei der Übernahme der Reihe von Artemis-Winkler für die Beibehaltung der Höhe bei etwas breiterem Format/Satzspiegel. Bei dem Format ist das Buch, gerade so ein dickes, nicht so leicht aufgeschlagen zu halten. Der Kommentar in einem eigenen Band, neben dem Textband aufgeschlagen statt hinter dem Text, ließe beides einfacher verfolgen lassen.

[13] Viel zu lange hielt sich das Übersetzungsdeutsch, das auf einem Purismus beruhte, der veraltete Wörter nutzte und vor allem Fremdwörter vermied.

[14] Zum Übersetzer und Kommentator PD Dr. Martin Lehmann, Oberstudienrat bei Freiburg und Privatdozent an der Universität dort, s. seine Homepage PD Dr. Martin Lehmann — Seminar für Griechische und Lateinische Philologie (uni-freiburg.de) (19. 11. 2023).

[15] Die Renaissance (des 15. Jh.s) erfand Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel: Schweighäuser 1860 [Kritische Ausgabe von Mikkel Mangold. (Jacob Burckhardt Werke 4) München: Beck; Basel: Schwabe 2018]. Dank der philologischen Arbeit von Homer Haskins 1927 und der kunst­geschichtlichen Differenzierung von Erwin Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst. [engl. Stockholm 1960] Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 und vielen weiteren Arbeiten unterscheidet man die (1) karolingische, (2) die Renaissance des zwölften und (3) die Renaissance des 15. Jahrhunderts. Dazu ML 11-13.

[16] Die widerspenstige Eingliederung der Antike in christliche Denkformen bei Alanus zeigt Ulrich Berner: Antike und Christentum im Mittelalter: Alanus ab Insulis als Dichter und Theologe. In: Christoph Auffarth: Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte. Münster: LIT 2007, 25-37.

[17] Natura in der Schule von Chartres (Walter war befreundet mit dem Bischof von Chartres, Johannes von Salisbury): Roland Halfen: Chartres. Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas. Band 4:  Die Kathedralschule und ihr Umkreis. Stuttgart: Mayer 2011.

[18] Die deutsche Übersetzung verwendet „Göttin“ (10, 6 und 18, wohl aber 82), im Text aber keine dea, sondern numen, das Neutrum einer namenlosen göttlichen Kraft. Die Renaissance des 12. Jh.s ist eine Aristoteles-Renaissance (die Tugendlehre der Nikomachischen Ethik ist vermittelt durch die Über­setzung des Burgundio von Pisa) und initiiert die Scholastik. Dort wird Natura dann mit dem mono­theistischen Gott austauschbar. Der Herrscher in der Hölle ist Leviathan, der mit dem biblischen Lucifer aus Jesaja 14 (10, 82-87) vertauscht wird. Er wird mit der Ermordung Alexanders (10, 356-432) beauftragt, das Fatum holt Alexander ein.

Mulsow: Überreichweiten

Martin Mulsow: Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte.

Berlin: Suhrkamp, 2022.
717 Seiten: Illustrationen, 1 Karte
ISBN 978-3-518-58793-5

 

Informationen und Irrtümer:
Jäger nach geheimem Wissen aus aller Welt in der Frühaufklärung

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Ideengeschichte wird vorwiegend aus europäischer Perspektive geschrieben. Martin Mulsow erzählt in diesem Buch acht Fälle der Jagd von Gelehrten nach Schriftzeichen, Kampfdrogen, chemischen Substanzen, um Geheimwissen zu entschlüsseln. Das zeigt er in ihren globalen Verflechtungen und als Beipack von globalen Lieferketten.

Ausführlich:

Mit diesem Buch legt Martin Mulsow[1] Suchschnitte, wie eine Ideengeschichte vorgehen kann, wenn sie sich nicht mehr auf Europa beschränkt, sondern globalen Verbindungen nachgeht: „Lieferketten“ ist ein aktuelles Problem, das dafür ein Modell bzw. Metapher bietet. Das Wort im Buchtitel erklärt er so: Im Zeitalter des Radios wurden Sendemasten aufgestellt, damit überall das Programm empfangen werden konnte. Es gab häufig Störungen an Orten, die an Überlappungen zwischen der Reichweite zweier Masten liegen. Man hörte von weither den einen Sender unscharf und mit Mitteilungen, die gar nicht für diese Region passten. Wie weit kann diese Metapher eine Vorstellung erhellen, die das entfernte Signal aus einem Ort weither empfängt und dekodiert in den Vorstellungen des Ortes des Empfängers?  Da bringt MM eine weitere Metapher ins Spiel: In seiner Beschreibung der neuen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges durch den Untergang des Sowjet-Imperiums konstruierte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington 1996 das Wiedererwachen der sieben alten Religions-Kulturen, die wie Planeten miteinander kollidieren (Clash of Civilizations). Dem stellt Mulsow entgegen: „Aber sind Zivilisationen nicht eher wie Galaxien zu denken, die einander durchdringen, wenn sie sich kreuzen?“ [und nicht aneinander zerschellen?] (127).

Eine Globalgeschichte kann man nur schreiben – selbst wenn ein so einzigartiger Autor wie MM so viele Sprachen, Zeichensysteme, Forschungsergebnisse (die unglaubliche Fülle internationaler Literatur versteckt sich in den 212 Seiten der Anmerkungen), Bibliotheken mit Bücherschätzen vergangener Jahrhunderte kennt[2] – in Fallgeschichten, denn jeder Fall ist wieder ganz anders, von individuellen Gelehrten, ihren Reisen, ihren Briefpartnern, dem Zufall von Entdeckungen bedingt. Jedes Mal verlangt das eine Mikrogeschichte,[3] die so genau wie möglich eben diese Netzwerke und globalen ‚Lieferketten‘ rekonstruiert vor allem aus der Aufklärungszeit. Am Beispiel der Verwendung der Definition bestimmter Menschen als Ketzer (Kapitel VI, 337-387) erklärt MM zwei Methoden der Globalgeschichte (seine ‚Doppelhelix‘): Die eine bestimmt durch Vergleich entfernter Kulturen, was in der jeweiligen Kultur als rechtgläubig/orthodox und was als ungläubig, gottlos, Gott-leugnend und -be­leidigend gilt. Der Vergleich ermöglicht es, genauer zu bestimmen, wo jeweils anders die Grenze gelegt wird und wer die Autorität hat, das durchzusetzen bzw., wie sich die Ange­griffenen dagegen wehren. Die andere Methode sucht nach einer Verflechtungsgeschichte. So wurde im Streit unter den niederländischen Calvinisten über die paradoxe Lehre von der Dreieinigkeit auf der Synode von Dordrecht 1618/19 in Orthodoxe und Ketzer (Leugner der Trinität) geschieden; dieser Streit wurde exportiert. War die Einheit Gottes nicht bei Juden und Muslimen besser repräsentiert, wenn Gott nicht in drei Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist – oder war die Dritte doch Maria oder Sophia – gespalten und doch eine einzige Einheit Gott war? Gelehrte fanden sowohl verwandte Formen in anderen Religionen als auch wurde das Konzept der Ketzer zum globalen Begriff (wie heute ‚Terrorist‘ oder ‚Faschist‘ auf ganz unterschiedliche Gruppen angewendet wird und ihre Tötung recht­fertigt). – In Kapitel VII (388-434) stellt MM den Streit dar, ob es auch Völker gibt, die nicht an einen Gott glauben,[4] oder ob ursprünglich alle Völker einen Ur-Monotheismus hatten – und die Gegenfigur des Teufels, dem MM dann in Kapitel VIII, 435-474) nachgeht. Testfall ist, ob man das Vaterunser in die jeweilige Sprache übersetzen kann. Spannende Überlegungen zu Vergleichbarkeit und Karten von Wanderungen von Ideen schließen sich an. – Kapitel VIII Der Teufel und der Jaguar (435-474) bezieht sich auf die Spanier in Lateinamerika. Hier steht der wichtige Satz „Ist die Rede vom Teufel eine Bezugnahme? […] Die Qualifizierung einer Person, eines Ortes oder einer Sache als teuflisch versieht sie mit einem negativen Vor­zeichen und unterstellt eine Täuschungsabsicht durch den mächtigen bösen Dämon. […] Dieser pragmatische Operator […] gehört zu den basalen Elementen christlicher Wahrneh­mung von Fremdheit, vor allem fremden Religionen, aber auch fremder Mentalität.“ (435f). Das ‚Untergrundwissen‘ zunächst einmal für die Silbergewinnung in den Bergwerken und der Weiterverarbeitung, liegt in handschriftlicher Form noch heute in den Archiven von Sevilla (s. Anm 61 auf S.683).

Die Methoden fasst MM im Schlusskapitel noch einmal zusammen. Verglichen mit einem so gelehrten Werk zur Entstehung der Völker und Sprachen, bezogen auf die Metapher der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel (Genesis 11, 1-9), von Arno Borst,[5] gelingt es MM an Fallbeispielen eine ähnliche Jagd auszubreiten, aber mehr im Zeitrahmen der frühen Aufklärung und globalgeschichtlich in den Wechselwirkungen.

Nach diesen Einblicken in vier Kapitel seien nur noch kurz die Inhalte aufgezählt: Einleitung zu den Praktiken der Bezugnahme im Prozess der Globalisierung (17-61). Dort ist auch der Zeitrahmen des transkulturellen Wissenstransfers abgesteckt, vorwiegend die Frühaufklä­rung. Der Erste Teil nennt sich Zeitrahmen transkulturell: i. Mumien auf dem Boot nach Europa 62-126. Hier geht es vor allem zum ägyptischen Hermes und der frühneuzeitlichen Hermetik. Das Kapitel ii. behandelt die Debatte, ob es Menschen vor Adam gegeben habe (127-188). Erstaunlicherweise kommt hier nicht der jüdische Mythos von Lilith vor: Als Kain seinen Bruder getötet hatte, heiratete er und gründete Städte (Genesis 4,17). Da gibt es also Menschen außerhalb der Familie des ‚ersten Menschen‘ Adam. Die Lösung: Adam muss vorher schon einmal verheiratet gewesen sein, eben mit der bösen Lilith. – Zweiter Teil: Fremde Natur und Sprache: Kapitel iii. Ein Zettelkasten voller Drogen 195-240. Zu der Sammlung von Drogen, die Soldaten unempfindlich gegen Schmerzen und unermüdlich macht, aber auch vielen anderen Anwendungen, experimentierte der Hamburger Arzt Martin Fogel u.a. zu Opium und knüpfte Kontakte zu Orientforschern. iv. Alchemie zwischen Ost und West (241-283) beginnt in einer von Holländern betriebenen Apotheke in Batavia auf Indonesien und ihren einheimischen Angestellten. Die Entdeckung des Salpeter war für die explosiver Stoffe im Militär von hoher Bedeutung, sollten aber geheim bleiben. v. Leibniz‘ chinesische Bücher 284-330 sind zwar verschollen, aber indirekte Hinweise aus der Korrespondenz lassen erkennen, wozu Leibniz sie nutzen wollte, obwohl er sie nicht lesen konnte. Den dritten Teil haben wir oben schon behandelt: Häresie, global. VI. Häresietransfer 337-387. VII. Ein Vaterunser für die »Hottentotten« (388-434). VIII. Der Teufel und der Jaguar (435-474). Epilog: Mikrohistorie, Globalgeschichte und die Rekonstruktion intellektueller Praktiken 475-481. Anmerkungen 483-695. Verzeichnis der 104 Abbildungen 697. Namenregister 706-717.

All das erzählt MM interessant, ja spannend. Für die Proto-Religionswissenschaft wird das Buch zur Pflichtlektüre.[6] Der Rezensent hat viel daraus gelernt und wird die Fälle immer wieder heranziehen. Es ist ein Buch, das erklärt und nachweist, wie Globalisierung mit und auf verschlungenen Wegen auch außerhalb der Warenströme funktioniert weit vor dem heutigen Bewusstwerden von Störung der Lieferketten und den Rückwirkungen der Globalisierung auf die westliche Welt.[7] Im Unterschied zu materiellen Waren (an der Grenze sind die Drogen, die Soldaten unempfindlich gegen Schmerzen machen sollen, Kapitel 3, und die chemischen Substanzen Kapitel 4) sind Ideen nicht mit einem fassbaren Referenz-Objekt verknüpft. Aber es gelingt MM gut abgrenzbare Objekte der Wissensjagd zu identifizieren und detailliert mit Personen, ihren Aufzeichnungen, ihren Konkurrenten und Korrespondenten zu beschreiben.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023                                                         Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Martin Mulsow leitet das Forschungszentrum Gotha. Das Gothaer Schloss Friedenstein beherbergt nicht nur eine bedeutende Gemäldesammlung, sondern auch eine bedeutende Bibliothek aus dem Barock/Frühaufklärung. Zu Mulsow s. Profilseite von Prof. Dr. Martin Mulsow, Forschungszentrum Gotha (uni-erfurt.de) (27.10.2023). Seinen Namen kürze ich mit den Initialen MM ab.

[2] Vgl. meine Rezension zu MMs früheren Büchern Die radikale Frühaufklärung. 2018. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/10/01/mulsow-radikale-fruehaufklaerung/ (1.Oktober 2019). – Gegen das scheinbar sichere Wissen: Gefährliche Erkenntnisse in der Frühen Neuzeit. Martin Mulsow: Prekäres Wissen. 2012. – Jonathan I. Israel; Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung 2014. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/06/01/martin-mulsow-prekaeres-wissen/ (1.Juni 2014).

[3] Berühmt wurde die Methode durch Carlo Ginzburg, etwa mit dem Fall des Müllers, der die Schöpfung der Welt ohne Gott erklären konnte, weil der Käse, wenn man ihn nur lang genug liegen lässt, von alleine grüne Bepflanzung und schließlich Lebewesen wie die Würmer hervorbringt. Diese Erklärung brachte ihn in die Mühlen der Inquisition. Aus einem Einzelfall wird das ganze System der Inquisition deutlich. – Das andere ist die Globalgeschichte, die an der Wirtschaftsgeschichte erprobt (Zucker, Baumwolle) besonders interessant wird, wenn sie als Verflechtungsgeschichte beschreibt, welche Auswirkungen ein Vorgang in der einen Kultur auf die andere Kultur hat und wieder zurückwirkt. MMs Fallgeschichten sind zumeist dieser Art. Dazu zusammenfassend MM 477f.

[4] David Chidester hatte dazu mit Savage Systems. Colonialism and comparative religion in southern Africa. (Charlottesville: Virginia UP 1996) ein viel beachtetes Buch geschrieben, MM kommt noch weiter.

[5] Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bände (in 6). Stuttgart: Hiersemann 1957-1963. 2320 Seiten. Nachdruck als dtv-Taschen­buch München 1995. MM S.212f.

[6] Guy Gedalyahu Stroumsa: A new science: the discovery of religion in the Age of Reason. Cambridge, Mass.: Harvard UP 2010. Verwiesen sei auf die ‚Disputation‘, die Ulrich Vollmer eingeleitet und übersetzt hat: Religionsgeschichte und Religionsgespräch am Vorabend der Reformation. Johannes Stamler und sein Dyalogus de diversarum gencium sectis et mundi religionibus von 1508. (Religionen in der pluralen Welt 20) Münster: LIT 2023.

[7] Für die Antike habe ich das Beispiel des Serapis vorgestellt mit Funden bis Afghanistan: Mit dem Getreide kamen die Götter aus dem Osten nach Rom: Das Beispiel des Serapis und eine systematische Modellierung. in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 20 (2012), 7-34. Ders.: Religion im Gepäck. Von Migranten und religiösen Virtuosen im römischen Kaiserreich. In: Ciprian Burlacioiu (Hrsg.): Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 152) Berlin: De Gruyter 2022, 37-66.

Rig-Veda-Das heilige Wissen 6-7

Rig-Veda – Das heilige Wissen. Sechster und siebter Liederkreis.

Aus dem vedischen Sanskrit übersetzt und herausgegeben
von Eijirō Dōyama (Buch VI.1-52) und Toshifumi Gotō (Buch VI.53-75 und Buch VII).

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2022.
717 Seiten.
ISBN 978-3-458-70058-6.
68 €

 

Früheste indische Poesie und Gebete

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der dritte Band der Übersetzung und Kommentierung des Rig-Veda ins Deutsche lässt auf die Vollendung dieses bedeutenden Werkes hoffen.

Ausführlich:

Zehn Jahre nach dem zweiten Band[1] erschien jetzt der dritte Band der sorgfältigen, dem Wortlaut des Originals nahe übersetzten Version der ältesten Poesie Indiens ins Deutsche. Zwei Japanische Gelehrte verantworten die Übersetzung.[2] Das ist ein gehobenes, poetisches, etwas altertümliches Deutsch, aber damit wird erreicht, dass auch in der Zielsprache das hohe Alter des zugrunde liegenden über dreieinhalbtausend Jahre alten Textes durchscheint. Der vorliegende Band enthält auf etwa 300 Seiten die Übersetzung, der Stellenkommentar, der die vielen erklärungsbedürftigen Ausdrücke, Sprachbilder, Metaphern erläutert, ist im Umfang noch etwas länger (S. 299-640), daran schließt sich ein sehr wertvolles ‚Glossar‘ an, in dem die immer wieder auftauchendes Götternamen erklärt werden und die Stellen angegeben sind, wo sie in den Liederkreisen des Bandes vorkommen. Dabei werden die Namen auch in Umschrift des Originals wiedergegeben. Und dankbarerweise werden die Erkenntnisse des Kommentars von Karl Friedrich Geldner aufgenommen und im Lichte neuer Forschungen weitergeführt.[3] Einen zusammenfassenden Kurzkommentar, wie er in den anderen Bänden der Editionen den Stellenkommentaren vorangestellt ist, ist hier nicht gegeben. Einen guten Ersatz dafür leistet Thomas Oberlies, der aus den Zyklen von Gedichten eine Religionsgeschichte rekonstruiert, die seine Trilogie abschließt.[4]

Glücklicherweise wird das Projekt weitergeführt, nachdem der Verlag der Weltreligionen (im Suhrkamp Verlag) keine neuen Ausgaben mehr herausbringt.[5] Man kann nur hoffen, dass das Werk vollendet werden kann, nachdem noch die Liederkreise acht bis zehn ausstehen.

Die Lieder richten sich zunächst an Agni, den Gott, der im Feuer bei den Menschen ist, sowohl als Herdfeuer im Haus als auch im Opferfeuer im Tempel. Sein Name ist indo-europäisch stammverwandt mit lateinisch ignis – Feuer. Seine Eigenschaften im Rig-Veda sind im Glossar mit Stellenangaben aufgeführt. Agni ist einerseits eine Art Trickster, der aus dem Himmel das Feuer mitgenommen und es den Menschen geschenkt hat. Aber er ist den Göttern nicht wie der griechische Prometheus verhasst, sondern die Götter schicken ihn auch als Boten zu den Menschen. Sonst ist Indra der im Rig-Veda am meisten geliebte Gott, dem etwa ein Viertel der gesamten Lieder gewidmet sind. Ihm verdanken die Menschen das lebenswichtige Wasser vom Himmel wie in den Flüssen (s. Glossar s.v.[6] Wasser). Seine Kraft verleiht ihm Soma, der himmlische Göttertrank (VI 72, vgl. Oberlies 240). Indra gelingt es auch, die Rinder aus der Höhle der feindlichen Pani zu befreien, so dass sie als Sonnen­strahlen jeden Morgen das Leben und Wachstum ermöglichen (Glossar s.v. Pani mit den Stellen, vgl. Oberlies 213f). Dem Kämpfer gegenüber stehen gegenüber die drei Götter „Sie – Mitra, Aryaman, Varuna – sind ja die Bestrafer des vielen Unrechts. Sie sind aufgewachsen im Hause der Wahrheit. Sie lassen sich nicht betrügen.“ (RV 7,60-66, hier 60,5; vgl. Glossar s.v. Adityas: „Sie gehen vermutlich auf die gemeinindoiranische Zeit zurück. Sie stellen personifizierte Gesellschaftsprinzipien dar: Varuna das Königsrecht, Mitra der Vertrag, Aryaman [Gewohnheitsrecht]“).[7] Oft werden in den einzelnen Hymnen mehrere Gottheiten zusammen angerufen, und es gibt einzelne Hymnen, die sich an alle Götter wenden (Beispiele: RV 7,34 – 55). Der „erste Mensch“ Manu (also gewissermaßen Adam) ist im Rig-Veda mit der Weltflut verbunden. Eine ambivalente Rolle spielt Maya, die Wunderkraft, die aber nur wenigen Spezialisten verfügbar ist, weshalb man sie auch als Betrug verstehen kann. – Das Glossar dient als Einführung in die sonst nicht so leicht zu verstehenden Gedichte.

Am Rig-Veda hat sich eine Kontroverse entzündet: Die Gedichte repräsentieren eine Sprach­stufe, die noch älter ist als das Sanskrit. Die These, dass der Rig-Veda die Älteste Poesie in einer indo-europäischen Sprache darstellt, beweise auch die Herkunft jeder höheren Kultur aus Indien (‚Out-of-India‘). Die wird gerne in der mächtigen Bewegung des Hindu-Nationa­lismus aufgegriffen gegen die Vielfalt der Kulturen in der indischen Union (und von den Hindus in den USA propagiert). In der politisierten Wissenschaft in den USA widersprachen Sprachwissenschaftler. Die Kontroverse ist knapp geschildert in dem Wikipedia-Artikel zu Michael Witzel (Professor an der Harvard-Universität). Das Thema der „Urheimat der Indogermanen“ ist allerdings seit dem 19. Jahrhundert immer wieder umstritten diskutiert worden, immer auch mit politischen Interessen.[8]

Dass dieses schwierige Werk in einer deutschen Übersetzung und (v.a. sprachwissenschaft­lichen) Kommentierung zugänglich gemacht wird, ist eine Großtat. Man kann nur hoffen, dass das Werk noch vollendet wird.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die Rezension des zweiten Bandes Christoph Auffarth: Älteste religiöse Poesie aus Indien: Die Hymnen des Rig-Veda mit Erklärungen neu übersetzt – Rig-Veda – Das heilige Wissen. Dritter bis fünfter Liederkreis. Aus dem vedischen Sanskrit übersetzt und hrsg. von Michael Witzel (Buch 3), Toshifumi Goto (Buch 4), Salvatore Scarlata (Buch 5). Berlin: Verlag der Weltreligionen 2013. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2015/05/15/rig-veda-das-heilige-wissen-dritter-bis-fuenfter-liederkreis/ (15.5.2015).

[2] Zu Prof. Toshifumi Gotō, der in Erlangen promovierte, dann u.a. in Freiburg und Wien lehrte, s. Univercity Guide | Tohoku Univercity (24.10.2023). Eijirō Dōyama ist Professor für Indologie an der Universität Osaka in Osaka/Japan.

[3] Karl Friedrich Geldner: Der Rig-Veda. Aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt und mit einem fortlaufenden Kommentar versehen. 3 Bände. Cambridge, MA: Harvard 1951-1957. Geldner war schon 1929 gestorben, nachdem er 1923 den ersten Band der Übersetzung herausgebracht hatte. Die Harvard Universität ermöglichte die Edition der Gesamtübersetzung und des Kommentars.

[4] Meine Rezension: Götter und wie die Welt funktioniert, eine dreitausend Jahre alte indische Sicht. Thomas Oberlies: Der Rigveda und seine Religion 2012. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2013/06/02/thomas-oberlies-der-rigveda-und-seine-religion/ (2. Juni 2013).

[5] Das ehrgeizige Unternehmen, das in dem Almanach Die Religionen der Welt. Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen. Frankfurt: VdWR 2007 skizziert und von der Udo Keller-Stiftung mitfinanziert wurde, wurde abgebrochen. Die Ankündigung der vorliegenden Übersetzung (S. 19-23) ging von 4 Bänden aus, wobei Band 3 den sechsten bis neunten Liederkreis umfassen sollte.

[6] S.v. ist die Abkürzung für lateinisch sub voce – „unter dem Stichwort“.

[7] S. 641. Das Wort Gewohnheitsrecht habe ich anstelle des dort gewählten Wortes „Volkssitten“ gesetzt. Mitra ist im Iranischen/Persischen der Gott des Vertrages, der in gewandelter Form als Gott Mithras in der Römischen Kaiserzeit prominent wurde.

[8] Ruth Römer: Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland. München: Fink ²1989. Felix Wiedemann: Am Anfang war Migration. Wanderungsnarrative in den Wissenschaften vom Alten Orient im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck 2020. Siehe meine Rezension: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/12/03/am-anfang-war-migration/ (3.12.2021).

The Christian Mystery

Annelies Lannoy; Danny Praet (ed.):
The Christian Mystery: Early Christianity and the Ancient Mystery Cults
in the Work of Franz Cumont and in the History of Scholarship.

(Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 81)
Stuttgart: Steiner 2023.
335 Seiten. Broschiert.
ISBN 978-3-515-13197-1

 

Das Christentum als eine ‘orientalische Mysterienreligion‘:
Streit um Wissenschaftsfreiheit oder die ‚wahre Lehre‘ um 1900

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Das Christentum als Teil der antiken Religionsgeschichte (Vorformen, Einflüsse, Austausch) wurde um 1900 zwischen katholischen und evangelischen Wissenschaftlern debattiert. Dabei waren katholische Forscher, wie hier im Mittelpunkt Franz Cumont, bedroht von der Zensur der Papstkirche. Diese sah die Kirche als göttliche Offenbarung an, jenseits von Zeit und Herausforderungen durch die Moderne.

Ausführlich

Bis heute immer noch als Standardwerk gelesen, veröffentlichte der belgische Altertumswis­senschaftler Franz Cumont 1906 seine Monographie Les religions orientales dans le paganisme Romain.[1] Seine Forschungen hatten begonnen mit dem Corpus-Werk zum Kult des Mithras, d.h. er hatte alle verfügbaren Quellen (antike literarische Texte, Inschriften, Münzen und vor allem die zahlreichen Reliefs und – weniger gut erforscht – die zumeist höhlenhaft unter­irdischen Versammlungsräume der Anhänger des Kultes gesammelt, ediert, unter Einbeziehung der Forschungsliteratur kommentiert und abgebildet. Zwei umfangreiche Bände, der Quellenband in Fazikeln 1894-1896, die Auswertung 1899 als Band 1 präsentierte alles, was man zu der Zeit wissen konnte über den Kult und seine Anhänger.[2] Die religionsgeschichtliche Einordnung aus Band 1 in den Conclusions veröffentlichte Cumont 1900 noch einmal separat.[3] Das Werk wurde zum Vorbild für viele Corpora zu den Orientalischen Religionen im Römischen Reich,[4] in dem Rahmen, den Cumont in der Monographie von 1906 absteckte: Die Bewohner des Römischen Reiches hätten im Heidentum und seinen Ritualen keinen Sinn mehr gesehen. In dieses Vakuum strömten neue Religionen nach aus dem Orient. Cumont sah in ihnen einen Fortschritt, weil sie (1) ein sinnhaftes Gottesbild trugen und (2) sie forderten ein moralisches Verhalten ein. Viele Römer bekehrten sich. Cumont stellte diese Religionen vor entsprechend ihrer geographischen Herkunft: aus Ägypten Isis, Serapis u.a., aus Persien Mithras und Jupiter Dolichenus, aus Syrien Atargatis und der Sonnenkult, aus Kleinasien die Magna Mater usf. Im Vorwort macht Cumont selbst darauf aufmerksam und entschuldigt, dass er die beiden wichtigsten Religionen des Orients nicht einbezogen hat, das Judentum und das Christentum. Warum er diese zentrale Frage auslässt, ausgerechnet diese beiden Religionen, die die Antike überlebt haben, hat einen Grund in dem tiefen Riss im Kulturschub der Jahrhundertwende 1900 zwischen Bewahrung der Tradition und Aufbruch der Moderne.[5]

Gegen die Bewahrung der Tradition durch das Bündnis von Staat und Kirche mussten die Wissenschaften mit den neuen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, dem Wissen der weiteren Perspektiven der Globalisierung im Imperialismus und den Herausforderungen der Moderne umgehen, auch dort gespalten zwischen Rechtfertigung des herrschenden Status und dessen Kritik, wenn die neuen Fakten dem status quo widersprachen. In den katholischen Ländern trat die zunehmend auf den Papst zentrierte Kirche gegen jede historische Analyse der Bibel und gegen die Behauptung geschichtlicher Entwicklung und Brüche der Dogmen an. Der Fall des französischen Wissenschaftlers Alfred Loisy wurde zum abschreckenden Beispiel exerziert: Verlust des Priesteramtes, Verbot der Bücher, Verbot der Forschung, Berufsverbot.[6] Franz Cumont stand vor dem gleichen Dilemma[7] und tatsächlich traf ihn der katholische Anti-Modernismus, als der Kultusminister einen Nobody auf den Lehrstuhl für Römische Geschichte setzte, der dem bereits international berühmten Cumont zugestanden hätte. Cumont war verdächtig, die katholische Lehre zu untergraben mit seinen historischen Forschungen. Der kündigte den Staatsdienst 1910/11 und forschte von da an als freier Wissenschaftler, einer der herausragenden Altertumswissenschaftler des 20. Jahrhunderts.[8]

Das Dilemma des indirekt doch immer mitgedachten Christentums als eine ‘orientalische Mysterienreligion‘ haben Annelies Lannoy und Danny Praet intensiv erforscht; der vorlie­gende Band schließt das Projekt ab.[9] Die Ergebnisse ihrer Forschung sind in der langen Einlei­tung zum Kontext der Forschungen dieser kontroversen Jahre (9-56) und dem sich auf Cumonts Werk konzentrierenden Kapitel zum Einfluss seiner Orientalischen Religionen auf das Frühe Christentum (59-108), also in einem Drittel des Buches, präzise zusammengefasst. Sie kommen zu dem Schluss:

Cumont himself, however, was not a Catholic. He was a freethinker whose inner life has remained enigmatic but who definitely was neither dogmatically nor anti-religious. All in all it remains difficult to surmise whether Cumont’s reluctance to directly engage in the debates over the origins of Christianity was influenced by the anti-Modernist context and the fear for Catholic retalations against himself […] Cumont’s letter to his teacher Hermann Diels moreover shows that he was well-aware that his RO could be badly received among conservative religious circles precisely for that reason. (27).

Das scheint mir überpointiert. Selbst wenn er nicht mehr praktizierender katholischer Christ gewesen sein sollte, bedeutet das doch nur, dass er sich dem päpstlichen Ultramontanismus nicht unterwarf, der freie Forschung mit Berufsverboten bestrafte. Nach dessen Gebot war Glaube (enigmatic inner life) der Glaube der Kirche und den legte das ‚heilige‘ Offizium im Vatikan fest. Im protestantischen Bereich bestrafte die preußische Staatkirche auch einige wenige Pfarrer, aber die Wissenschaft konnte weitgehend frei forschen.[10] Zum Eklat kam es über den Babel-Bibel-Streit, als Friedrich Delitzsch behauptete, dass die Bibel nur Mythen aus Mesopotamien wiedergab, darunter den Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott.[11] Vergleiche mit dem deutschen Rahmenbedingungen sind im Beitrag von Anders Klostergaard Petersen (zur ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘, 141-172) und Nichaolas A.E. Kalospyros zum Konzept der synkretistischen hellenistischen Religion, in der Semitisches und Indogermanisches schon vermischt waren, bevor sie ins Römische Reich rezipiert wurde (173-192, sehr gut zu Richard Reitzenstein). Aus dem Umfeld Cumonts wird das Verhalten von Prosper Alfaric (C.J.T. Talar, 193-211), Eugène Goblet d’Alviella (Jean-Philippe Schreiber 231-254) und den Italienischen Gelehrten, darunter dem Religionswissenschaftler Raffaele Pettazzoni (Natale Spineto, 255-276) beschrieben.[12] Die beiden letzten Beiträge zeigen Wege auf für die künftige vergleichende Forschung zum Christentum als (spät-)antike Religion: Philippe Borgeaud zur Gottesmutter 279-294 und Attilio Mastrocinque zur ‚Trinität‘ im Christentum und in der heidnischen Theologie bei Kaiser Julian 295-319.

Die weitreichenden Thesen von Ernest Renan kannte Cumont aus seinen Kontakten mit Ernest Renan gut. Dieser hatte in dem letzten Band zur Geschichte des Christentums in der Antike Marc Aurèle ou la fin du monde antique 1882, 390 die kontrafaktische These geäußert, die westliche Welt wäre mithrasgläubig geworden, wenn das Christentum aufgrund zufälliger Ereignisse in seiner Ausbreitung gehemmt worden wäre.[13] Cumont war da viel vorsichtiger und differenzierter.[14] Die Ähnlichkeiten in der Ikonographie zwischen Mithras- und christlicher Ikonographie führte Cumont darauf zurück, dass beide Religionen im persischen Mazdaismus gemeinsame Wurzeln hätten (Lucinda Dirven, 113). Als ein weiterer Konkurrent des Christentums galten die Dionysos-Mysterien, denen Cumont in der vierten Auflage seiner religions orientales einen Appendix widmete, frz. 41928=2006, 315-337; dt.³1931, 192-204.[15]

Ein Index von Textstellen und Namen erleichtert das Wiederauffinden von einschlägigen Diskussionen.

Noch Rudolf Bultmann fand 1949 das Christentum nicht aus dem Judentum, aus der Predigt Jesu entstanden, sondern der Kultheros Christos sei in einem griechischen Milieu zuerst verehrt worden.[16] Die Erkenntnis, dass die Jesusbewegung eine innerjüdische Reformbe­wegung war, hat sich erst später durchgesetzt. Das vorliegende Buch beschreibt sehr präzise das scheinbar ausgesparte Thema in Cumonts Werk, wie sich das Christentum unter den orientalischen Mysterienreligionen entwickelte im Kontext der römischen Religionsgeschich­te. Das Thema wurde in den ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts heftig diskutiert und stand gleichzeitig unter scharfer Zensur für katholische Forscher. Diesen Kontext erhellt das Buch ausgezeichnet.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2023                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Franz Cumont: Les religions orientales dans le paganisme Romain. Conférences faits au Collège de France en 1905. Paris 1906, 41929. = Mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Vorwort hrsg. von Corinne Bonnet und Françoise Van Haeperen, (Bibliotheca Cumontiana. Scripta maiora 1). Torino: Aragno 2006 im Rahmen der Gesammelten Schriften Cumonts. [Deutsch] Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum. Leipzig 1910, ³1931. Zahlreiche Nachdrucke. Englisch 1911.

[2] Franz Cumont: Textes et monuments figurés relatifs aux mystères de Mithra. 2 Bände, Bruxelles: Lamertin 1896, 1899.

[3] Franz Cumont: Les mystères de Mithra. Bruxelles: Lamertin 1900, ³1913. Neuausgabe mit wissen­schaftsgeschichtlichem Vorwort von Nicole Belayche; Attilio Mastrocinque, (Scripta maiora 3) Torino: Aragno 2013 (xc-258 pp). Deutsch: Die Mysterien des Mithras. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit. Leipzig: Teubner 1903, ³1923, viele Nachdrucke.

[4] Die Corpora wurden in 113 Bänden der Études préliminaires aux religions orientales dans l’empire romain Leiden: Brill 1. 1961 – 113. 1990 veröffentlicht. Eine treibende Kraft war Maarten Josef Vermaseren.

[5] Die Moderne beginnt um 1800 mit den Revolutionen: der politischen zuerst in Frankreich 1789, der industriellen zuerst in England, nach der Säkularisation auch in den katholischen Ländern, der agrarischen für die Versorgung der urbanisierten Großstädte, der medizinisch-hygienischen Revolution, usf. Die immer noch vorwiegend monarchisch beherrschten Nationalstaaten fanden keine Lösungen für die sozialen Fragen der Zeit. Die Generation der ‚klassischen Moderne‘ um 1900 brach eruptiv mit den Konventionen: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Jugendbewegung, Demokratisierung auf der einen, Militarisierung, Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus auf der anderen Seite.

[6] Das hat exzellent die eine Herausgeberin Annelies Lannoy erforscht in dem auf dieser Seite schon rezensierten Buch: Ein neuer Zweig der Geschichte der Religionswissenschaft durch die Erforschung des katholischen Wissenschaftlers Alfred Loisy. Annelies Lannoy: Alfred Loisy and the making of history of religions. A study of the development of comparative religion in the early 20th century. Berlin: De Gruyter 2020. In https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/01/16/lannoy-alfred-loisy/ (16.1.2021).

[7] Der Briefwechsel der Beiden ist herausgegeben und kommentiert von Annelies Lannoy, Corinne Bonnet und Danny Praet: «Mon cher Mithra …». 2 Bände, Paris 2019.

[8] Danny Praet: L’affaire Cumont. Idéologies et politique académique à l’Université de Gand au cours de la crise moderniste, in: Danny Praet; Corinne Bonnet (ed.): Science, Religion and Politics during the Modernist Crisis. Brussels; Rome: BHIR 2018, 401-474.

[9] Danny Praet ist Professor an der Universität Gent, Belgien. Seine Publikationen Prof. Dr. Danny Praet | Faculty of Arts and Philosophy – Research Portal (ugent.be) (26.10.2023). Annelies Lannoy ist wissenschaftliche Mitarbeiterin ebenda. Prof. Dr. Annelies Lannoy | Faculty of Arts and Philosophy – Research Portal (ugent.be) (26.10.2023)

[10] Dazu Thomas Auwärter: „Die Wiederentdeckung der Religion“ und die Humanisierung des Christentums: Zeit, Leben, Werk und Religiosität Albert Kalthoffs (1850-1906). Bremen: Universität Bremen, 2020. Gan­golf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck, 1994.

[11] Hierzu ebenfalls auf dieser Seite: Die Leugnung des jüdischen Anteils an der deutschen Kultur: Eine hitzige Debatte im Kulturschub 1900. Eva Cancik-Kirschbaum; Thomas L. Gertzen (Hrsg.): Der Babel-Bibel-Streit und die Wissenschaft des Judentums. (Investigatio Orientis 6) Münster: Zaphon 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/01/16/babel-bibel-streit/ (16. Januar 2023).

[12] Pettazzoni hat 1924 das religionsvergleichende Werk I misteri. Saggio di una teoria storico-religiosa veröffentlicht, vgl. Spineto 265-271; Massa S. 123f.

[13] Cumont zitiert Renan, S. 579 in Roschers Mythologischem Lexikon, 1897, Sp. 3067: „Si le christianisme eût été arrêté dans sa croissance par quelque maladie mortelle, le monde eût été mithraiste.

[14] Den heutigen Stand der Mithras-Forschung fasst sehr gut zusammen Richard Gordon: Mithras. In: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 2012, 964-1009.

[15] Eine orientalische Herkunft des Dionysos-Bakchos hatte schon Friedrich Creuzer 1809 angenom­men, besonders aber machte einen orientalischen Ursprung Erwin Rohde in seinem 2-bändigen Werk Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg 1890/1894 geltend. Cumont sieht die Konkurrenz (1) im Glauben an das Leben nach dem Tod und (2) in der Bedeutung des Weines im Kult. Die Diskussion wird heute wieder geführt, u.a. zu den dionysischen Elementen im Johannes-Evangelium, der Überfülle des Weines bei der Hochzeit zu Kana und dem Bild des Weinstocks und den Trauben für Jesus und seine Jünger. Dazu das aktuelle Buch von Peter Wick, Das Geheimnis des Evangeliums 2023. Dazu wird es demnächst ebenfalls eine Rezension auf dieser Seite geben. Der spätantike Dichter Nonnos von Panopolis schrieb im 5. Jahrhundert n.Chr. ein Epos Dionysiaka in 48 Gesängen und daneben eine Fassung des Johannes-Evangeliums in Hexametern.

[16] Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen. Zürich: Artemis 1949.

Der Papst, der schwieg

David I. Kertzer: Der Papst, der schwieg.
Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler

Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Martin Richter.
Darmstadt: wbg Theiss 2023.
704 Seiten, ISBN  978-3-8062-4502-8
39 Euro. E-Book: 31,99 Euro

 

Das Schweigen des Papstes zu den Kriegsverbrechen:
Neue Dokumente zu Pius xii (1939–1945).

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Darstellung gibt ganz die Sicht des Vatikans wieder mit neuen Begründungen, warum der Papst als hoch geachtete moralische Instanz und bestens informiert die Kriegsverbrechen der Wehrmacht und die Genozide nicht anprangerte.

Ausführlich: Das Pontifikat Pius‘ XII. fand statt in einer Zeit, in der Unvorstellbares geschah:  der totale Krieg, der nicht mehr die nur ausgerüsteten Soldaten betraf, sondern gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde als Bombenkrieg, als Vernichtungskrieg und als Völker­mord gegen die Juden, Sinti und Roma, gegen Slawen und als Krieg gegen Homosexuelle, ‚Asoziale‘, Behinderte, ganz vorne auch gegen Kommunisten. Wer konnte sich das überhaupt denken. Aber der Papst wurde sehr gut und von vertrauenswürdigen Klerikern informiert, an denen kein Zweifel bestand. Warum gab er diese Informationen nicht weiter an die Weltöffentlichkeit oder zumindest an die Alliierten? Eine Ausnahmesituation, für die nach der Katastrophe die Alliierten ein Gericht einrichteten, das die unvorstellbaren Kriegsverbrechen juristisch vor Gericht beurteilen sollte, für die des kein Gesetz gab,[1] weil es bis dahin nicht denkbar war. Der Papst als hohe moralische Autorität blieb stumm.

Wie soll man dann das Schweigen eines Papstes beurteilen, der zweifellos eine sehr anerkannte moralische Größe darstellt? Sein Vorgänger Pius xi. hatte – noch vor dem Weltkrieg – scharfe Worte gefunden gegen den NS, schon früher in Polen,[2] dann, als Kardinal Innitzer beim ‚Anschluss‘ Österreichs den NS jubelnd mit Glockengeläut begrüßte, und schließlich mit der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ kurz vor seinem Tod.

Zu Papst Pius xi., dessen Staatssekretär (also die oberste Exekutive der Entscheidungen des Papstes) Eugenio Pacelli war, und der nach dessen Tod zum Papst gewählt wurde, hat David Kertzer eine Monographie geschrieben. Sie erregte Aufsehen, weil deutlich wurde, dass entgegen der kritischen Aussagen des Papstes Pius xi. zum italienischen Faschismus es geheime Kanäle gab, über die die faschistische Regierung mit dem Vatikan verhandelte und Informationen vermittelte. Während die Faschisten nach dem Marsch auf Rom die Kleriker einschüchterten und quälten, kam es überraschender Weise zu einem Abkommen zwischen der Regierung und dem Vatikan in den Lateranverträgen 1929, die auch die frommen Katholiken zur Unterstützung der Faschisten brachte, indem der Kirche ihre alten Privilegien eingeräumt wurden. Kertzers früheres Buch trägt den Titel The Pope and Mussolini : The Secret History of Pius XI and the Rise of Fascism in Europe (2014).[3]

Als der Vatikan 2020 die Archive öffnete für das Pontifikat Pius xii. durften erfahrene Teams von Historikern, darunter das von Hubert Wolf und das von David Kertzer die gewaltigen Aktenberge öffnen und erforschen. Als eine der ersten Gesamtdarstellungen der Jahre 1939 bis 1945 erscheint jetzt Kertzers The pope at war.[4] Und es gibt tatsächlich neue Erkenntnisse, die das Verhalten des Papstes, sein Schweigen zu den Verbrechen der Nationalsozialisten hinter der Front des Krieges in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen, aber nicht besser erklären. Bisher forderte man, der Papst hätte die Ermordung der Juden publik machen müssen (und so vielleicht die Alliierten zur Zerstörung von Auschwitz bringen können). Aber warum sollte das Oberhaupt der Katholiken sich für eine Religion einsetzten, die er selbst für falsch, die Juden für Drahtzieher des die Religion zerstörenden Kapitalismus hielt? Die eigentliche Gegenmacht waren für den Vatikan die protestantischen kapitalisti­schen Staaten Großbritannien und die USA, gleich nach dem Kommunismus in der Sowjet­union. Bezüglich der Juden verlangte der Papst, dass die zum Christentum Konvertierten von den Rasseverfolgungen ausgenommen werden müssten. – Die faschistische Regierung in Italien erließ nach Hitlers Staatsbesuch im Frühjahr 1938 ebenfalls Rassegesetze (wie die Nürnberger Gesetze 1935), berief sich dabei aber auf Gesetze „wie sie verschiedene Konzilien der Kirche erlassen hatten“ (126), und setzte sie weniger scharf durch. Aber ganz unver­ständlich ist das Schweigen des Papstes zum Überfall von Hitlers Armee auf Polen im September 1939 (109-115). Der Papst drängte Polen zwar zu Zugeständnissen im letzten Moment, aber der Hitler-Stalin-Pakt kurz davor (23. August 1939), eröffnete den Plan zur Herrschaft über Europa.[5] Der Zweite Weltkrieg war geplant. Warum machte der Papst nicht die Kriegsverbrechen öffentlich, die Ermordung von hunderten von Zivilisten als Rache, wenn ein deutscher Offizier erschossen wurde, die Verhaftung von katholischen Priestern, Enteignung von Seminaren, Schulen, Zerstörung von religiösen Denkmälern: den Angriff auf die nationale katholische Kirche Polens?

Was jetzt zum Vorschein kommt in den neu geöffneten Akten, ist eine der großen Über­raschungen. Es gab streng geheim gehaltene indirekte Verhandlungen zwischen Hitler und dem Papst. Es lag in Beider Interesse, das Verhältnis zwischen NS-Regierung und der katholischen Kirche zu verbessern. Der Papst bekam ständig Berichte über Übergriffe der NS auf katholische Einrichtungen, Prozesse gegen Priester wegen „Sittlichkeitsverbrechen“, wegen Devisenvergehen, Beschlagnahme von Klöstern usw. Er kritisierte das nicht öffentlich, denn sein Ziel war ein verbessertes Konkordat unter Einschluss von Österreich.[6] Hitler seinerseits war es daran gelegen, die Zustimmung der katholischen Bevölkerung zu gewinnen, angesichts des geplanten Krieges. Allerdings gab es in der NS-Elite starke Kräfte, die einen Kampf gegen die Kirchen führten.[7] Hitler konnte über seinen Boten Prinz Philipp von Hessen geheime (auch vor der übrigen Elite des NS geheime) Kontakte pflegen. Denn der Prinz aus dem Hochadel war mit einer Tochter des italienischen Königs verheiratet und lebte immer eine Zeit des Jahres in Italien und im Königspalast in Rom. (88-98).

Kertzer kolportiert S. 27: „In den letzten Monaten hatte der [alte] Papst [Pius xi.] immer deutlichere Worte gefunden für das Vorgehen der Nazis gegen die katholische Kirche in Deutschland und den Versuch, eine heidnische Blut-und-Boden-Religion mit Hitler als neuem Gott zu schaffen.“[8] Das ist eine grobe Fehlinterpretation der Enzyklika. Dort geht es nicht um den Nationalsozialismus oder die NS-Weltanschauung im Ganzen, sondern eine Version, die Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler verbreiteten. Von ‚Hitler als Gott‘ ist nirgends auch nur eine Spur zu erkennen.[9]

Was hat Kertzer zu sagen zur Weihnachtsansprache des Papstes 1942, die der katholischen rechtfertigenden Geschichtsschreibung als – endlich – die klare Aussage der katholischen Kirche gegen Rassismus und Kriegsverbrechen gilt?[10] Wie immer der Tradition verhaftet und ‚neutral’ gegenüber allen Mächten, also zweideutig von beiden Seiten deutbar, aber mit einer Schlagseite zu den Nazis und Faschismus, weist der Papst erst auf Seite 24 (seiner Ansprache, also nach seiner üblichen ‚barocken‘ Rhetorik, [Kertzer 308]) darauf hin: „-„… Hunderttausende, die persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer Nationalität oder Abstammung willen dem Tod geweiht sind, …“ Kein konkretes Wort zu “National­sozialisten“, Konzentrationslagern, Genozid, Juden, ganz zu schweigen von anderen Mitgliedern der „Menschheit“, die der Papst doch ständig als hohes zu schützendes Gut im Munde führt.

Der zugunsten des Papstes immer wieder behauptete Einsatz für Juden wird deutlich reduziert (413-428): Der Vatikan setzte sich für Getaufte ein, den Abtransport der Juden aus dem Ghetto in Rom ließ er ohne Protest geschehen, obwohl er wusste, dass sie in den sicheren Tod fuhren. In Klöstern wurden viele Juden versteckt aber ebenso viele abgewiesen. Der Papst hatte die Klöster nicht zur Rettung aufgefordert (436f).[11]

Fazit: Das Buch bietet nach der Öffnung der Vatikanischen Archive wichtige neue Erkennt­nisse zum Schweigen des Papstes. Das Buch reproduziert die Ansichten des Vatikans, es bietet keine historische Analyse. Pius xii. hoffte als guter Kenner Deutschlands, wo er in München und Berlin 12 Jahre gelebt hatte, auf ein gutes Verhältnis mit dem Nationalsozialis­mus und unterließ – obwohl gut informiert – den notwendigen Protest über die Massaker in Polen zu Beginn und aller kommenden Kriegsverbrechen der NS im Zweiten Weltkrieges. Stattdessen gefiel er sich in einer Nichts sagenden Rhetorik und wohlverpackten Informationen, die beide Seite als Zustimmung ihrer Handlungen verstehen konnten. Der Papst erwartete lange den unaufhaltsamen Sieg der Deutschen und hoffte auf ein gutes Verhältnis, zwischen dem von Gott eingesetzten Staat (Römer 13) und Gottes Institution auf Erden. Das alles ist detailreich und interessant erzählt. Die italienisch-päpstliche Perspektive ist sehr wertvoll und bringt detaillierte neue Informationen. Insofern ist das Buch eine Fundgrube präzise nachgewiesener Zitate aus den Quellen. Wenige Informationen sind neu für den Nationalsozialismus in Deutschland. Und leider verstärkt er die falsche Vorstellung von der antireligiösen Weltanschauung des NS.

 

Bremen/Wellerscheid, Juli 2023                                                                Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die Gegner des Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg nannten das Siegerjustiz. Sie beriefen sich auf den römischen Grundsatz nulla poena sine lege: Strafen können nur verhängt werden, wenn es (bereits vorher) ein formuliertes Gesetz mit definierten Sanktionen gab. Das Tribunal beruhte aber (1) auf der Extrapolation von Gesetzen für normale Verbrechen und (2) sehr sorgfältiger Beweisaufnahme aus den vorhandenen Akten (von denen die Nazis viele vernichtet hatten im Bewusstsein ihrer Verbrechen) oder nur mündlicher Befehle wie den für die Vernichtungskation an den Europäischen Juden.

[2] Als nach dem Ersten Weltkrieg Polen als Nationalstaat neu gegründet wurde, entzog er dem deutschen Episkopat die Aufsicht über weite Teile, auch mehrheitlich von Deutschen besiedelte Gebiete (Schlesien)

[3] Im Deutschen wählte man den Titel (den Rolf Hochhut in seinem Theaterstück schon geprägt hatte) Der erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus, Übersetzung Martin Richter. Darmstadt: wbg Theiss 2016. David I Kertzer (* 1948) ist Professor emeritus für Sozialwissen­schaft, Anthropologie und italienische Studien an der Brown University in Providence, Rhode Island.

[4] The pope at war: the secret history of Pius XII, Mussolini, and Hitler. New York: Random House 2022.

Das Pontifikat Pius’ xii. dauerte vom 2. März 1939 bis zu seinem Tod am 9. Oktober 1958.

[5] Dass die Aufteilung Polens in einen westlichen Teil, den die Deutschen erobern konnten und einen östlichen Teil, den die Sowjetunion sich aneignen konnte, in einem Zusatzvertrag vereinbart wurde, konnte die Welt nicht wissen; er war geheim abgeschlossen. – Kertzer macht das nicht klar.

[6] Das alte Konkordat in Österreich machte die katholische Kirche zu einer Macht in der Republik, an der vorbei keine Regierung möglich war. Mit dem Einmarsch der NS in Österreich 1938 wurde dieses Konkordat gekündigt. Oft wird diese – notwendige – Kündigung bewertet als Maßnahme des NS, wie er nach dem Sieg verfahren würde mit den Kirchen insgesamt. Dazu meine Rez. ) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/03/02/religion-im-kriegszustand/ (2.3.2018).

[7] Kertzer 92. Am Beispiel des Gesetzes über die Deutsche Schule habe ich die Fraktionen beschrieben. Parteiungen im Totalitarismus: Christenheiten und Ideologien im „Dritten Reich“. In: Ansgar Jödicke; Carsten Lehmann; Christian Meyer (Hrsg.): Religion, Partei, Parteiung – Komparative Perspektiven auf dem Weg zu einem Grundbegriff religionswissenschaftlicher Forschung. [=Themenheft der] Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (Hg. von Gert Pickel und Annette Schnabel) 2022, #. https://link.springer.com/article/10.1007/s41682-022-00106-3 . [Open access 9. März 2022].

[8] Kertzer 27 zu Hitlers Staatsbesuch in Rom, 2.Mai 1938. Die Meinung des (Vorgänger-) Papstes bezieht sich auf die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, verlesen in allen deutschen katholischen Kirchen am 21. März 1937. – Obwohl aus Kertzers Darstellung hervorgeht, dass vor allem Hitler die Akzeptanz durch die katholische Bevölkerung für notwendig hielt, wiederholt er seine falsche These von der „antireligiösen Doktrin des Nationalsozialisten“ (so etwa 231 und öfter).

[9] So im ganzen Buch Kertzers, obwohl die Details nicht zu dieser generellen Aussage passen. Zur Enzyklika Auffarth (wie Anm. 6), Abschnitt 5. Handbuchbeitrag zur Religionsgeschichte des Dritten Reiches Auffarth, Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553. Dazu die vielen bahnbrechenden Arbeiten von Manfred Gailus, zusammengefasst in Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. Freiburg: Herder 2021 mit meiner Rezension  https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/03/glaeubige-zeiten-religiositaet-im-dritten-reich/ (3.1.2022).

[10] Im Epilog beschreibt Kertzer, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg Feldrabbiner der amerikanischen Armee war, wie sogleich nach der Niederlage der Achsenmächte Italiens, Deutschlands und Japans, die Geschichte umgeschrieben wurde, insbesondere im katholischen Milieu. Dazu besser Mark Edward Ruff: Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Erinnerungspolitik und historische Kontroversen in der Bundesrepublik 1945 – 1980. Paderborn: Brill Schöningh 2022 (engl. Cambridge: UP 2017 ).

[11] John Cornwell: Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat. [London; New York: Viking 1999] München: Beck 1999 beschrieb in seiner Biographie, wie Eugenio Pacelli in einem antisemitischen Milieu aufwuchs und sein späteres Handeln so motiviert gewesen sei. Darauf antwortete Michael F- Feldkamp (s. die wikipedia-Seite) mit Pius XII. und Deutschland. 2000 in der Absicht, Pacelli als Judenfreund und -retter zu erweisen. Das kann man nach Kertzers Dokumenten nicht bestätigen.

Die Erfindung der Katharer

Markus Krumm, Eugenio Riversi, Alessia Trivellone:
Die Erfindung der Katharer.

Konstruktion einer Häresie in Mittelalter und Moderne.

Regensburg: Schnell+Steiner 2023.
ISBN 978-3-7954-3797-8.
49,95 €

 

Mittelalterliche religiöse Bewegungen,
die Erfindung der Katharer und ‚der‘ Kirche

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Den Forschenden über die Schulter blicken: Ein lebendiger Einblick in die Werkstatt historischen Arbeitens am Beispiel der Konstruktion und Dekonstruktion der mittelalter­lichen Gegenkirche der Katharer im Mittelalter und in der modernen Forschung.

Ausführlich:

Für eine Ausstellung Die Rheinlande und die ‚Erfindung‘ der Katharer. Die Konstruktion eines religiösen Feindbildes im hochmittelalterlichen Europa entstand dieser Band mit sehr gut ausgewählten, wunderbar farbig gedruckten Illustrationen. Kuratiert wird die Ausstellung, die zuerst an der Uni Bonn im SoSe 2022, dann ab Mai 2023an der Uni Köln gezeigt wird, von Eugenio Riversi (Bonn) und Alessia Trivellone (Montpellier). Sie beruht auf einer Wanderausstellung von Trivellone, die seit 2018 schon an verschiedenen französischen Universitäten gezeigt wurde. Daraus ein Buch zu machen hatte Markus Krumm (München) die Idee und wurde dabei von der Professorin (Julia Burckhardt) und Professor (Knut Görich) für mittelalterliche Geschichte an der LMU unterstützt; viele Studierende in Bonn und München haben sich mit Engagement beteiligt. Namentlich noch hervorgehoben ist Uwe Brunn mit seiner französischen Dissertation.

Ein Protokollbuch der ‚großen Inquisition‘ von 1245-46 enthält die Aussagen von 5460 Personen aus über hundert Dörfern der Region in Südfrankreich, die vor den beiden Dominikanern erscheinen mussten (inquisitio ist mit ‚Untersuchung‘ zu schwach übersetzt, weil es um das ‚Aufspüren‘ von KetzerInnen geht). 15% von diesen gaben ein positives Geständnis ab, dass sie Ketzer hätten predigen hören oder sonstwie Umgang mit ihnen gehabt hätten, alle anderen streiten das ab, obwohl teils im gleichen Haushalt lebend.[1]

Festzuhalten ist, dass (1) Katharer keine Selbstbezeichnung der Verdächtigten darstellt; sie nannten sich meist boni homines oder boni Christiani ‚gute Menschen‘ (in Abgrenzung zu den Katholiken, v.a. aber deren Klerikern). Wie selten der Begriff in den Quellen verwendet wird, ist eine der wichtigen Erkenntnisse, die ich aus dem Buch gezogen habe. (2) Die Fremd­bezeichnung von Seiten der katholischen Amtskirche wechselt mit vielen anderen. (3) Die sog. ‚Kirchenreform‘ nennt alle, die nicht der katholischen Kirche unter dem (vermeint­lichen) Oberhaupt, dem Papst in Rom, Gehorsam leisten, „Häretiker“, die es zu verfolgen gelte. Mit diesem Begriff werden auch Kollegen aus der eigenen Kirche angeschwärzt, die anderer Meinung sind.[2] (4) Die so und anders Bezeichneten bilden keine Einheit, sondern sind lokale Gruppen, die sich oft nicht bewusst sind, dass ihr Glaube und ihr Gottesdienst ‚häretisch‘ seien. (5) Erst die Verfolgung entwickelt Kriterien, wie man Häretiker erkennen könne. Das nehmen die Zisterzienser und die Dominikaner in die Hand und die Franziskaner, die so dem Verdacht entgehen, sie könnten selbst Häretiker sein (was für die Franziskaner-Spiritualen auch zutrifft). Zu Recht also sprechen die Autor:innen von der Konstruktion einer Häresie.[3] Als Höhepunkt ließ der Papst Innozenz III. 1209 den Kreuzzug ausrufen (der gegen die Stedinger in der Umgebung von Bremen 1234 ist nur 180 erwähnt, im Kapitel Häresiekampf als Krieg 140-167 kommen sie nicht vor. Dass sie „sich weigern Steuerabgaben an den Erzbischof zu leisten“, dreht den Spieß um: der Erzbischof hatte gar kein Recht dazu). Aber die so zusammengefassten Ketzer scheuen sich, von den Klerikern die Sakramente anzunehmen. (6) Das Bild einer mächtigen Gegenkirche ist maßlos über­trieben. Dieses Bild zeichnen die Inquisitoren, um die Bedeutung ihrer Nachforschungen wichtig zu machen (sehr gut herausgearbeitet 111-139). (7) Im Widerstand der Südfranzosen gegen die Zentralisierungspolitik sowohl Ludwigs XIV. wie der Französischen Revolution entstand im 19. Jahrhundert die ‚invented tradition‘, das Phantom der Katharer. Aber das Bild einer Region mit eigener Sprache, eigener Herrschaft, eigener Religion, die von Paris aus gewaltsam einverleibt wurde, nicht zuletzt durch die Ausrufung des Kreuzzugs durch den Papst, ist historisch belegt, nur der Name ist in den Quellen meist Albigenser. Was die Forschung und dieses anschauliche Buch, das Einblick in dieser Forschung gibt, zu Recht beanstandet, dass die Bezeichnung als Katharer in den Quellen selten vorkommt. Nur sind die anderen Bezeichnungen ebenfalls Fremdbezeichnungen von außen, die gleichfalls suggerieren sollen, dass man es mit einer vom Teufel gesteuerten gefährlichen einheitlichen Gegenbewegung von Feinden der Kirche zu tun habe. Die Vielzahl der religiösen Bewegun­gen des 12. Jahrhunderts wird ab dem dritten, vor allem aber dem vierten Laterankonzil gezwungen, sich der römischen Kirche unterzuordnen.[4]  Ob man sie Häretiker oder Ketzer (das deutsche Wort leitet sind wahrscheinlich ab von Katharer) nennt oder Katharer, das alles sind Konstruktionen eines organisierten Feindes, den es so nicht gab. Wie kommt man aus dem Dilemma heraus, letztlich die Sprache der römischen Hardliner in der katholischen Kirche zu wiederholen?

Als Religionswissenschaftler habe ich den metasprachlichen[5] Begriff der ‚religiösen Bewegung‘ gewählt und als Konstruktion durch die Fraktion der römischen Zentralisten gegen die Vielfalt der vita apostolica-Bewegungen des 12. Jahrhunderts und ihrer Beschneidung und Verfolgung durch die neue Institution der Inquisition vorgestellt.[6] Der Satz, die „Ausbreitung von Häresie und die Notwendigkeit ihrer Bekämpfung“ (181) suggeriert, dass es sich um eine notwendige Maßnahme handelte. Das ist die Sprache und Behauptung der siegreichen Strömung und Institution, die sich eine Religionspolizei mit unkontrollierbaren Befugnissen aufbaute (aufgrund eines erfundenen Berichts des Konrad von Marburg.[7] Dieser konnte in seiner Ketzerjagd nur gestoppt werden, indem die bedrohten Laien ihn ermorden ließen. Aber danach wurde die Inquisition professioneller). Robert Ian Moore’s Konzeption The Formation of a persecuting society (1987, ²2007) loben die Autor:innen zu recht (200-202):[8] Hier ist die Erfindung der Kirche erklärt: ‚Die‘ Kirche im Mittelalter sind (selbst wenn wir nur von Latein-Europa sprechen und die Vielzahl der Kirchen im byzantinischen Reich und unter muslimischer Herrschaft außen vor lassen) Bistümer sehr unterschiedlicher Art, auf die Grafen, Fürsten, Könige, Äbte, Adelsgeschlech­ter ihre jüngeren Söhne platzieren wollen oder sonst Einfluss nehmen wollen. Der Bischof von Rom hatte zwar den Anspruch auf eine Vorrangstellung, was ihm aber das ganze Mittelalter selten gelang auch durchzusetzen. Als Papst-Partei versuchte die sog. ‚Kirchen­reform‘ diese Bistümer unter ihre Autorität zu zwingen. Dort wurde das Konzept ‚der‘ Kirche erfunden und zeitweilig durchgesetzt, die festlegt, was und wer rechtgläubig sei; alle anderen sind Ketzer (Häretiker, Katharer, Albigenser) und müssen, das ist der nächste Schritt, vernichtet werden. Als diese ‚Verbrechen‘ kaum mehr aufzuspüren waren, erfindet die Inquisition neue Gegner: die Krypto-Juden in Spanien, die Hexen in Zentraleuropa, die Heiden in den neu ‚entdeckten‘ Amerikas.

Ein sehr schön präsentiertes Buch, das einen in die Quellen einführt, die man sonst selbst wenn man in die Bibliotheken oder Archive käme, nicht zu Gesicht bekommt. Das Buch ist stark in der Dekonstruktion der These von einer mächtigen Gegenkirche der „Katharer“. Auch die ‚Erfindung der Kirche‘ ließe sich aus den vorgestellten Quellen herausarbeiten, ist aber nicht als wechselseitiger, komplementärer Prozess erkannt. So gelingt es den Autor:innen nicht, die religiösen Bewegungen in eine Religionsgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts zu integrieren (was ich in meinem knappen Büchlein versucht habe). Dafür aber einen lebendigen Einblick in die Werkstatt der Geschichtswissenschaft.

 

Bremen/Wellerscheid, Juni 2023                                                               Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jean-Paul Rehr stellt die Handschrift 609 aus der Bibliothèque municipale in Toulouse vor, dessen lateinischen Text er transkribiert hat (http://medieval-inquisition.huma-num.fr ) für seine Dissertati­on und für die er hier S. 183-195 je ein Beispiel vorstellt.

[2] Das Wort Cathari (das zuerst für die Novatianer um 300 verwendet wurde, die alle, die in der Christenverfolgung nicht heldenhaft und todesmutig ihr Christsein bekannt hatten, aus der Kirche ausschließen wollten) wird schon hundert Jahre vorher verwendet in der Polemik um die Gregorianische Kirchenreform, bevor Eckbert von Schönau 1163 das Wort auf die Christen im Rheinland anwendet. S. unabhängig voneinander Auffarth, Ketzer 2005, Jan Bremmer: The Rise and the Fall of the Afterlife. London: Routledge 2002, 67-70.

[3] Nur gilt das mehr oder weniger für alle ‚Häresien‘. Die Konstruktion hat in der wissenschaftlichen Literatur extrem ausgebaut Rottenwöhrer: Katharismus. Band 1 (1982) – 7(2011) in 11 Teilbänden. Bad Honnef: Bock+Herchen. Meine Rezension insbesondere zu Band 3, wo die Balkan-These auf wackelige Füße gestellt wird, Die Katharer als südfranzösische Kirche. Wissenschaft und Weisheit 56(1993), 70-75.

[4] Dazu die Rezension: „Die Anweisungen des Papstes, wie man mit religiösen Bewegungen umzugehen hat, indem man die einzig wahre Religion festlegt: das Konzil von 1215“. Johannes Helmrath; Gerd Melville (Hrsg.): The Fourth Lateran Council. Affalterbach: Didymos 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/20/the-fourth-lateran-council/ (20. November 2020).

[5] Die Wissenschaft verwendet statt der zeitgebundenen Sprache der Quellen (Objektsprache) Begriffe, die die Phänomene erfassen und gleichzeitig hermeneutisch öffnen für den vergleichenden Blick. Statt des abwertenden Begriffs Häretiker (gegen ‚Rechtgläubige‘, was wissenschaftlich gar nicht beurteilt werden kann) muss ein nicht-wertender Begriff für religiöse Gruppen gefunden werden. „Religiöse Bewegung“ ist eine Möglichkeit. Vgl. zur Methode das Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbe­griffe, hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. 5 Bände. Stuttgart: Kohl­hammer 1988-2001. Christoph Auffarth: Allowed and forbidden words: Canon and Censorship in ‚Grundbegriffe’, ‚Critical Terms’, Encyclopaedias. Confessions of a person involved, in: Ernst van den Hemel; Asja Szafraniec (eds.): Words. Religious Language Matters. New York: Fordham UP 2016, 211-222; 546-550.

[6] Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und religiöse Bewegungen [im Mittelalter]. München: Beck Wissen 2005, ³2016. Zum vorausgehenden Streit um die Regularkanoniker s. meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/15/reichersberg-scutum-canonicorum/ (15. September 2022).

[7] Grundlegende Kommentierung von Bernd-Ulrich Hergemöller: Krötenkuß und schwarzer Kater. Ketzerei, Götzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts. Warendorf: Fahlbusch 1996.

[8] Die wichtigen Untersuchungen in den französischen Archiven von Jörg Oberste und Jörg Feuchter (meine Rezension Zeitschrift für Kirchengeschichte 121 (2010), 103-104) sind nur erwähnt, statt ihre Methode und Ergebnisse in dem abschließenden Ausblick der Forschung zu würdigen.

Kommentar zu Nietzsche

Sebastian Kaufmann: Kommentar zu Nietzsches ›Die fröhliche Wissenschaft‹.

(Nietzsche Kommentar, Band 3.2)
2 Bände. Berlin: De Gruyter 2022. [XIX; V, 1882 Seiten.
ISBN 978-3-11-029304-3.
149,95 €

 

Nietzsche probt den Zarathustra: eine fröhliche Wissenschaft

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: In dem ‚ausgewogensten‘ Buch Nietzsches von 1882 werden zentrale Gedanken wie „Gott ist tot“ und „der tolle Mensch“ (Zarathustra) sowie die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ zum ersten Mal eingeführt, die im Zarathustra dann ausgestaltet werden. Kaufmann kommentiert das Buch umfassend.

Ausführlich:

Die Grundlage des Textes des Nietzsche Kommentars ist der von Nietzsche selbst für den Druck besorgte Text. Das ist ja auch das Prinzip dieser Kommentar-Reihe, nicht die Notizen, die Fragmente aus dem Nachlass als ‚Nietzsches eigentliches Werk‘ zu kommentieren, schon gar nicht die für die Rezeption so verhängnisvolle Kompilation von Nietzsches Schwester Elisabeth „Der Wille zur Macht“. Aber interessant sind auch die „Vorstufen“, also Entwürfe und Planänderungen. Die KSA gibt in Band 14 nur eine Auswahl der „Vorstufen“; eine vollständige Dokumentation unternimmt der Wiener Religionswissenschaftler Gerald Hödl.[1]

In einem spannenden Buch hat Philipp Felsch erzählt, wie die beiden Italiener Giorgio Colli und Mazzino Montinari nach der Katastrophe des Nationalsozialismus – für den Nietzsche ja gerade als Kronzeuge galt – sich die Lebensaufgabe stellten, den Missbrauch zu korrigie­ren durch eine Edition, die dank des De Gruyter Verlages als preiswerte Taschenbuchaus­gabe an die Stelle der älteren Editionen tritt, vor allem der Ausgaben des Nietzsche-Archivs direkt nach dem Tod des Philosophen und der im Kröner Verlag eschienenen. Darunter das berüchtigte Buch „Der Wille zur Macht“, das seine Schwester aus Fragmenten des psychisch kranken Buders und eigenen Einfügungen (also Fälschungen) zusammenstellte, angeblich Nietzsches Hauptwerk (dazu die frühere Rezension in dieser Zeitschrift).[2] Die Ausgabe von Colli/ Montinari bildet nun die verlässliche Grundlage jeder intensiveren Beschäftigung mit Nietzsche.[3] Während die (west-) deutsche Nietzsche-Forschung den handschriftlichen Nachlass Nietzsches in Moskauer Archiven wähnte (und tatsächlich war alles schon zum Abtransport vorbereitet, blieb dann aber in Weimar im Goethe- und Schiller-Archiv), konnte dank der Verbindungen der italienischen kommunistischen Partei mit der SED der jüngere der beiden Forscher immer wieder längere Zeit an den Handschriften forschen und so die Edition die kritische Gesamtausgabe erarbeiten wie ebenso die Briefedition. Als Arbeits­instrument ist die KSA Kritische Studienausgabe (1980, ²1988) der Referenztext, auch für den Kommentar.[4]

Sebastian Kaufmann[5] unternimmt nun im Rahmen des Nietzsche Kommentars die Kom­mentierung zu dem Werk Nietzsches, das Giorgio Colli sein „zentrales“ nennt, nicht nur weil es unter den Büchern Nietzsches in der Mitte steht, „sondern auch in dem subtileren (Sinne), dass es sich wie ein magischer Augenblick der Ausgewogenheit in seine Schriften einfügt, als seine einzige Erfahrung völliger ‚Gesundheit‘. [ohne den sonst üblichen] Fanatismus – genauer gesagt, der unwiderstehliche Zwang, persönliche Standpunkte ins Maßlose zu steigern, von den Sternen geholte Gedanken als Mordwaffen zu gebrauchen – ein Zeichen von Krankheit.“[6] Nietzsche nennt sie Die Fröhliche Wissenschaft, weil er das „Unerwartetste in Dankbarkeit“ erfahren hat, die „Genesung“ (Vorwort zu FW² KSA 345, 14f), warnt aber gleichzeitig die Lesenden vor: incipit parodia.[7] Diese Aussage – statt des sprichwörtlichen incipit tragoedia – wurde von vielen Nietzsche-Interpreten so gedeutet, dass die eigentliche Tragödie hier schon vorausgewiesen sei, dass nämlich die Fröhliche Wissen­schaft nur die Vorbereitung des Zarathustra sei (KSA 3, 571 – SK 56-73).  Wie in der Reihe vorgesehen, gibt SK zunächst einen Überblickskommentar 3-73, dann den Stellenkommentar zu den ersten drei Büchern (im ersten Teilband) und dem vierten Buch Sanctus Januarius wie dem fünften Buch Wir Furchtlosen. Auf 130 Seiten ist das Literaturverzeichnis, dann auf 60 Seiten die ausführlichen, sehr wertvollen Sach- und Begriffsregister wie das Personen­register. Nur muss ich wieder einwenden, dass Hunderte von Belegen, undifferenziert für Kunst oder Natur oder Moral u.v.m., für Goethe, Kant oder Köselitz (seinen Lektor, der sich Peter Gast nennen ließ), das Suchen nach einer wichtigen Stelle nicht gerade leicht machen.

SK erläutert im Überblickskommentar die Entstehungsgeschichte des Buches, das Nietzsche nach dem Nachtrag (Ende 1979) zu Menschliches, Allzumenschliches[8] zunächst als Kapitel 6-8 der Morgenröthe[9] bis Herbst 1881 beginnt, dann aber eine Schreibpause braucht, um für den „elementaren […] Gedanken, der in der That ‚Jahrtausende‘ braucht, um etwas zu werden“ (gemeint ist die „ewige Wiederkehr des Gleichen“, SK 3f).[10] Doch kann er bald weiter­schreiben, nämlich das dann als Buch 4 in FW integrierte Kapitel Sanctus Januarius. Das fünfte Buch erscheint erst mit der zweiten Auflage 1887 nach Zarathustra[11] und Jenseits von Gut und Böse.[12] Als er sich entschieden hat, ein eigenes Buch daraus zu machen, erscheint die Fröhliche Wissenschaft im August 1882. Er findet trotz miserabler Verkaufszahlen aller seiner Bücher einen neuen Verleger, Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (S. 9). – Nietzsche verwendet seine Quellen nicht aus seiner Privatbibliothek, die er wegen seiner ständigen Reisen seiner Gesundheit willen nicht benutzen kann.[13] So kommen Metaphern, Begriffe, Beispiele, Gleich­nisse anderer ohne Nachweise vor. Viele Ideen, die Nietzsche für sich beansprucht, hat er ja aus Paul Reé.[14] „Er ist trotzdem alles andere als ein plumper Plagiator“ (SK 15), denn er deutet um und nutzt kreativ die Ideen anderer: Immer noch Schopenhauer, aber nicht mehr Richard Wagner, dazu wird Ralph Waldo Emerson zum Ideengeber. Nietzsche, der Alter­tumswissenschaftler, verfügt über weitreichende Kenntnisse antiker Literatur, lehnt aber „den Schatten Gottes“ ab, das Grundübel der Religion: die Metaphysik (Platons und des Christentums). Stattdessen beruft er sich auf die Vor-Sokratiker.[15] Vielfach aber kennt er sie aus der antiken Philosophiegeschichte des Diogenes Laërtios. Was er über den Buddhismus weiß, gleichfalls metaphysik-frei, schöpft er aus Schopenhauer, aus Oldenberg 1881 und Koeppen 1857-59. Die Konsequenzen aus dem Abscheu gegen jede Metaphysik sind zwar schon formuliert mit „Gott ist todt“ (FW 467,5 = SK 41. 100) und auch schon die Figur des letzten/tollen Menschen (FW 480,22-25 – SK 845-862) zeigt, wie Nietzsche länger schon die Anekdote durcharbeitete, aber noch nicht mit der Wucht, wie im dann folgenden Werk, dem Zarathustra, wo dieser der ‚tolle Mensch‘ ist, der den Tod Gottes verkündet. Ist mit der Anekdote (die bei der antiken Quelle Diogenes Laertios (6.2) heißt: „Ich suche einen Menschen“) gemeint, dass Nietzsche ein leidenschaftlicher Gottsucher war (Heidegger 1943) oder ein offenes philosophisches Gedankenexperiment ist, für das SK eintritt (847)?

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!!‘“ (FW 480, 22-25 SK 845-862). Die Anekdote von Diogenes lässt den Zyniker erkennen: Bedürfnislos wie ein Hund (Griechisch kyón, daher nennen sich seine Anhänger Kyniker, lateinisch Zyniker ausgesprochen) lebt Diogenes in einer Tonne/Hundehütte. Diogenes von Sinope provoziert die Bürger, dass er selbst mit einer Laterne am hellichten Tage Gott nicht findet. Zu Diogenes mit der Laterne im Kontext der neuzeitlichen Rezeption des Kynismus/Zynismus siehe Heinrich Niehues-Pröbsting: Die Kynismus-Rezeption der Moderne: Diogenes in der Aufklärung. In: Marie-Odile Goulet-Cazé;er Richard Goulet (éd.): Le cynisme ancien et ses prolonge­ments. Paris: Presses universitaires 1993, 519-555, hier 552. Auch der hebräische Prophet Zefania wird mit Laterne dargestellt, so v.a. in Reliefs an der Westfassade der Kathedrale von Amiens des 13. Jh.s.[16]

Das vierte Buch, der heilige Januarius (KSA 3, 521-571) wird als das Beste an zusammen­hängender Erzählung und Argumentation gelobt. Nietzsches selbst hielt es für sein „persönlichstes“ Buch, in dem er „sich selbst erklärt“ habe (SK 43).

Nietzsche selbst verstand die FW als Abschluss einer Schaffungsperiode, in der er sich zur Freigeisterei durchgearbeitet habe, gemeinhin als ‚mittlere‘ Werkepoche bezeichnet: Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe, die FW; später charakterisierte Nietzsche aber diese Werke, Morgenröthe und FW, „überdies Einleitungen und Commentare zu meinem Zarathustra“ (Dazu SK 47-55).[17] Der Untertitel der zweiten Auflage La gaya scienza begründet Nietzsche als die Freiheit der Troubadoure in der Provence (aus deren Sprache der Begriff entnommen sei) und die er mit den Gedichten des Prinzen Vogelfrei KSA 3,639-651 – SK 1597-1685) gegenüber der Erstauflage ergänzt als rahmendes Gegenstück zu den Gedichten am Anfang „Scherz, List und Rache. Vorspiel in deutschen Reimen“ (KSA 353-367).

Der gewaltige Kommentar erfüllt die Ziele des Nietzsche Kommentars hervorragend: Nicht nur die Entstehungsgeschichte, der Aufbau, die ‚Wirkungsgeschichte‘ sind dargestellt, sondern vor allem der zeitgenössische Kontext: Welche Quellen hat Nietzsche verarbeitet (die er selten einmal preisgibt, als sei alles in seinem Kopf entstanden), mit wem hat er sich implizit auseinandergesetzt, welche rhetorischen und literarischen Formen hat er verwendet, wie hat er selbst und vor allem wie haben die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sein Werk wahrgenommen? Wie nimmt dieses Werk früher schon formulierte Gedanken auf und wie hat Nietzsche sie später weiter entwickelt? Das ist in der bisherigen Kommentierung allen­falls an wenigen zufälligen Beispielen erklärt worden (wie situativ Nietzsches Werke je auf die Gegenwart der Philosophiehistoriker hin eingeordnet wurden, zeigen die Zitate SKs in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte 56-73), nirgends so systematisch und umfassend. Nietzsche in seiner Zeit und in den Werken, die er selbst so wollte (erarbeitet und für den Druck frei gegeben hat), wird nun plastisch kontextualisiert. Das Bild, das Aschheim in seinem großartigen Buch zum Nietzsches-Kult für den Umschlag gewählt hat,[18] Nietzsche nackt auf einem Felsen in der Sonne, unter ihm ein Nebelmeer, wird hier entzaubert: Mit seinen Provokationen und gewaltigen, ja gewaltsamen Gedanken ist nicht allein; er ist nicht „unzeitgemäß“, vieles ist vor und gleichzeitig mit ihm gedacht und ausgesprochen worden. Das ist der Gewinn des Nietzsche Kommentars, der hier meisterhaft fortgesetzt wird.

 

Bremen/Wellerscheid, Mai 2023                                                                Christoph Auffarth
Religionswissenschat
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Hans Gerald Hödl: Nachbericht zu Die Fröhliche Wissenschaft (KGW v 4) – angekündigt S. viii, mit Kritik und Korrekturen an der KSA in dieser Beziehung. Die entsprechenden Fragen sind im Kommentar bereits berücksichtigt.

[2] Zum „Willen zur Macht“ s. meine Besprechung: Nietzsches Kritik der bürgerlichen Moral „Jenseits von Gut und Böse“ und „Der Wille zur Macht“: Der neue Nietzsche-Kommentar (2). In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 26(2018), 381-385.  Zu den ersten drei Bänden: Nietzsches Religionskritik und Religionsproduktion: der neue „Nietzsche Kommentar“. Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Band 1/1; 6/1; 6/2. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 21(2013), 273-279. [Im Druck ist die gemeinsame Überschrift weggefallen]. Material zu den verschiedenen Nietzsche-Ausgaben findet sich im Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Nietzsche-Ausgabe (28.5.2023).

[3] Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. München: Beck 2022. Der Titel spielt wohl an auf ‚Der Spion, der aus der Kälte kam‘, einem Roman von John le Carré 1963 über die Geheimdienste im ‚Kalten Krieg‘.

[4] Der Nietzsche Kommentar (NK) zitiert im Stellenkommentar jeweils die Seite und Zeile der KSA, für die Fröhliche Wissenschaft (FW) also Band 3, 343-651. Zitieren kann man auch nach den fortlaufenden Nummern, die Nietzsche zu den Aphorismen und zu den längeren Texten eingefügt hat.

[5] Der Germanist Sebastian Kaufmann lehrt und arbeitet an der Universität Freiburg. Im Nietzsche Kommentar hat er im Band 3.1 (2015) den Gedichtzyklus Die Idyllen von Messina kommentiert. Informationen zu ihm Prof. Dr. Sebastian Kaufmann – Startseite — Neuere Deutsche Literatur (uni-freiburg.de) Zu seinen Publikationen ‪Sebastian Kaufmann – ‪Google Scholar. Im Folgenden kürze ich seinen Namen mit den Initialen SK ab. Mit SK bezeichne ich auch Verweise auf den vorliegenden Kommentar NK Band 3.2. Da die zwei Bände durchgehend paginiert sind, ist die Bandangabe entbehrlich.

[6] Giorgio Colli in Nachwort KSA 3, 660.

[7] KSA 346, 31.

[8] Der Kommentar dazu ist als NK Band 2.2 angekündigt für 2024, verfasst von Katharina Grätz.

[9] Der Kommentar dazu ist als NK Band 3.1 von Jochen Schmidt 2015 erschienen.

[10] Diese zentrale Theorie, dass Nietzsche das antike Denken als ‚zyklisch‘ beschreibt im Gegensatz zum ‚teleologischen‘ Denken des Christentums, hat Mircea Eliade weiter ausgeformt in Le mythe de l’eternel retour: Archètypes et rèpètition. Paris: Gallimard 1949; dt. Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Düsseldorf: Diederichs 1953). Zur Kritik Hubert Cancik: Nietzsches Antike 1995, 107-121 [zuerst 1983]. Ernst A. Schmidt: Kreis und Gerade. Moderne Konstruktionen der griechischen Antike als Gegenbildentwürfe. Heidelberg: Winter 2019.

[11] Der Kommentar dazu als NK Band 4.1 und 4.2 ist für November 2023 angekündigt.

[12] Der Kommentar von Andreas Ursws Sommer erschien 2016 als NK Band 3.1.

[13] Die großartige Chronik in Bildern und Texten von Raymond J. Benders und Stephan Oettermann (München: Hanser; dtv 2000), dokumentiert diese Jahre S. 502-528, darunter die Dreiecksbeziehung Nietzsches mit Lou von Salomé und Paul Reé (s. folgende Anm.12).

[14] Ohne Namensnennung FW 578, siehe SK 1297-1299. Reé schenkte sein Werk Der Ursprung der moralischen Empfindungen 1877, das in mündlichem Austausch mit Nietzsche entstanden war, mit der handschriftlichen Widmung: „Dem Vater dieser Schrift dankbarst deren Mutter“. Reés Buch Die Entstehung des Gewissens 1885 wies Nietzsche aber schroff zurück, weil die Freunde mittlerweile zu Konkurrenten um die Liebe Lou von Salomé geworden waren. Boshafte Verdrehung weist etwa SK 1297. 1303 nach. Die Werke Reés (1849-1901) hat Hubert Treiber neu herausgegeben (Berlin: De Gruyter 2004).

[15] Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Stuttgart: Metzler 1995, 64-80. Die neue Ausgabe von André Laks und Glen Most verwendet statt des üblichen Begriffs jetzt Early Greek Philosophy (9 Bände. Griechisch-englisch in der Loeb Library) Cambridge, MA: Harvard 2016.

[16] Nicht in SKs Kommentar. Das bezieht sich auf Zefanja 1,12f, wo allerdings JHWH selbst „Ich werde Jerusalem mit Lampen/ Leuchten durchsuchen und werde heimsuchen die Männer, die eindicken auf ihren Weinhefen, die im Herzen sagen: Nicht Gutes tut JHWH und nichts Böses!“ Hubert Irsigler; Zefania. (HThKAT) Freiburg: Herder 2002, 33.

[17] Nietzsche selbst in einer Anzeige der FW, zitiert SK 48, wo auch der Begriff erklärt wird als deutsche Wiedergabe des französischen ésprit libre. Nietzsche bezieht ihn nicht sofort auf Religions­kritik, sondern allgemeiner (KSA 2, 189, 12-20): „Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansicht erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister […] werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze […] auf freie Handlungen, welche mit der gebundenen Moral unverein­bar sind, schliessen lassen.“

[18] Steven Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart: Metzler 1996 [The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. University of California 1992]. Das Bild stammt von Alfred Soder 1907 (Abb. 10, S. 214).

Die Schlange war klug

Peter Schäfer: Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen
und die Grundlagen des westlichen Denkens.

München: Beck 2022.
(Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung)
XVI, 447 Seiten. ISBN 978-3-406-79042-3.
34€

 

Nicht die Erbsünde, es war Evas freie Entscheidung.
Sie wurde nicht verführt durch eine diabolische Schlange

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Das westliche Denken war lange bestimmt durch die Behauptung, Menschen sind sündige Wesen von Grund auf: aufgrund der Erbsünde, verursacht durch das erste Menschenpaar. Dass die Urgeschichten auch anders gelesen und anders erzählt werden, zeigt Peter Schäfer insbesondere an jüdischen Leseweisen. Dass Eva zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, mündig wird, sei Gottes Absicht.

Ausführlich

Mit dem Aufruf zur ‚Bewahrung der Schöpfung‘ hat die Aussage von der Schöpfung der Welt durch Gott eine positive Wendung erhalten, die auf die ökologische Krise und drohen­de Katastrophe antwortet. Dabei werden zwei alte, unnütze Kämpfe des Christentums nicht mehr gefochten: der jüngere mit dem Darwinismus, dass die Welt nicht auf die Schöpfertat Gottes zurückgehe, sondern sie entstanden sei in einem autopoietischen Prozess, der nicht von einem Planer gesteuert wurde. Der ältere Kampf aber belastete die Christen über Jahr­hunderte: Dass Gott die Welt gut erschaffen habe, aber durch die Bosheit der Menschen die gute Schöpfung gefallen sei, die Menschheit unter dem Fluch der Sünde stehe. Das abgrund­tief negative Menschenbild, noch dazu das der Verführerin Eva, als die Frau schlechthin, führt zu der Annahme, es sei notwendig, dass Kirche und Staat die Bosheit eindämmen müssten. Dank der Erlösungstat, indem sich Christus selbst opferte, der Sündlose für den sündigen Menschen, wurde aus der Schuld Glück. Die glückliche Schuld, „O felix culpa!“ singt man am Oster-Sonntag in der Kirche und so nennt Peter Schäfer[1] sein Schlusskapitel (327-357).[2] Hier konfrontiert er die christliche Fluchgeschichte, aus der nur die Sakramente der Kirche helfen können: Taufe, Beichte und Buße, das Abendmahl als Teilhabe am Blut und Leib Christi. Am Ende aber seien die Menschen auf die Begnadigung durch Gott angewiesen. Nicht gute Taten, nicht der freie Wille führten zum Heil. Dagegen kommt im jüdischen Verständnis der gleichen Geschichte, Adam und Eva im Paradies, etwas ganz anderes heraus: Gott verbietet zwar den Menschen, von zwei Bäumen im Garten zu essen. Der eine ist der Baum des (ewigen) Lebens, der andere ist der Baum der Erkenntnis. „Die Ermunterung der Schlange, von der Frucht des Baumes zu essen, ist nicht die diabolische Verführung einer außer-gött­lichen Gewalt, sondern die kluge Einsicht in Gottes eigentlichen Plan. Daher ist die Schlange in Wirklichkeit Gottes Instrument.“ (329). Die Menschen können zwischen Gut und Böse unterscheiden und haben den freien Willen, das eine zu tun, das andere zu lassen. Auf dem Weg zu dieser doppelten Rezeptionsgeschichte nimmt sich PS vor, die Mythen von der Schöpfung in den verschiedenen Kulturen der Antike vorzustellen und vergleichend zu interpretieren. Er beginnt mit den zwei Urgeschichten der hebräischen Bibel (27-82): die zwei Schöpfungserzählungen kann der Hebräisch-Könner mit den Etymologien der Originalsprache erläutern.[3] Die ‚Rückkehr der altorientalischen Mythen‘,[4] zumal in der Sintflutgeschichte, führen zur Frage im nächsten Kapitel nach den ‚Grausamen und gleich­gültigen Göttern in den altorientalischen Epen‘ (83-119). Gilgamesch würde gerne ewig leben, aber auf der Suche nach dem Wunderkraut erfährt er sein Menschsein, zu dem der Tod gehört. Mit Kapitel 3 bis 6 wagt PS den Vergleich mit griechischen und römischen Kon­­zeptionen von Weltentstehung, Menschsein, Tod und Untergang. Platons Dialog Timaios, ein spätes Werk, erklärt die Welt als Werk eines Handwerkers (Demiourgós δημιουργός), der die materielle Welt aus dem Chaos zum Kosmos formt in Entsprechung zu der Welt der Ideen. Das kann Platon aber nicht, wie er sich sonst eigentlich vornimmt, als Deduktion zur ‚wahren‘ Welt, sondern er braucht dafür die mythische Sprache. Das bewerten einige so: „Der Timaios ist weder wider­spruchsfrei noch kohärent“ (Rainer Enskat, S. 134; das ganze Kapitel 121-160).[5] Aristoteles, Platons Schüler und Konkurrent, verzichtet ganz auf Gleichnisse und mythische Bilder. Die Welt des Lebens ist Bewegung, die von einer anderen Bewe­gung angestoßen wird, Ursache und Wirkung. Denkt man das bis an den Anfang, dann muss es einen ersten Beweger gegeben haben, der nicht von einem anderen angestoßen wurde (Metaphysik, 10. Buch): Aristoteles‘ Kosmos ist entgöttlicht (161-175). Mit Aristoteles‘ Denk­figuren kann der christliche Professor des 13. Jahrhunderts, Thomas von Aquin, und anders der jüdische Denker Maimonides, Gott als den ‚ersten Beweger‘ einsetzen. Mit Philon von Alexandria stellt PS den ‚jüdischen Platon‘ vor (177-215). Die Zweiheit der Schöpfungserzählungen erklärt Philon als die Erschaffung der intelligiblen Welt im ersten (mit dem Menschen in 1,26f), die materielle Welt und den konkreten Menschen im zweiten Bericht, Gen 2-3. Die Materialisten oder Atomisten, von Demokrit über Epikur bis zu dem großartigen Gedicht des Lukrez, denken sich die Welt als Atome, die kleinsten Bausteine, aus denen Gestalten sich formen und wieder vergehen. PS nennt das den „perfekte(n) Gegenentwurf zum biblischen Schöpfungsbericht“ (217-267). Als Abiturient eines altsprachlichen Gymnasiums kann sich PS in die Antike hineindenken, ist offenbar fasziniert von dieser Konzeption und spielt nicht beide ‚Schöpfungsvorstellungen‘ gegeneinander aus. Es geht nicht um Wahrheit und Glaube, sondern Vorstellungen davon, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, indem man Anfang und Ende denkt; bei der Schöpfung dabei war keiner, es sind immer Vorstellungen, die etwas aussagen über die gegenwärtige Existenz. Auch der Urknall ist ein Versuch, die Wirklichkeit in einem Bild zu gestalten. Sich in die rabbinische Denker hineinzudenken ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die PS lesergerecht darbietet (269-326). Eine der Fragen ist, ob Gott bei der Schöpfung auf die Hilfe der Engel zurückgreifen konnte oder das seine Souveränität beeinträchtigt hätte. Sodann: Was war vor der Schöpfung schon vorzubereiten: Der Thron, von dem aus Gott die Schöpfung organisierte, der Name des Messias, der ideale Tempel? Für die Rabbinen ist der hebräische Text der Bibel ausschlaggebend, nicht die griechische Übersetzung, von der Philon ausging. Die Tora erweist sich als ein großer Plan Gottes für die Welt vom Anfang bis in die künftige Welt. Entsprechend diesem ‚Plan‘ war dann auch „die Schlange klug“ im Sinne Gottes (wie der Titel des Buches angibt).

Das Buch entstand gefördert von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Von daher ist der Epilog (359-383) ein spannender Nachschlag. Die Erbsündenlehre wird im Konzil von Trient zum Dogma, eben dem Konzil, das im 16. Jahrhundert die ‚Fehler‘ der protestantischen Reformation zurechtrückt. Die protestantischen Philosophen Kant, Schiller, Fichte bedenken die Paradiesge­schichte. Bei Kant sollte man allerdings nicht nur die frühere Schrift von 1786 zitieren, sondern die auch die späte Religionsschrift (1793), in der Kant das „radikale Böse in der menschlichen Natur […] angeboren“ erklärt (AA VI, 21-37),[6] was Kant den Ruf ein­brachte, er habe eine protestantische Erbsündenlehre geschaffen. Schiller und Fichte zeigen, wie der alte Mythos eine Denkfigur auch der von Aufklärung und Französischer Revolution geprägten Philosophen wurde, sondern erst recht ist das der Ort, um ‚Politische Theologie und Erb­sündenlehre bei Carl Schmitt‘ (1888-1985) zu bedenken, dem ‚konservativen Revolutionär‘. Um für seinen Begriff des Politischen (1927) die grundlegende Unterscheidung von Freund und Feind voraussetzen zu können, behauptet er, „dass alle echten politischen Theorien den Menschen als ‚böse‘ voraussetzen, d.h. negativ bewerten.“ (23) – im Gegensatz zu den ‚libe­ralen‘ Theorien der Aufklärung. „Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt ebenso wie die Unterscheidung von Freund und Feind zu einer Einteilung der Menschen und macht den unterschiedslosen Optimismus des Menschenbegriffs unmöglich. In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede und Harmonie Aller mit Allen: […] die Leugnung der Erbsünde.“ (23f)

Mit der jüdischen Rezeptionsgeschichte der Urgeschichte und den anderen Konzeptionen von der Welt in anderen antiken Kulturen hat Peter Schäfer einiges weniger Bekanntes vorgestellt, und zum Vergleich daneben gesetzt. Dass die ‚Urgeschichte‘ im westlichen Denken über Jahrhunderte hinweg die Menschen zu sündhaften Wesen erklärte, die erlöst werden (Passiv!) müssen und nichts selbst dafür tun können (Aktiv), um zurück ins Paradies zu kommen, erweist sich als eine entmündigende Lesart, die den Mythos von Adam und Eva, von den Menschen, nicht trifft. Ein lesenswertes Buch, das Diskussion auslösen will. Die Doppelbödigkeit des Mythos sollte nicht zu kurz kommen. Menschen sind nicht gut oder böse, sondern kommunikative Wesen, die Rat, Kritik, Lob brauchen, auch mal Widerstand um ihren Weg zu finden. Aber sie sind mündige Wesen. Das will der Autor betonen und an den Erzählungen heraus­arbeiten. Wo, wenn nicht in der Schule, ist der Ort für solche tiefgreifende Fragen?

 

Bremen/Wellerscheid, 21. Mai 2023                                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Prof. Peter Schäfer (*1943) forschte als Professor für Judaistik in Berlin (Freie Universität) und in Princeton. Sein Lebenswerk galt der Edition und Übersetzung des Jerusalemer Talmud u.a. Einige seiner Werke sind auf dieser website besprochen. Zu seiner Person und der Kritik an seiner Zeit als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin 2014-2019, s. die Materialien auf Wikipedia. Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen PS.

[2] Zur Unmöglichkeit der christlichen Lehre vom ‚Selbstopfer‘ Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: V&R 2023, bes. Kapitel 8.

[3] PS stützt sich hier auf den die neuere Forschung repräsentierenden Kommentar von Jan Christian Gertz: Das erste Buch Mose. Die Urgeschichte: Genesis 1-11. Göttingen: V&R 2018. Dass die Hebräische Bibel die Schöpfung auch noch durchaus verschieden darstellt, kommt hier nicht zum Ausdruck. Dazu erscheint gerade, sein Lebenswerk (nach der Anthropologie 2019 nun [22.Mai 2023]) zusammen­fassend Bernd Janowski: Biblischer Schöpfungsglaube. Religionsgeschichte – Theologie – Ethik. Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XVIII, 775 Seiten. Mit drei Anhängen und zahlreichen Abbildungen.

[4] PS kommt auch auf den Babel-Bibel-Streit zu sprechen (69-81), dem Vorwurf, das ‚Alte Testament‘ habe alles nur aus dem Alten Orient ‚abgeschrieben‘ und sei damit wertlos, vgl. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2023/01/16/babel-bibel-streit/ (16. Januar 2023).

[5] Vielschichtiger erklärt Thomas Alexander Szlezák den Dialog in seinem Buch Platon. Meisterdenker der Antike. München: Beck 2021, 421-461, bes. 451-458: Wer ist der Demiurgos?

[6] Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793. Die AA Akademie-Ausgabe ist digital greif­bar: http://www.korpora.org/Kant/verzeichnisse-gesamt.html (feste URL). Kants Erbsünden-Kon­zeption sind in den Stichwörtern „Hang zum Bösen“ (Claus-Dieter Osthövener S. 1000f), „Erbschuld und Erbsünde“ und „Böses, radikales“ (Thomas Wyrwich S. 519 und 305-310) in Marcus Willaschek; Georg Mohr [u.a.] (Hrsg.): Kant-Lexikon. Berlin: De Gruyter 2015) ausgearbeitet. Der Vor­wurf einer neuen Erbsündenlehre im Brief Goethes an Johann Gottfried Herder, zitiert dort S. 309.

Rechtsgeschichte Neues Testament

Rechtsgeschichtlicher Kommentar zum Neuen Testament.

Band 1; Einleitung, Arbeitsmittel und Voraussetzungen.

Herausgegeben von Folker Siegert in Verbindung mit Johann Maier und Frieder Lötzsch.
Berlin: De Gruyter, [2023]. XIII, 720 Seiten.
ISBN 978-3-11-065606-0.
149,95 €

„Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist!“
Notwendige Rechtskenntnisse für das Verständnis des Neuen Testaments

 

Eine Rezension von Christoph Auffarth

In der konfliktreichen Beziehung der Iudaei als Bewohner der von den Römern eroberten und mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand behaupteten Provinz Iudaea wie den Iudaei, die in der Diaspora lebten,[1] war die Anwendung von militärischer Gewalt ein Mittel der Herr­schaftsdurchsetzung, die aber begrenzt wurde durch das römische Recht. Dem berühmten Statthalter in Germanien, Quintilius Varus, warfen seine Kritiker vor, er habe die Niederlage im Teutoburger Wald herbeigeführt, weil er sich zu sehr an das Recht gehalten habe.[2] Neben dem römischen Recht bestand aber weiterhin das jüdische Recht, das für viele Fälle, die in den neutestamentlichen Texten erzählt werden, Gültigkeit hat, wo es nicht um die Belange der Durchsetzung der römischen Herrschaft geht. Die Texte des Neuen ‚Testaments‘ (das schon ein gewichtiger, aber selten geklärter Rechtsbegriff, S. 4)[3] sind in unterschiedlichen Phasen der Fremdherrschaft der Römer entstanden, die meisten im Umbruch nach der Zerstörung des jüdisch kontrollierten Tempelstaates, der Schleifung des Tempels und der Anlage Jerusalems als Colonia Aelia Capitolina nach dem Bar Kochba-Aufstand, also nach 135 n.Chr. Der Textbestand der Evangelien, wie sie heute im NT stehen, ist nicht vor dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts redigiert; mündliche und schriftliche Vorstufen sind nicht sicher zu unterscheiden (87-97).[4] Das heißt, die Chronologie und Scheidung verschiedener Schichten der Quellen (u.a. Johannes-Evangelium Joh A, Joh B, Joh C) ist die Voraussetzung, die in der ‚Einleitungswissenschaft‘ geklärt wird: wann und wo? (S. 85-122).

Das Werk beruht auf der Zusammenarbeit der Kompetenzen mehrerer und in Methoden und Perspektiven verschiedener Wissenschaften, die für ein historisches Verständnis der Bibeltexte notwendig sind, bevor sie theologisch-moralisch ausgelegt werden. Für das Recht in der Hebräischen Bibel gibt es eine breite Diskussion, die sich als innovativ erwiesen hat.[5] Für das Neue Testament fehlt jedoch weitgehend eine solche Diskussion. Die Forschungsge­schichte („Vorarbeiten“ S. 99-118) zeigt Ansätze, aber keine grundlegende Bearbeitung in der neutestamentlichen Wissenschaft. Dabei gab es im Barock eine bibelkundige lutherische Jurisprudenz (Hugo Grotius 1641, Samuel Pufendorf 1672, Christian Wolff 1740, S. 77-84), die die notwendige Gesetzgebung nicht aus sakralem (konfessionellem) Recht ableiteten, sondern aus dem Naturrecht. – Benötigt werden für einen solchen Kommentar die Kompetenzen der Judaistik, der Klassischen Philologie, der Papyrologie und Epigraphik, Rechtsgeschichte, d.h. Geschichtswissenschaft und Jura (99-118). Die Bemerkungen zu Forschungen anderer sind teils harsch, aber berechtigt[6] und rehabilitieren ältere.[7] Es geht ja um vier Rechtssysteme in vier Sprachen (deren Begriffe durchgehend in Umschrift und deutscher Übersetzung angegeben sind, vgl. S. 13f): (1) das altorientalische Gebrauchsrecht, das vom Akkadischen zum Aramäischen übergeht. (2) die Rechtsterminologie der Tora auf Hebräisch, die die Rabbinen wieder aufgreifen. (3) Das griechische Recht der hellenistischen Herrscher. (4) Das römische Recht auf Latein. Wie FS feststellt, erwies sich die Geltung des römischen Rechts für die Situationen, die im NT dargestellt sind, als bedeutsamer als bisher angenommen (S. 9). Zu jedem dieser Rechtssysteme bedarf es einer Einführung. Diese gibt Johann Maier für das jüdische Recht (Verfassungsgeschichte, Einführung und Übersicht über die Quellen; 125-234), Martin Schermaier gibt eine Übersicht über die römischen Rechts­quellen und FS stellt ein Glossar dazu zusammen (239-267).

Der Jurist erschließt wichtige Begriffe, aber doch eher für Erstsemester, weniger für Außenstehende. Die römische Karriere der herrschenden Oberschicht als ‚Ehrenämter‘ zu bezeichnen (247) trifft zwar formal das lateinische cursus honorum, aber bei weitem nicht, was wir unter Ehrenamt verstehen. Besser ist die Erklärung, was römisch ein ‚Beamter‘ ist (249). Wichtiger aber wäre, wie in Europa das ‚römische Recht‘ übernommen wurde und erst da, seit dem 11. Jahrhundert, auch systematisiert wurde vom (‚kasuistischen‘) Recht einzelner und analoger Fälle zu einem systematischen Rechtsbuch, das von leitenden Prinzipien die darunter zu subsumierenden abgeleiteten Fälle bestimmt. Und im Unterschied dazu die Verfahren im angelsächsischen (und im islamischen) Bereich, die auf Streit­schlichtung ausgerichtet sind und den Berufsrichter als Berater kennen, nicht als Entscheider. Der anschließende Abschnitt von FS ist in seiner großen Perspektive bis zum heutigen Recht nicht nur für ‚theologische Leser‘ besser erklärend.[8] Man versteht, warum FS keinen Sammelband herausgeben wollte, sondern das meiste selbst konzis erklärt.

Der Teil C. behandelt übergreifende Themen: (1) Boaz Cohen: Buchstabe und Geist in jüdischem und römischem Recht 271-286. Die Rabbinen plädieren in der Mehrheit dafür, der Tora nicht nach dem Buchstaben zu folgen, sondern nach dem Sinn. Johann Maier: Schwören im Recht des antiken Judentum 287-309. Folkert Siegert: Bibel und Recht. Ein Durchgang vom Dekalog bis zur Gegenwart 341-465 (also 125 Seiten!).

In den „Exkursen“ 467-626 behandelt FS (auf weiteren 160 Seiten) wichtige Themen, die für die Kapitel zu weit geführt hätten, aber für sich eine Erklärung brauchen. Gleich das erste ist ein hoch umstrittenes Problem, der berühmte Gegensatz von „Gesetz und Evangelium. Der lutherische Ansatz“ 467-477. Zum Exkurs 5 Eschatologie s.u. An vielen Stellen würde man gerne in die Diskussion eintreten,[9] streitlustig und angreifbar wagt FS starke Sätze, aber man liest es allemal erhellt.

Das Gesamtwerk ist angelegt auf sieben Bände. Auf den hier besprochenden Einleitungs­band folgen die Bände 2-6 mit den rechtsgeschichtlichen Kommentaren (das Verzeichnis S. 689-697) zu den Perikopen: Band 2 in der Logienquelle und dem Markusevangelium, Band 3 Das Sondergut des Lukasevangeliums, (das älter datiert wird als) das Sondergut des Matthäusevangeliums, darunter „Der Prozess Jesu“, bearbeitet von Martin Pendnitz. Band 4 enthält das Johannesevangelium (nach der Unterscheidung der Schichten von Siegert) und die Apostelgeschichte. Dabei wird der Prozess des Paulus von Hans Kefner bearbeitet (eigentlich sind das drei Prozesse; die zwei versuchten in Korinth und Ephesus sind nicht weniger spannend als die Appellation an den Kaiser).[10] Band 5 enthält die Kommentare zum Hebräerbrief und zum Römerbrief. Band 6 bearbeitet die übrigen Episteln und die Apo­kalypse. Von Band 7 ist vorab 2019 schon ein Teil veröffentlicht. In ihm hat der Johann Maier[11] (1933 – 2019) schon ein Glossar zusammengestellt für die Begriffe des jüdischen Rechts.[12] Die Liste der Rechtsthemen ist ebenfalls schon in Band 1 aufgelistet mit dem Verweis, unter welcher Perikope sie behandelt sind. Der Verweis ist jeweils durch Raute + Zahl des durchgezählten Perikopenkommentars angegeben (Beispiel: # 70 zum Witwen­recht; das bei Mk 12,40-44 par behandelt wird). Das Eintreten für die praktisch rechtlosen Witwen und Waisen ist auch eigens schon von Ulrich Kellermann (in Band 1, 311-339) bearbeitet.

Der Einleitungsband ist ein sehr ausgreifender Auftakt zum eigentlichen Kommentar. Warum es keinen rechtsgeschichtlichen Kommentar bisher geben konnte, ist hier erklärt: Das hat grundlegende Wurzeln in der Theologie vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts. So wird dieser Einführungsband zu einer, so gar nicht leise formulierten Kritik am Zustand der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum einen war der Gegensatz Gesetz (= Judentum) und Evangelium (das die Prophetische Linie der Hebräischen Bibel fortführe) ein protestantischer Leitsatz. Weiter habe die Vorläufigkeit dieser Welt und ihrer Institutionen keine neuen gesetzlichen Regelungen erfordert angesichts des nahen Weltendes.[13] Zum dritten hat auf dem Höhepunkt der Herabsetzung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich der evangelische Kirchenrechtler Rudolph Sohm die Bedeutung Jesu auf sein Charisma zurückgeführt, während schon im NT in den ‚Katholischen Briefen‘ sich Gesetzlichkeit breit mache, der ‚Frühkatholizismus‘. Max Weber hat das Konzept Charisma übernommen, aber die Veralltäglichung des Charisma zum Amtscharisma erweitert.[14] Diese zur evangelischen DNA zählenden Grundsätze haben die Erkenntnis der Bedeutung des Rechts für das NT verhindert. Folker Siegert setzt dagegen: Erst einmal seien die historischen Bedingungen für Aussagen des NT (nicht gleich: Jesu) zu klären, bevor man sie auslegt auf ‚mich‘ (existenzia­listisch-individualistisch). Sehr viele und oft behandelte Aussagen im NT verlangen nach einer rechtsgeschichtlichen Klärung. Hoffentlich kann FS und sein Team den langen Atem aufbringen, um dieses wirklich grundlegende Kommentarwerk zu vollenden. Das verspricht, ein Grundlagenwerk der neutestamentlichen Wissenschaft zu werden. Der erste Band ist ein aufregender Auftakt. Und darüber hinaus ein Kommentar zur gegenwärtigen Theologie, jedem Interessierten und Beteiligten zur Lektüre wärmstens empfohlen.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2023                                                              Christoph Auffarth

Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Hier wird gleich die Notwendigkeit der juristischen Klarheit deutlich. Wenn wir von „Juden“ in der Antike reden, meinen wir die religiöse Definition (im Unterschied zu den Christen). In römischer, d.h. juristischer Definition meint Iudaei aber zunächst nur die Einwohner der römischen Provinz Iudaea. Darauf hat grundlegend Benedikt Eckhardt hingewiesen: Rom und die Juden – ein Kategorienfehler? Zur römischen Sicht auf die Iudaei in später Republik und frühem Prinzipat. In: Görge K. Hasselhoff und Meret Strohmann (Hrsg.): „Religio licita“? Rom und die Juden. Berlin: De Gruyter 2017, 13-54.

[2] Velleius Paterculus, Historia Romana 2, 117,3f. Qui gladiis domari non poterant, posse iure mulceri. Quo proposito mediam ingressus Germaniam velut inter viros pacis gaudentes dulcedine iurisdictionibus agendoque pro tribunali ordine trahebat aestiva. „Die Germanen, die man durch Schwerter nicht hatte zähmen können, könne man durch das Recht lammfromm machen. Mit diesem Vorsatz begab er sich ins Innere Germaniens, und als habe er es mit Männern zu tun, die die Annehmlichkeiten des Friedens genossen, brachte er die Zeit des Sommerfeldzuges damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Prozessformalitäten abzuhandeln.“

[3] Das gehört zu # 301 bei 1Kor 11,25 (vgl. S. 710 Rechtsthema: Erbrecht, Testamente).

[4] Das hat Folker Siegert für die jüdisch-hellenistische Literatur in seiner Einleitung Berlin: De Gruyter 2016 mit bemerkenswerter Klarheit ausgearbeitet.

[5] Etwa durch eine eigene Zeitschrift für altorientalische und biblische Rechtsgeschichte ab Band 1(1995).

[6] Beispiel 86 Anm. 4 zu „Bultmanns Vermutung ‚gnostischer Offenbarungsredner‘ im Joh. war ein allzu kühner Anachronismus, den ein Altphilologe vom Fach sich nicht geleistet hätte.“ Bultmann war ein ausgezeichneter Griechischkenner, aber er verglich gerne die Antigone mit dem NT, also vierhun­dert und mehr Jahre auseinanderliegende Texte. Ein Fehler, der auch für den ‚Kittel‘, das Theologische Wörterbuch des NT, typisch ist; Deissmann und Bauer hatten da schon vorgemacht, dass das zeitge­nössische Koine-Griechisch, die gesprochene Sprache die Vergleichsebene sein muss.

[7] So etwa den wegen seiner Gegnerschaft zum Barmer Bekenntnis viel gescholtenen Werner Elert mit seiner Morphologie des Luthertums 1931-1932 (eine knappe Charakteristik 467 Anm. 3). FJ hebt auch die Leistung von Adolf Deissmann in seinen frühen Arbeiten, bes. Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (1908, 41923) hervor (108). Vgl. Auffarth: Ein Gesamtbild der antiken Kultur. Adolf Erman und das Berliner Modell einer Kulturwissenschaft der Antike um die Jahrhundertwende 1900. In: Bernd U. Schipper (Hrsg.): Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854-1927) in seiner Zeit. Berlin; New York 2006, 396-433.

[8] Genauso umsichtig sind die theologischen und judaistischen Begriffe erklärt, etwa ‚Perikope‘ (265). Zum ‚Tempel‘ (263) wäre die römische Unverschämtheit des fiscus Iudaicus noch zu erwähnen: Die Tempelsteuer wurde weiter eingezogen, aber nicht zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels verwendet, sondern für die Renovierung des Tempels auf dem Capitol in Rom.

[9] So lese ich den Exkurs Die Verführung des Totalitarismus (601-606) parallel zur Biographie von Jacob Taubes (Rezension auf dieser web-Seite) mit Staunen, was FS alles kennt, aber auch vielen Einwänden.

[10] S. Auffarth: „Groß ist die Artemis von Ephesos!“ Der Artemiskult im kaiserzeitlichen Ephesos. In: Tobias Georges (Hrsg.): Ephesos. Die antike Metropole im Spannungsfeld von Religion und Bildung (COMES Civitatum Orbis MEditerranei Studia 2) Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 77-100.

[11] Der Band trägt die Widmung an Johann Maier (17. Mai 1933 – 16. März 2019 [das Geburtsjahr ist falsch angegeben]. Maier war promoviert in evangelischer Theologie (Das altisraelitische Ladeheiligtum. (BZAW 93) Berlin: Töpelmann 1965) und Dr. phil. Habilitationsschrift Vom Kultus zur Gnosis: Studien zur Vor- und Frühgeschichte der „jüdischen Gnosis“. Bundeslade, Gottesthron und Märkābāh. Salzburg: Müller 1964. Er war dreißig Jahre Professor für Judaistik an dem 1966 gerade erst gegründeten Institut für Judaistik an der Universität Köln. Für den vorliegenden Kommentar war er maßgeblich beteiligt an den Vorarbeiten seit 2006 und schrieb gewichtige Teile des ersten Bandes sowie das Glossar der Begriffe des jüdischen Rechts (folgende Anmerkung), das im Band 7 des Kommentars integriert wird.

[12] Band 7 (Teil 1) vorab als Broschur Johann Maier: Hebräisch-aramäisches Glossar zum jüdischen Recht in der Antike. Mit einer Einführung in das jüdische Recht der Antike und einem Quellenüberblick. Berlin: De Gruyter 2019.

[13] Als Einstieg in das Buch empfohlen sei der aufregende Einsichten eröffnende Exkurs 5 „Theologie ist Eschatologie“ 503-509, ein Ausspruch Karl Barths, der aber eine Linie der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts charakterisiert. Man versteht auch, warum die evangelischen Kirchen gegen den Unrechtsstaat der Nationalsozialisten und die Aufhebung der Menschenrechte nicht aufstanden.

[14] Mit Berufung auf Paulus (1.Kor 12,7) Rudolph Sohm (1841-1917): Kirchenrecht, Band 1, 1892. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 4 Herrschaft. (Max Weber Studienausgabe Band 22-4, 169-185; 194-201; Nachwort 247-250).  WuG. Soziologie (MWS, Band 23, 173-182). Martin Riesebrodt: Charisma. In: Hans G. Kippenberg; MR (Hrsg.): Max Webers ‚Religionssystematik‘. Tübingen: Mohr Siebeck 2001,151-166

Jacob Taubes

Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes.

Berlin: Jüdischer Verlag 2022
[amerikanische Ausgabe: Professor of apocalypse: the many lives of Jacob Taubes. Princeton: University Press 2022].
ISBN 978-3-633-54321-2 – 927 Seiten.
58 €

 

Nach der Apokalypse:
Ein Intellektueller, Störenfried, Anreger, Aufreger:
Jacob Taubes 1923-1987


Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Eine detaillierte Biographie des in der Avantgarde der „Studentenrevolution von 1968“ agierenden Professors, die zugleich eine Ideengeschichte der Bonner Republik und der USA darstellt in der Perspektive eines mit seinem Judentum ringenden Intellektuellen.

Ausführlich:

Jacob Taubes (zu dessen hundertsten Geburtstag diese Biographie erscheint; Taubes wurde 25. Februar 1923 in Wien geboren; gestorben ist er am 21. März 1987 in Berlin) war ein Intellektueller, der alles und jede*n kannte in der universitären Welt und im Judentum. Als er zum Professor an die Freie Universität in Berlin (FU) berufen wurde, war er in seinem Element: Alles in Frage stellen, das Chaos, aus dem eine neue Welt unter Schmerzen geboren würde,[1] mittendrin und plötzlich verreist. Für viele seiner Gesprächspartner*innen, wohl auch für sich selbst, ein Mephisto, dämonisch, ja satanisch.[2]

Die Biographie zu schreiben, verlangt einerseits eine tiefe Vertrautheit mit der jüdischen Lebenswelt, stammte JT doch aus einer über Generationen gelebten Rabbinerfamilie und war selbst intensiv ausgebildeter Rabbiner. Andrerseits fehlt das, was Professoren sonst aus­zeichnet: die Bücher, nur eines und wenige Aufsätze. So bilden die Quellen für die Biogra­phie eines so umstrittenen Aufregers die mittlerweile mustergültig edierten Briefwechsel mit anderen großen Akteur*innen der aufregenden Geistesgeschichte der sechziger bis achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts,[3] darunter mit dem „Kronjuristen des Nationalsozialismus“ Carl Schmitt, mit dem Verleger (Suhrkamp; Syndikat) Axel Rütters, mit dem Philosophen der Moderne, Hans Blumenberg.[4] Überhaupt ist Taubes wissenschaftliches Werk erst nach seinem Tod sichtbar geworden (725-758), denn als er starb, waren nur das eine Buch und wenige Aufsätze erschienen sowie die drei Bände zur Politischen Theologie, für die Taubes die Idee hatte, aber nicht die Ausdauer, sie herauszugeben.[5] Außerdem hat JM viele (nach seinen Angaben mehr als hundert) Interviews mit Menschen geführt, die ihn kannten. So entstand über viele Jahre eine Biographie (765-771), die den begeisternden und den vielen schwierigen Seiten Taubes‘ minutiös nachgeht.

Taubes muss man wohl erlebt haben, ich habe nur den Widerhall des Berliner Tumultes in den drei Religionswissenschaften mitbekommen. Im Hintergrund stehen ein paar Gespräche zu deren Erinnerungen, die Taubes gut kannten in seiner Zeit an der Freien Universität in Berlin, Dr. Brigitte Luchesi, mit Prof. Hans Kippenberg, mit Prof. Richard Faber.[6]

Als 23-Jähriger veröffentlicht JT seine Dissertation, die sein einziges Buch werden sollte. Mit „Abendländische Eschatologie“ nimmt er sich für eine wissenschaftliche Erstlingsarbeit ein gewaltiges Thema vor. Für weite Strecken des notwendigerweise holzschnittartigen Längs­schnittes der Europäischen Religionsgeschichte ist er von anderen abhängig: Plagiatsjäger werden schnell fündig: Der Jesuit Hans Urs von Balthasar, den JT öfter in Basel besuchte, hatte seine Zürcher Dissertation zur Eschatologie in ein dreibändiges Werk ausgearbeitet mit dem Schwerpunkt in der Literatur des 19. Jahrhunderts.[7] Karl Löwith veröffentlichte im Jahr davor (wegen seiner jüdischen Verwandtschaft aus dem Exil heraus) eine Abrechnung mit der Geschichtsphilosophie, die in der Weltanschauung des Dritten Reiches ihr katastrophales Ziel erreichte.[8] Im Hintergrund stand Nietzsches Diagnose der christlichen Heilsgeschichte, die auf ein Telos zueilt, nämlich die Vernichtung dieser Welt. Dem stellte Nietzsche seine Antike als Gegenentwurf entgegen, die ein zyklisches Weltbild, die ewige Wiederkehr des Gleichen, sich vorgestellt habe.[9] Schon in dieser Phase seines Lebens zwischen dem Abschied vom Marxismus, der gelebten Frömmigkeit ritueller Genauigkeit und der Suche nach Unabhängigkeit von elterlicher Fürsorge, nach „Freiheit“, wird ihm Paulus zum Vorbild, der fromme Antinomist (131-133; 157f): Ein Rabbiner, der selbst alle Rituale einhält, erlaubt aber anderen ein Leben ohne religiöse Vorschriften (Römer 1-3).[10] Die besten Aussichten für eine universitäre Karriere versprachen die jüdischen Institutionen in den USA. „Jacob erplauderte sich quasi eine Stelle in den USA – und dies traf auf nahezu alle weiteren Anstellungen in seinem Leben zu.“ (136) Auf dem Schiff nach New York schrieb er einen Brief an Gershom Scholem, der seit 1923 in Jerusalem lebte und lehrte (136-144). In New York verbrachte JT die nächsten zwei Jahrzehnte seines Lebens. Er knüpfte seine Netzwerke, beeindruckte durch seine Kenntnisse und Bekanntschaften im Alten und im Neuen Kontinent, behielt Gespräche im Gedächtnis, mit den großen jüdischen Gelehrten, ob orthodox oder antitraditionell, aber aus jüdischer Perspektive, vor allem mit Leo Strauss (1899; S.164-), mit christlichen Theologen wie Reinhold Niebuhr oder Paul Tillich oder dem konservativen Politologen Eric Voegelin. Ob aus dem rechten oder linken Spektrum, spielte dabei für JT keine Rolle, auch wenn man in dieser Zeit in den USA sich hüten musste, nicht ins Visier des Kommunisten­jägers McCarthy zu geraten.[11] „JT „war ein ‚vollendeter Schwamm‘, der rasch Ideen aufsaug­te und sie dann als eigene Eingebungen präsentierte“ (299). Dass er über einen mittelalter­lichen Philosophen einen langen Diskussionsbeitrag liefern konnte, den es gar nicht gegeben hat und mit dem Kollegen ihn aufs Glatteis führen wollten, ist ‚ein legendärer Scherz‘, aber typisch für JTs Ruf mangelnder Seriosität als Wissenschaftler (314-316). Die zwei Jahre in Jerusalem, in denen er besonders mit Gershom Scholem arbeitete, endeten mit einem menschlichen und wissenschaftlichen Zerwürfnis; danach begann ein Krieg, in dem Scholem jeden Kontakt ablehnte und JT Wissenschaftlichkeit absprach, während JT den Forschungen von Scholem widersprach.[12] Immer wieder aber war Scholems Aufsatz Erlösung durch Sünde Thema in JTs Seminaren.[13] JTs Vorlesungen und Seminare an der Universität Harvard und der Columbia Universität in New York erregten Aufsehen und zogen viele Studierende an. Da war JT in seinem Element. Später an der FU überließ er Assistent*innen und Kolleg*innen die Vorbereitung der Seminare und der konkreten Texte, unterbrach dann die genaue Analyse und erklärte (ex tempore),[14] in welcher Situation die Autorin oder Autor diesen Text geschrieben habe, was sie bezweckten und was sie verschwiegen hätten. Eigentlich wollte man an der Freien Universität einen Lehrstuhl für Wissenschaft vom Judentum einrichten, ein Lehrgebiet, das vorher nur an evangelisch-theologischen Fakultäten vertreten war, aber dort als Gegensatz zu der zu lehrenden Theologie gedacht und nie mit Juden besetzt war.[15] In der an der FU besonders heftigen ‚Studentenrevolution von 1968‘ ergriff JT Partei für die Studierenden. Am Fachbereich für Philosophie und Soziologie war bald kein Studium mehr möglich, es ging um die Abschaffung des Kapitalismus, Kampf gegen die Springer-Presse u.ä. Später sorgte JT mit dem Präsidenten für die Schließung und den Neuaufbau des Instituts für Philosophie und der Hermenutik.

Taubes‘ letztes Buch verdankt seine Entstehung der Freundschaft mit Aleida und Jan Assmann. Sie luden den todkranken JT ein zu Vorträgen über sein lange bedachtes Vorbild, den antinomistischen Paulus. Sie ordnete seine Ideen zu einer Gliederung, sie transkribierte die mündlichen Vorträge, redigierte und kürzte, was nicht zur Argumentation passte. So wurde daraus sein zweites Buch Die Politische Theologie des Paulus.[16]

Die Biographie bietet zu dem schwierigen Charakter Taubes eine sehr detaillierte Darstel­lung, die Faszination wie Abscheu erkennen lässt, den sexhungrigen, der Streit und Zwie­tracht verschärfte, statt zu harmonisieren. Seine Ehe mit Susan zerstörte er; sie schrieb einen Schlüsselroman Divorcing/ In Scheidung und nahm sich das Leben. Die Ehe mit Margherita von Brentano endete auch in der Scheidung. Viele der Intellektuellen der Zeit kommen in dem Buch vor mit einer Charakterisierung; nicht jede und jeder wird sich in den knappen Sätzen gut getroffen finden. Doch ist das Buch deshalb wichtig, weil es die Welt der Intellektuellen in den USA und in der Bonner Republik kundig zeichnet. Dazu gehört die „Suhrkamp-Kultur“, der Verlag unter Siegfried Unselds Leitung: Der erkannte das Verlangen nach Debatten und neuen Theorien, vor allem auch außerhalb der deutschen Universitätslandschaft, vor allem auch linke Ideengeber. Viele Vorschläge, welche Bücher gerade angesagt und eine Übersetzung lohnten, kamen von JT mit seinen Kontakten in Israel, Osteuropa, Frankreich, England und den USA. Auch in die innovative Runde des informellen Zirkels der Gruppe jüngerer Geisteswissenschaftler „Poetik und Hermeneutik“ drängelte er sich, belebte die Diskussion, aber scheute die Mühen eines (vorher schriftlich einzureichenden) ausformulierten Beitrags. „War Jacob Taubes ein intellektueller Scharlatan oder ein brillanter Denker? Auch hier wird jeder sein eigenes Urteil fällen, und nachdem wir tief in das Leben von Jacob eingetaucht sind, werden scharfsinnige Beobachter vermutlich nicht zu einem einfachen und eindeutigen Urteil gelangen.“ (762). Scharlatan auch. Was JT nicht war: er war sicher kein Forscher, der beharrlich sammelt, analysiert, systematisiert und die Mühen der Vollendung eines Buches, eines Lebenswerkes erarbeitet. Doch in einer Zeit, die eine Generation nach dem Nationalsozialismus und in der Enge der Bonner Republik nach neuen Entwürfen einer größeren Welt suchte,[17] da fand die sich neu erfindende Freie Universität den weltgereisten Intellektuellen. Es geht nicht so sehr um die Person, sondern um die politische und die Ideengeschichte, in der man solche Professoren an die Universität holen wollte und sie nicht bändigen konnte. Immer die Ordnungen und Menschen verletzend, auch sich selbst und die ihm verbunden waren, so fanden sich doch auch immer wieder faszinierte Menschen. Als Professor der Apokalyptik ist er wohl nicht so gut be­zeichnet, auch der Biograph hält an vielen Stellen, Taubes eher als Gnostiker zu verstehen, für angemessen.[18] Nicht die Apokalypse aufzuhalten,[19] sondern was danach kommt, wenn sie nicht eingetreten ist, daran arbeitete Taubes.

 

Bremen/Wellerscheid, April 2023                                                             Christoph Auffarth

Religionswissenschaft
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Christoph Auffarth: Chaos. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2(1990), 193-195.

[2] Muller 2022, 13. (Im Folgenden nur die Initialen JM und Seitenzahl) Muller spricht an: „In seinen frühen Fünfzigern durchlitt Taubes eine schwere Episode einer klinischen Depression, die schließlich als bipolare Störung diagnostiziert wurde, eine Erkrankung, bei der Phasen der Euphorie und großer Tatkraft sich mit solchen der Verzweiflung und Antriebslosigkeit abwechseln.“ (18).

[3] Die vollständigen bibliographischen Angaben auf der Wikipedia-Seite. Vgl. auch meine Rezension Hans Blumenberg und Jacob Taubes: Briefwechsel 1961 – 1981. 2013. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/01/09/briefwechsel-blumenberg-taubes/

[4] Jacob Taubes: Krisis: Der Briefwechsel mit Axel Rütters. Nebst Materialien und Dokumenten. Herausge­geben von Herbert Kopp-Obersterbrink. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2023 (für Mai angekündigt).

[5] Unter dem Obertitel Religionstheorie und Politische Theologie. Hrsg. von Jacob Taubes, erschienen: Band 1: Der Fürst dieser Welt: Carl Schmitt und die Folgen. 1983. Band 2: Gnosis und Politik. 1984. Band 3: Theokratie. 1987 alle München: Fink Verlag. Am Kolloquium, aus dem Band 2 hervorging, konnte JT gar nicht teilnehmen, weil er da seinen psychischen Zusammenbruch erlebte. Die mühevolle Arbeit des Herausgebers trug Norbert Bolz, der gerade mal im Vorwort genannt wird.

[6] Richard Faber: ad Jacob Taubes. Historischer und politischer Theologe, moderner Gnostiker. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2022. RF; Eveline Goodman-Thau, Thomas Macho (Hrsg.): Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001.

[7] Hans Urs von Balthasar [1905-1988]: Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur. [Dissertation Universität Zürich] Zürich: Selbstverlag 1930 [219 Seiten]. 2. Auflage Freiburg im Breisgau: Johannes 1998 [270 Seiten]. Apokalypse der deutschen Seele. 3 Bände. Salzburg/Leipzig: Pustet 1937–1939. Neuauflagen, zuletzt im Johannes-Verlag

[8] Karl Löwith [1897-1973]: Meaning in History. Chicago 1949 zuvor ein Aufsatz in Social Research 13 (1946), 51-80, den JT gelesen haben dürfte. Deutsche Version: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. (Urban Bücher 2) Stuttgart: Kohlhammer 1953 (71979). Zu benutzen mit thematisch verwandten Aufsätzen in der Ausgabe Sämtliche Schriften, Band 2. Stuttgart: Metzler, 7-240, zur Druckgeschichte 607f.  Zu den Urban Büchern, s. Liste der Urban-Taschenbücher – Wikipedia (1.April 2023). Zur vermiedenen (missverstandenen) Auseinandersetzung mit Hans Blumenberg: Legitimität der Neuzeit, s. Auffarth: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/21/hans-blumenberg/ (21. November 2020).

[9] Hubert Cancik hat das Problem dieser „sterilen Antithese von ‚Israel‘ und ‚Hellas‘“ (bei Taubes) aufgebrochen in seinen Beiträgen, darunter Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart: Metzler 1995, 107-121; Hubert Cancik: Das Ende der Welt, Geschichte, Person in der griechischen und römischen Antike. In: Cancik: Römische Religion im Kontext. Gesammelte Aufsätze I. Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 263-308. [revised version of: The End of the World, of History, and of the Individual in Greek and Roman Antiquity. In J.J. Collins, Encyclopedia of Apocalypticism 1, New York: Continuum 1998, 84-125]; zu Taubes S. 270. Und die verwandte Kritik bei Ernst A. Schmidt: Kreis und Gerade. Moderne Konstrukti­onen der griechischen Antike als Gegenbildentwürfe. (SHAW-PH 59) Heidelberg: Winter 2019.

[10] Sehr gut der Essay von Christoph Schulte: Paulus. in Abendländische Eschatologie 1999, 93-103.

[11] Das erwähnt JM 292-294 nur. Die Verdächtigungen konnten jeden treffen. Die bedrückende Situation spielt sich in der Biographie des Historikers Ernst H. Kantorowicz (Robert E. Lerner, Princeton: UP 2017, 312-330; 381; dt. Stuttgart: Klett-Cotta 2020), der 1933 den Eid auf Hitler verweigerte und darüber hinaus als Jude ins Exil fliehen musste, dort in den USA dann seine Stelle als Professor aufgab, weil er den Anti-Kommunisten-Eid ablehnte, kurz darauf aber in Princeton eine noch bessere Professur bekam.

[12] JM 248—259, 627-634 und öfter. Der Index der Personen ist umfassend, aber leider nicht gegliedert. Elettra Stimilli (Hrsg.): Jacob Taubes: Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes and Gershom Scholem und andere Materialien. Würzburg: Königshausen&Neumann 2006.

[13] Wieder in Scholem, Judaica 5. Frankfurt: Suhrkamp 1992. Es geht dabei um die beiden Messias der frühen Neuzeit, die gegen die Gebote verstießen, Sabbatai Zwi am Ende sogar zum Islam konvertierte. Über ihn hat Scholem sein letztes großes Buch geschrieben: Princeton 1973.

[14] Extemporieren meint, „aus dem Stehgreif“ und „unvorbereitet“.

[15] Andreas Lehnardt (Hrsg.): Judaistik im Wandel. Ein halbes Jahrhundert Forschung und Lehre über das Judentum in Deutschland. Berlin: De Gruyter 2017. Die exzellente „Wissenschaft vom Judentum“ wurde an deutschen Universitäten nirgends gelehrt, sondern nur an jüdischen Institutionen und als Judaistik erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgebaut. Eine kleine Ausnahme machte die Universität Frankfurt, wo Martin Buber zeitweilig die Religionswissenschaft vertrat.

[16] Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus. Vorträge […] 23.-27. Februar 1987. Hrsg. von Aleida und Jan Assmann. München: Fink 1993.

[17] Die Zeit der ‚langen Sechziger Jahre‘ beschreibt großartig Peter Bräunlein, in: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 175-220; 456-468; Literaturverzeichnis 559-571. – JT erkannte früh die Herausforderung für die Wissenschaften, die im Postkolonialismus (Krisenkulte, Messianische Bewegungen) besteht und ließ die Bibliothek entsprechend ausstatten. Neben Lanternari beeindruckte ihn das Buch Leo Festinger, when prophecy fails: Was passiert, wenn eine Prophetie nicht eintritt? (s. nächste Anmerkung!).

[18] So nennt Richard Faber, der lange mit und für JT arbeitete, 1980-1983 als sein Hochschulassistent, ihn einen Gnostiker: ad Jacob Taubes 2022 (wie oben Anm. 6), 67-87. Er zitiert dort (67) Taubes: „Wenn Apokalyptik eine mögliche Antwort auf eine Situation ist, die Leo Festinger auf die Formel brachte ‚when prophecy fails‘, so ist es vielleicht nicht zu verwegen, Gnosis auf die Formel zu bringen when apocalypticism fails.

[19] Eine wichtige Denkfigur für Carl Schmitt, aus Paulus 2. Thess. 2,6-7 entnommen.

 

 

Stroumsa Religion

                     

Guy Stroumsa: The Crucible of Religion in Late Antiquity. Selected Essays.
(STAC 124) Tübingen: Mohr Siebeck 2021. X, 305 Seiten. 
ISBN 978-3-16-160691-5.
99,00 €

Guy Stroumsa: Religion as Intellectual Challenge in the Long Twentieth Century. Selected Essays.
Tübingen: Mohr Siebeck 2021. X, 242 Seiten.
ISBN 978-3-16-160720-2.
99,00 €

 

Jenseits des Eurozentrismus:
Der Weltbürger Guy Stroumsa erschließt intellektuelle Blicke auf Religion
und die Achsenzeit in der Spätantike

 

Kurz: Ein Band von Essays über den Blick großer Gelehrter auf Religion und ein zweiter über die Spätantike als die Achsenzeit: die grundlegende Transformation von Religion in den Religionen dieser Epoche: Gnosis, Platonismus, Judentum, Christentum und Islam.

Ausführlich:

Die beiden schlanken Bände sind derart gehaltvoll, dass alle, die an Religionswissenschaft, Theologie, Kirchengeschichte und Kulturgeschichte interessiert sind, ihr helle Freude haben. In wunderbar knappen, aber unvergleichlich treffenden Aufsätzen kommt das ganze Können eines Kenners und Vermittlers unterschiedlicher Kulturen zum Ausdruck. Zum einen skizziert er (1) Begegnungen und Lektüren der großen Intellektuellen der letzten zwei bis drei Generationen (Intellectual Challenge), während (2) der andere Band (Late antiquity) begründet, warum Stroumsa die Spätantike in der Begegnung, Auseinandersetzung und gegenseitigen Anerkennung nicht nur als einen gemeinsamen ‚Denkraum‘ versteht,[1] sondern sich in der Epoche der Herausbildung der drei monotheistischen Religionen in ihrem antiken Kontext das ereignet, was man mit größerem Recht die Achsenzeit nennen kann.

Religion as Intellectual Challenge in the Long Twentieth Century

Begonnen sei mit den Aufsätzen zu der intellektuellen Herausforderung. Dazu gehört mit Sicherheit der Autor selbst, Guy Gedalyahu Stroumsa.[2] In dem Essay Parcours d’un flaneur (217-233, einer von zwei Kapiteln auf Französisch; die anderen auf Englisch) beschreibt er seinen Lebensweg selbstironisch als flaneur. Wie wird man zu einem Religionshistoriker, der mit Religion eine der zentralen Identitäten zu bearbeiten hat, die mit allem verbunden ist in der Kultur, in der die Menschen leben: Lebensunterhalt und Beruf, das soziale Umfeld, rechtliche Bedingungen, historische und kulturelle Kontinuitäten und Brüche, usf. So aufregend die Aufgabe, so konzentriert die Arbeit der Forschung, ist sie doch, mit Weber gesagt, die Veralltäglichung des Charisma. Und er beginnt mit: „der Krieg“, denn der ist in seinem Leben immer nah, ganz besonders in der Elterngeneration, die aus dem Vernichtungslagern entkommen waren, Juden aus Saloniki.[3] In den USA der Vietnamkrieg, in den Staat Israel kommt er kurz  nach dem Sechs-Tage-Krieg, dann der Yom-Kippur-Krieg, Gaza-Krieg usf. All das erzählt er klug, distanziert, kritisch. Die Schule in Paris war der Ort, wo er auf den Lehrer Emmanuel Lévinas traf. Und so geht es weiter mit berühmten Namen, die GS zu seinen Lehrern zählt. Seite 228 erklärt er, warum er sich als flaneur (Spaziergänger) bezeichnet. Der paradoxe Begriff: Er hat kein Ziel, das er erreichen soll, keine feste Route, aber macht man am Ende die Bilanz, so ist er auf Orte und Personen getroffen, die anziehen und inspirieren, gewissermaßen ‚der Weg ist das Ziel‘. Auf dem Weg waren aber auch viele Durststrecken, Kämpfe zu bestehen. Ein großartiger Mensch, bescheiden trotz seines Ruhms, interessiert am Gesprächspartner, kein Angeben mit seinem überlegenen Wissen und Können. – All das strahlen auch seine Porträts aus in den 15 Kapiteln des Buches, in denen er je eine Person (oder zwei) in den Mittelpunkt stellt, sie in einer entscheidenden Situation ihres Lebens feinfühlig vorstellt und, welches Buch daraus wurde. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Teil 1 behandelt intellektuelle Traditionen. Dort treffen wir auf Lord Balfour, der den Juden im Ersten Weltkrieg eine Heimstätte in Palästina versprach, auf den jüdischen Meisterschüler von Émile Durkheim, der sein Leben im Ersten Weltkrieg ‚opfert‘.[4] Freuds Der Mann Moses, dann Martin Buber, den GS nicht mehr erlebte, schließlich Levinas und die ‚Versuchung des Christentums‘ wie auch den jüdischen Humanis­mus. Teil 2 handelt von Morton Smith, der das ‚geheime Evangelium des Markus‘ entdeckte und mit Gershom Scholem darüber korrespondierte. Den Mythenforscher und Rechtsintel­lektuellen Georges Dumézil neben dem großen italienischen jüdischen Altertumswissen­schaftler Arnaldo Momigliano. Einen anderen Altertumswissenschaftler porträtiert er mit Marcel Détienne, wie der mit Polytheismus und Monotheismus umgeht. Dazu den Historiker (ebenfalls Italiener aus einer jüdischen Familie) Carlo Ginzburg, der bedeutsam ‚Mikro-Geschichte‘ methodisch einführte in die Geschichtswissenschaft, etwa den Fall des Müllers, der vor der Inquisition seine Theorie über die Entstehung der Welt erklärt, wie im Käse Leben entsteht ohne Schöpfer, durch die Würmer. Für Religionshistoriker ist das ein sehr erhellendes Kapitel, in dem Mircea Eliade 166-169; 175, das Verhältnis von Bild und Urbild 170-174 und Ginzburgs storia notturna/Hexensabbat (174-178) reflektiert werden.

Im dritten Teil skizziert er gegenwärtige Probleme der Religionswissenschaft: Steht die offene Gesellschaft im Gegensatz zur geschlossenen Religion? Welches sind die neuen Herausforderungen für die Religionswissenschaft, was ist gewonnen – oder verloren – mit der vergleichenden Untersuchung der Abrahamitischen Religionen?

Im Aufsatz zu History of Religion [2009] wären aktuelle Dispute hinzuzufügen. Die Deutsche Vereinigung für Religionsgeschichte, ein Mitglied der International Association for the History of Religion IAHR, hat sich umbenannt in DVRW, Religionswissenschaft. Eine entsprechende Umbe­nennung der IAHR in „… for the Scientific Study of Religion“ ist nach erbittertem Streit gescheitert.[5] Das amerikanische Konzept der Religious Studies umfasst auch die Ausbildung der jeweiligen Priester. GS verweist aber auf die charismatische und gleichzeitig marginale Figur des Propheten, der immer am Rande der Verrücktheit, zentrale Veränderungen in den ‚Religionen des Buches‘ bewirkte. Jeden­falls ein Plädoyer für den vergleichenden Blick auf die Geschichte und Typologie der Religionen.

The Crucible of Religion in Late Antiquity

Der zweite Band widmet sich der Spätantike. Lange verachtet als Epoche der Dekadenz, die durch die Völkerwanderung hinweggefegt wurde (so die ‚germanische‘ Perspektive, die die Deutschen nach der Gründung des Kaiserreichs 1871 gegen die römisch-katholische Kirche verbreiteten: „Ein Kampf um Rom“ hießt der Bestseller von Felix Dahn) oder deren hohe Zivilisation durch die Barbaren zertreten wurde (so die englische und französische Bezeichnung der barbarian invasions), wurde die Zeit zunächst zu einer Zwischenzeit erklärt (‚zwischen Konstantin und Karl dem Großen‘), dann aber zu einer eigenen Epoche aufgewertet.[6] Das wird nun durch dieses Buch grandios übertroffen. Stroumsa erklärt die Epoche zu der Achsenzeit.

„Die Achsenzeit“ wurde nicht erst seit Karl Jaspers zu einer für die Weltsicht entscheidenden Wende der Weltgeschichte erklärt. Jan Assmann hat eine eindrückliche Wissenschaftsge­schichte dazu geschrieben, die bereits in der Aufklärung im 18. Jahrhundert eine globale Perspektive entwarf. Die Weltgeschichte sei demnach nicht in die Zeit vor und nach Christi Geburt zu scheiden, sondern Religion hat sich grundlegend gewandelt:

  • von der sakralen Sphäre am Heiligen Ort (Altar) mit dem Ritual des Opfers, die man zu einem Fest aufsucht,
  • hin zu einer ethischen Weltsicht, die Menschen im Innern mit sich tragen und im Alltag zu erfüllen suchen.

Das ereignete sich quer durch die Weltgeschichte um 500 vor [!] Chr. in Indien mit dem Buddhismus, im Iran mit Zarathustra, in Griechenland mit Pythagoras und Platon, in Israel mit den Propheten und in China mit dem Daoismus.[7] Doch bei der Arbeit mit dem Konzept verflüchtigte sich die Epoche, weil die behauptete Gleichzeitigkeit bei genauerem Hinsehen sich über ein halbes, vielleicht ein ganzes Jahrtausend hinzog. Shmuel Eisenstadt und Robert Bellah (jeweils nicht auf Europa zentriert) haben die Diskussion wieder in Gang gebracht. GS widmet im Intellektuellen-Band Bellah eine Problem-Skizze From the Big Bang to a Secular Age: Robert Bellah and American Approaches to Religion (142-153). Guy Stroumsa macht in diesem Band nun deutlich, dass weit mehr die Zeit um 500 nach Christi Geburt diese Bezeichnung verdient. Das ist zum einen die Zeit, in der das Opferritual – zentrales Ritual antiker Religionen – verschwindet und Religion sich völlig umstellt. Schrift- oder Buchreligion, die man weitab von dem Heiligen Stätten praktizieren kann, die ethische Lebensführung, die ‚Reinheit‘ von Kleidung, Speisen, Körper. Das hat GS in den Aufsätzen The End of Sacrifice revisited (151-162)[8] und Axial Religion in the Late Antique Scriptural Galaxy (206-223) präzisiert. In diese Achsenzeit gehört auch der Islam, neben den beiden genannten Aufsätzen etwa auch Anti-Manichaean Polemics: Late Antiquity to Islam (267-286) und Conclusion: Shapes of Time in the Abrahamic Religions (287-300).[9] In dem Aufsatz Afterlives of Orphism verweist GS darauf, dass einige der (was er nennt) Mutationen der Religion der Spätantike bereits Jahrhunderte davor von der Orphikern gelebt wurde (30-51).

Zu den Aufsätzen im zweiten Teil treten hinzu die Aufsätze des ersten Teils unter dem Titel „Christ’s laughter: Visions, Docetism, Martyrdom“. Christ’s laughter ist der Titel eines Aufsatzes [2004], der zu einem der wichtigsten von GS gehört und den er nach vielen Jahren unter den seither gewonnenen Einsichten sich wieder vornimmt (reconsidered, 91-108). Die Gnosis als eine wichtige, aber früh angefeindete und an den Rand gedrängte Strömung in der Religion der Kaiserzeit und Spätantike, führt zu einer Lösung des Leidens Christi, die dann im Islam aufgegriffen wird: Es ist gar nicht Christus, der am Kreuz stirbt, sondern Judas oder Simon von Kyrene (95). Der oft als Vorbild für Christi ‚Opfer‘ angesehene Isaak bedeutet vom Namen her ein ‚Lachen‘. – Die Ablehnung des blutigen Opfers durch die Christen trifft auf die Interpretation eigener religiöser Rituale als ‚Opfer‘, gar als Menschenopfer wird der Tod der Märtyrer gefeiert, wenn sie hingerichtet werden (126-136; zur Beherrschung und Umkehrung der Emotionen 137-148).

Guy Stroumsa hat eine kleine Auswahl seiner Aufsätze hier versammelt, die er selbst für die wichtigsten hält. Mit ihren präzisen Angaben, aus welchen Quellen, aus welchen selten zitierten Quellen, er die Grundlagen für seine Aussagen hernimmt, knapp, präzise, unglaub­lich gelehrt in Judaistik, Patristik, Islamwissenschaft, kenntnisreich in den gerade diskutier­ten Thesen, daheim in vielen Sprachen der Welt, befreundet, zumindest bekannt mit Gelehrten aus aller Welt (und solchen früheren, die fast vergessen sind), sind diese Aufsätze Bücher, „in Nussschalen“ komprimiert. Register zu den wichtigsten Diskussionen in den Bänden der Personen oder Themen lassen einen diese wiederfinden.[10] Eine großartige Sammlung von Aufsätzen, die man, gerade weil sie so gehaltvoll sind, mehr als einmal lesen will.

Bremen/Wellerscheid, März 2023                                                             Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] So die Konzeption der Gruppe um Angelika Neuwirth, die die Entstehung des Islam erforscht im Corpus Coranicum. Dazu meine Rezensionen Der Koran – Christoph Auffarth kommentiert die Werke von Angelika Neuwirth – Angesagt! (rpi-virtuell.de).

[2] Die eindrucksvollen Orte seiner Karriere: Geboren 1948 in Paris. Studium (mit 17 Jahren) in Paris (Jura, Ökonomie), Jerusalem (Jüdisches Denken), Harvard/USA (Vergleichende Religionswissen­schaft) und wieder in Paris (École Pratique des Hautes Études, Religionswissenschaft), jeweils mit ausgezeichneten Abschlüssen (insgesamt zwölf Jahre). Dann folgten die Dozenten- und Lehrjahre an der Hebrew University in Jerusalem (an der seine Frau Sarah viel später zur Rektorin gewählt wurde, sie eine ausgezeichnete Arabistin), die Martin-Buber-Professur ebenda mit vielfältigen Aktivitäten für die Doktoranden-Schule. Nach der Emeritierung 2009-2013 Professor für abrahamitische Religion in Oxford. Danach zahlreiche Einladungen zu Forschungsaufenthalten an den großen Universitäten der Welt, darunter die Vorlesungsreihe la fin du sacrifice 2005 am Collège de France, der Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen zusammen mit seiner Frau Sarah und vieles mehr (99+) Guy G Stroumsa | The Hebrew University of Jerusalem – Academia.edu (28.02.2023). Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen GS.

[3] GS sprach mit seinen Eltern auch noch das Judaeo-Spanisch, das die Juden in Saloniki sprachen. Saloniki, die Stadt in Griechenland, in der eine der größten jüdischen Gemeinden am Mittelmeer stolz und sicher leben konnte nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492, wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt und ihre jüdischen Einwohner 1943 nach Auschwitz deportiert. Mark Mazower hat das beschrieben in The City of Ghosts: Christians, Muslims and Jews. London: Harper Collins 2004. Zum verantwortlichen Stadtkommandanten Dr. Max Merten (1911-1971), seiner Karriere und den Prozessen nach 1945, die den nahen Vertrauten Adenauers betrafen, Hans Globke, s. Gerrit Hamann: Max Merten. Jurist und Kriegsverbrecher. Eine biografische Fallstudie zum Umgang mit NS-Tätern in der frühen Bundesrepublik. (Die Rosenburg 4) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022.

[4] In meinem Buch Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023 habe ich viel vom Gespräch mit GS profitiert, auch die Geschichte von Robert Hertz (213-215) habe ich durch GS erfahren.

[5] Don Wiebe: A Report on the Special Executive Committee Meeting of the International Association for the History of Religions in Delphi. In: Method & Theory in the Study of Religion 32 (2009), 150-158.

[6] Das zweibändige Werk von Ernst Stein wird gerade wieder aufgelegt (Darmstadt: WBG 2023); der erste Band auf Deutsch, den zweiten schrieb der jüdische Autor auf Französisch. – Der Belgier Henri Pirenne betonte statt der Völkerwanderung, dass erst die islamische Expansion die antike Welt in drei Teile getrennt habe: den Süden islamisch, im Osten das griechische Römische Reich um Konstantin­opel, den lateinischen Westen in Mikro-Christenheiten mit vielen Zentren (Mahomet et Charlemagne, Paris/Brüssel 1937. Der Titel der deutschen Übersetzung verfälschte: Geburt des Abendlandes. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters, Amsterdam 1939).

[7] Jan Assmann hat eine eindrückliche Wissenschaftsgeschichte zu diesem Thema geschrieben, s. J.A.: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne. München: Beck 2018.

[8] Das bezieht sich auf das Buch von GS, La fin du sacrifice 2005; dt. Das Ende des Opferrituals 2010. Dazu meine Rezension: Das Ende des Opfers – eine jüdische Perspektive. Guy G. Stroumsa: Das Ende des Opferkults: Die religiösen Mutationen der Spätantike, 2011. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/12/30/das-ende-des-opferkults-die-religiosen-mutationen-der-spatantike-von-guy-g-stroumsa/ (30.12.2011) und der Aufsatz: Le rite sacrificiel antique: la longue durée et la fin du sacrifice. [übersetzt von Aurian Delli Pizzi] in: Kernos 25 (2012), 297-303. Das dort Angefragte habe ich umgesetzt in meinem Opfer-Buch 2023. GS erweitert in meinem Sinne das in dem revisited-Aufsatz und greift 72f meine These von der ‚Mysterisation‘ aller Religionen seit der Kaiserzeit auf (vgl. Les mystères au IIe siècle de notre ère: un tournant – Bryn Mawr Classical Review (März 2022).

[9] Das war ausführlicher der Gegenstand von GS: The Making of Abrahamic Religions. Oxford: OUP 2015. Meine Rezension [Rez] Guy G. Stroumsa: The making of the Abrahamic religions in late antiquity. Oxford: Oxford University Press 2015. In: Sehepunkte http://www.sehepunkte.de/2017/07/27765.html (17.7.2017).

[10] Indices/Register lassen, wenn ein Buch digital vorliegt, leicht jede, auch noch so nebensächliche Erwähnung finden. Leider muss der Rezensent immer wieder solche ‚Telephonbücher‘ lesen. Um so hilfreicher sind Verzeichnisse nur der Stellen, wo eine Sache oder Person oder Textstelle gründlich diskutiert werden: So wie GS das macht. – Dass die hebräischen, koptischen und griechischen Zitate nur in Transkription angeführt werden, finde ich nicht hilfreich.

 

Ernst Troeltsch Biographie

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont.
Eine Biographie.

München: C.H. Beck, 2022

 

Advokat(en) einer liberalen Theologie:
Ernst Troeltschs Biographie von Friedrich Wilhelm Graf

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ernst Troeltsch war die charismatische Persönlichkeit, die das evangelische Christen­tum als Diener des Staates (Staatskirche) scharf kritisierte und stattdessen ein liberales Christentum entwickelte, zuletzt als tätiger Politiker für die Weimarer Republik. Eine wichtige und vorzügliche Biographie. Troeltsch starb vor hundert Jahren 1923.

Ausführlich:

Friedrich Wilhelm Graf[1] hat seit 1998 die Kritische Gesamtausgabe der Werke von ET initiiert, herausgegeben, elf der bislang 20 Bände sogar selbst ediert.[2] Und dabei suchte er – mit anderen –, jedes Zeugnis zu erreichen, das noch aufzufinden war, nachdem es keinen wirklichen Nachlass gab,[3] so dass fünf Bände Briefe und die Notizen zu einer Neuauflage der Soziallehren der christlichen Kirchen wichtige Erweiterungen der zahlreichen gedruckten Schriften von ET bilden.[4] Das wichtigste aber an der KGA sind die Einleitungen und Kommentare, die den wissenschaftlichen Diskurs und Disput deutlich machen, in den sich ET einmischte.

All diese sorgfältigen Recherchen über Jahrzehnte in Archiven, Privatsammlungen und Bibliotheken sind die Grundlage für die Biographie von FWG zu ET. Die detaillierten Darstellungen des Lebenswegs und Lebenswerks ETs sind deshalb nicht ermüdend, weil FWG immer versucht, das Besondere einer Biographie mit dem Allgemeinen der Institution, der Kirche als Behörde, der Universität zu verbinden und auf dem zeitgenössischen Horizont konturenreich zu präsentieren.

Die eher kurzen Kapitel sind durchwegs sozial- und kulturgeschichtlich kontextualisiert. Die enorme Kenntnis FWGs in der Theologiegeschichte der Zeit (und die ET in seinen zahllosen Rezensionen oder Forschungsberichten gelesen und besprochen hat[5])  ist eingebettet in die Geschichte der Zeit, die einen enormen ‚Kulturschub‘ vorangetrieben hat. „Meine Herrn, es wackelt alles“ ist ein berühmter Ausspruch in einem Auftritt des jungen ET, dessen Überlieferung allerdings mündliche Tradition ist (212). „Die ganze Welt wird anders“, beschrieb der älter gewordene ET die Welt nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Spectator-Briefen (462-482. KGA 14, 2015).[6] Aus der lesenswerten Biographie kann ich nur Einiges hervorheben. Eindrücklich ist etwa die Skizze zu den Nachwuchs-Wissenschaftlern in Göttingen, die man als ‚religionsgeschichtliche Schule‘ zusammenfasst. Sie wagten den Aufstand gegen die Doktorväter. Diese hatten versucht, die Theologie und das aufkläreri­sche Denken zu harmonisieren, aber dabei die Religion des Urchristentums nicht mehr in ihrer Fremdheit zu Wort kommen lassen. Im Sinne von Hegels Fortscheiten des Weltgeistes hatte Albrecht Ritschl das als unaufhörlichen Aufbau des Reiches Gottes dargestellt.[7] Ein Donnerschlag war das Büchlein seines Schwiegersohns Johannes Weiß, der zeigte, dass die Gottesherrschaft nicht von innen heraus wächst, sondern als Apokalypse von außen hereinbricht. Theologie als rationales Nachdenken einer Systematik und Religion als gelebtes Vertrauen lassen sich so nicht harmonisieren.[8] Troeltsch erkannte das und kritisierte neben der Orthodoxie der Staatskirche auch die ‚liberale‘ Theologie seiner Zeit, verlangte aber seinerseits die „‘Zusammenbestehbarkeit‘ von Christentum und moderner szientifischer Rationalität. […] Troeltsch will, dass man auch als moderner, skeptischer autoritätskritischer, freiheitsliebender Mensch ein frommer Christ sein kann.“[9] „Das politische Christentum ist schlimmer als die Revolution, die es verhindern möchte, und seine strebsamen Jünger sind fürchterlicher als die Schreckensmänner, die sie uns ersparen möchten.“

Der kometenhafte Aufstieg zum Ordinarius in Heidelberg, seine immer Aufsehen erregen­den Auftritte, ob unter feindseligen und enthusiastischen Kollegen oder vor öffentlichem Publikum, ET polarisierte, ließ sich nie einschüchtern, denn er verfügte über ein enormes Selbstbewusstsein und staunenswertes Wissen. Die Reise in die USA 1904, eingeladen zu einem Kongress im kulturellen Programm einer Weltausstellung in St. Louis zusammen mit Max und Marianne Weber,[10] zeigt schon die Aufmerksamkeit, die ihm galt (225-255). Bei der Vor- und Nachbereitung dieser (damals einzigartigen) Reise entwickelte ET seine These, dass Luther noch zum Mittelalter gehöre, die Neuzeit aber erst mit dem Calvinismus beginne und da mit den Puritanern. In den Soziallehren 1912 ausgeführt untergrub das die Meistererzählung der deutschen Protestanten, für die mit Luther die Neuzeit und das deutsche Nationalbewusstsein begonnen habe; umgekehrt wird sein Buch in den USA hoch geschätzt.[11]

In den Soziallehren entwickelte er die berühmte Typologie. Der wichtigen Unterscheidung, die sein ‚Fachmenschenfreund‘ Max Weber entwickelt hatte zwischen Kirche und Sekte, fügte ET die dritte Kategorie des Mystikers ein.[12] Damit meinte er weniger die mittelalterliche Mystik, sondern Protestanten, die sich nicht mehr an die Kirche gebunden fühlten, und die freien Religiösen, die in dieser Zeit eine wichtige neue Gruppe bildeten, religiöse Bewegungen ohne Institution.[13]

Wieder spannend sind etwa die Recherchen FWGs zu der Frage, was ein Professor damals – ganz im Gegensatz zu heute – neben seinem Grundgehalt an Einkünften erreichen konnte durch Vorträge, Honorare für Zeitschriftenbeiträge, Einkünfte aus Büchern, Gebühren, die die Studierenden bezahlen mussten für den Besuch einer Vorlesung, aber auch das Elend der Privatdozenten, die das alles nicht bekamen. (324-355) Und trotzdem engagierte sich ET noch viel auch ehrenamtlich. In den Ersten Weltkrieg fällt seine Berufung nach Berlin, in die Hauptstadt 1915. Eigentlich ging es um die religionswissenschaftliche Stelle in der Theologischen Fakultät. Aber dort war der Widerstand zu groß gegen einen Kollegen, der allem, was als Konsens galt, widersprach und anders, neu erklärte. Das Ministerium wollte den mittlerweile weltweit bekannten Gelehrten unbedingt gewinnen und setzte ihn in die Philosophische Fakultät. Eine ungleich größere Bühne eröffnete sich ihm. Die Politik riss sich um den begnadeten Redner in Zeiten des Krieges, als ‚deutsche Werte‘ in Frage standen. Bis zur Abdankung des Kaisers (und dann aller Monarchen im Reich zum Ende des Krieges im November 1918, die eigenwillig von seinem Reichs-Kanzler veröffentlicht wurde), war ET Monarchist. Danach aber setzte er sich mit seinen Bärenkräften für die neue Demokratie ein. Sein Können war nun im Kultusministerium (446-461) gefragt, wo er ehrenamtlich als Staatssekretär arbeitete. Er drang auf die Trennung von Staat und Kirche, insbesondere auch im Religionsunterricht an den Schulen. Doch die neue Regierung von Sozialdemokraten und Linken wollte sogar den Religionsunterricht gänzlich abschaffen. Zwischen dem Ober­kirchenrat, der möglichst viel vom alten Staatskirchentum zu erhalten suchte, also die alte Schulaufsicht durch die Kirchen behalten wollte, und den neuen, teils kirchenfeindlichen Kräften in der Regierung steuerte ET einen geradlinigen Weg ohne faule Kompromisse. Mitten in dem rastlosen Einsatz für die Weimarer Republik erschöpften sich seine Riesen­kräfte, er starb nicht lange nach seinem Freund Max Weber,[14] kurz vor seinem 58. Geburts­tag.

Für Historiker war längere Zeit in Misskredit geraten, eine Biographie zu schreiben (‚Männer machen Geschichte‘). Das hat sich wieder geändert, seit nicht mehr das Individuum für sich und seine innere Entwicklung, sondern die Persönlichkeit im vergleichenden Blick auf den Typus ihres Berufs, ihrer Herkunft, in ihrer Institution beschrieben wird.[15] Das gelingt FWG sehr gut. Interessante Abbildungen auf zwei Bögen Kunstdruckpapier und ein Personen-Register runden den Band.

Troeltsch ist für FWG sicher sein Held in der Weise, dass er programmatisch und charisma­tisch ein evangelisches Christentum vertrat, das nicht im Windschatten des Staates Macht ausübt, sondern eine liberale Theologie.[16] (In der folgenden Generation fand die liberale Theologie kaum noch Anhänger: Theologisch gewann die dialektische Theologie, politisch zerschlugen die Nationalsozialisten die Demokratie) Er geht aber mit seinem Helden kritisch um, zeigt neben seine Stärken auch die Schwächen und kritischen Aspekte seiner Persönlich­keit. Eine großartige Bilanz und Summe des Lebenswerks von Troeltsch und von Friedrich Wilhelm Graf. Ein unbedingt lesenswertes Buch sowohl für das Verständnis der Vergangenheit wie der Gegenwart.

 

Bremen/Wellerscheid, Februar 2023                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Friedrich Wilhelm Graf (* 1948) ist Professor emeritus für systematische Theologie an der evange­lisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität München. Der Autor vieler Bücher mischt sich gerne mit Aufsehen erregenden Thesen in aktuelle Kontroversen ein, irritierend und oft polemisch, aber kundig. Eine Wissenschaftsgeschichte der Theologie stellte er unter den bezeich­nenden Titel Der Heilige Zeitgeist (Tübingen: Mohr Siebeck 2011). Ein Meisterstück an Polemik stellte er in einer Rezension vor zu einem Buch über den Neutestamentler Adolf Deißmann in der Theologi­schen Rundschau 2022. Vgl. Ein scharfer Verriss zur Berliner Theologie (faz.net). Zu Graf material- und ganz kenntnisreich der Wikipedia-Artikel. Den Namen Grafs kürze ich ab mit den Initialen FWG.

[2] Von den geplanten 27 Bänden der Kritischen Gesamtausgabe (KGA. Berlin: De Gruyter.) sind seit 1998 20 Bände ediert. Dazu die Rezensionen des Autors dieser Rezension in Numen 2004, 2009, 2012, 2018, 2023. Den Namen von Ernst Troeltsch kürze ich ab mit ET.

[3] Mehrere Briefe sind auch absichtlich vernichtet worden, wie FWG herausbekommen hat: S. 82 und 171.

[4] Zu den Soziallehren KGA Band 9,1-3, 2021 meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/30/troeltsch-soziallehren/ (30.6.2021). Zu den -Briefen s. Auffarth in Numen 65 (2018), 589–592.

[5] Neben den Bänden mit den Rezensionen hat die KGA in mühevoller Arbeit in jedem Band auch die von ET genannten Aufsätze und Bücher bibliographisch genau erfasst und die Biogramme der Verfasser knapp vorgestellt.

[6] Den Kulturschub beschreibt der Herausgeber Gangolf Hübinger u.a. am Konflikt zwischen Bremer Radikalismus und den starken antiliberalen Stoßrichtungen in seiner Habilitationsschrift (Tübingen 1994) Kulturprotestantismus und Politik und zuletzt in seiner Intellektuellenbiographie Max Weber 2019. Dazu weiter Thomas Auwärter: „Die Wiederentdeckung der Religion“ und die Humanisierung des Christentums: Zeit, Leben, Werk und Religiosität Albert Kalthoffs (1850-1906). [Habilitation] Bremen: Universität Bremen, 2020.

[7] Albrecht Ritschl: Vorlesung „Theologische Ethik“. Hrsg. Rolf Schäfer. Berlin: De Gruyter 2007, 73-84; 103-112.

[8] Dazu der Verfasser in zwei verschiedenen Zugängen: Theologie als Religionskritik [II]. in: Richard Faber; Horst Junginger (Hrsg.): Religions- und kulturhistorische Religionskritik. Band 3. Würzburg: Königshausen&Neumann 2021, 125-141. – An FWGs Skizze bleibt offen, welche Rolle der immer in dem Zusammenhang genannte Paul de Lagarde spielt, Prof. in Göttingen für Orientalistik. FWG nennt ihn zu Recht einen Antisemiten, seine Kritik an Paulus, dem Verderber des Christentums, das Misslingen der Reformation Luthers. Lagarde ist ein wichtiger Vordenken der völkischen Religion („Religion der Zukunft“) und wurde von den Nationalsozialisten verehrt. Warum beriefen sich die Göttinger ‚Jungen Herren‘ immer wieder gerade auf ihn? ET widmete dem Verstorbenen den zweiten Band seiner Gesammelten Schriften, artikulierte aber im Vorwort seine Vorbehalte.

[9] FWG 150; 151. Das folgende Zitat KGA 1, 352.

[10] Deren Reisebriefe 1877-1914 haben Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke herausgegeben. Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 95-150.

[11] Dazu etwa Thomas Kaufmann: Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland. In: Hans Medick; Peer Schmidt (Hrsg.): Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung. Göttingen: V&R 2004, 455-481.

[12] FWG 296-324, bes. 313-320. Christoph Auffarth: Begabt zu außerordentlichen Erfahrungen: Mystik und Religion. Jahrbuch für Biblische Theologie 38(2023), im Druck.

[13] Das hat Thomas Nipperdey (der ältere Bruder von Dorothee Sölle) in die Geschichtswissenschaft eingeführt, die „vagierende Religiosität“: ThN: Religion im Umbruch. Deutschland 1870-1918. München: Beck 1988.

[14] Von Heidelberg schied ET im Streit mit Max Weber, in seinem Kondolenzbrief an die Witwe Marianne Weber bedauert er, dass ihm der intellektuelle Austausch mit Weber so gefehlt habe: KGA 22(2022), 270-274 v.a. die Anm. 7.

[15] FWG bezeichnet sich selbst als Schüler von Trutz Rendtorff, dem Münchner Theologen der Gesellschaftswissenschaft, und von Hans-Ulrich Wehler, Bielefeld, dessen historische Gesellschafts-Geschichte Deutschlands (5 Bände 1987-2008) die Geschichte zu einer Sozialwissenschaft machte, zugleich aber auch den Anspruch auf Kulturgeschichte erhob.

[16] FWG kritisierte und polemisierte gegen die gegenwärtigen Landeskirchen etwa in seinen Essays Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen. München: Beck 2011.

Jerusalem-Transformationen

Nadine Mai: Jerusalem-Transformationen.
Die Brügger Jerusalemkapelle

und die monumentale Nachbildung
der Heiligen Stätten um 1500

Regensburg: Schnell+Steiner 2022
400 Seiten, 279 Abbildungen
ISBN 978-3-7954-3657-5
76 €

 

Jerusalem in den Niederlanden:
Die Heilsgeschichte und -gegenwart im Haus nebenan.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Von ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem bringen die wohlhabenden Kaufleute die Zeich­nungen und Maße mit, um auf ihrem Grundstück die Jerusalem Grabeskirche nachzubauen. Die erlösende Tat Jesu am Kreuz wird täglich erfahrbar. Die Kunsthisto­rikerin Nadine Mai erklärt das auf höchstem Niveau.

Ausführlich:

Darstellungen des Heiligen Grabes in Europa im Mittelalter sind zahlreich und gleichzeitig unterschiedlich.[1] Dazu gibt es auch eine umfangreiche Forschungsliteratur, die Nadine Mai[2] umfassend kennt und methodisch präzisiert. Ausgangspunkt ist ein konkretes Gebäude, die merkwürdige Jerusalemkapelle in Brügge in Flandern (flämisch-sprachiges Belgien), zu der es eine sehr gute schriftliche Quellenlage gibt (Urkunden, Tagebücher, Rechnungsbücher), neben der bei der Renovation 1968-1972 gründlich untersuchten Architektur. Diese Grund­lage und der lokale Bau beschreibt NM detailliert mit den neuesten Methoden und Theorien der Kunstwissenschaft, um den lokalen Sonderfall in die bisher erforschten Jerusalem-Bauten vergleichend einzuordnen. Anders als viele bisherige Arbeiten, die das Phänomen der Nachbauten der Grabeskirche untersucht haben, ist die zeitliche (um 1500) und örtliche (Brügger Jerusalemkapelle) Konkretion eine kluge Beschränkung, um von dort ausgehend das größere Phänomen zu beschreiben. Gerade entsteht ein dreibändiges Werk Tracing the Jerusalem Code, das eine ähnliche Fragestellung für Skandinavien erprobt.[3] Problematisch und undifferenziert ist dagegen eine ältere Forschungslinie, die jede Kathedrale als ein Himm­lisches Jerusalem verstehen wollte.[4] Im Kontext der Kreuzzüge hat der Rezensent ein Buch geschrieben, das die Frage stellt: Warum ziehen die Kreuzfahrer unter Lebensgefahr nach Jerusalem, wenn man doch an vielen Stellen Europas das Heilige Grab und andere Jerusalem-Bauten besuchen und sich dort begraben lassen konnte?[5]

Mit Richard Krautheimer[6] macht NM deutlich, dass Jerusalem-Architekturen nicht einfach eine Kopie darstellen, sondern eine oder mehrere Elemente aus Jerusalem auswählen, die in die neue Konstellation vor Ort eingepasst werden (selektive Reproduktion). Nach bald zweihundert Jahren Präsenz lateinisch-sprachiger West- und Südeuropäer im Königreich Jerusalem waren die ‚heiligen Stätten‘ verloren gegangen, aber weiterhin für Pilger zugäng­lich, und Adelige suchten die Gelegenheit, sich dort zum Ritter schlagen zu lassen. Viele Reiseberichte übermittelten Erfahrungen nach Europa, oft mit Skizzen und Bildern versehen. Auch im Fall der Kapelle in Brügge bringen die wohlhabenden Jerusalem-Pilger in drei aufeinander folgenden Generati­onen den Wunsch mit, einen entsprechenden heiligen Ort in der Heimat zu bauen. Im Ensemble mit einem neuen geräumigen Familienwohnsitz und einer Reihe von Wohnungen für verwitwete Frauen ließen die wohlhabenden Unternehmer den großen Turm bauen, der sich im Erdgeschoss um ein kleines Längsschiff erweitert. In diesem Bau wird nun rituell in jeder Liturgie im Gottesdienst aufgeführt der Tod Jesu als Opfer, die Kapelle wird mit anderen Kirchen verknüpft in Prozessionen, Ziel vieler Besucher von außerhalb.

Die Brügger Kapelle zitiert zwei Bauwerke in Jerusalem, die Grabeskirche und den Tempel des Herrn:

  • Die Grabeskirche (lat. sepulchrum Domini Grab des Herrn – griechisch Anástasis ἀνάστασις Auferstehung) besteht aus mehreren Heiligen Orten. Zwei davon sind in Brügge zitiert: Da ist zum einen, ebenerdig, das Grab Jesu, das in Jerusalem linker Hand in einem kleinen Rundgebäude innerhalb einer großen Rotunde gebaut ist, die oben im Gewölbe ein offenes Loch lässt.[7] Rechter Hand des Eingangs führen zwei Treppen auf einen erhöhten Platz, von wo man aufragende Felsen sehen kann. Nach der Überlieferung der Evangelien wurde Jesus zu einem Platz außerhalb der (damaligen) Stadtmauern geführt auf den Felsen Golgatha, „Schädelstätte“. Das ist in Brügge mit dem Altar in der ersten Etage dargestellt: die drei Kreuze von Golgatha auf dem Felsen oberhalb des Grabes. Im Erdgeschoss, als Krypta bezeichnet, also das Heiligengrab, ist auf einem Relief die Passion dargestellt.
  • Zugleich aber ist die Kapelle auch ein Zitat des von den Muslimen 792 erbauten Felsendoms, den die Kreuzfahrer als den Tempel des Herrn templum Domini in Besitz nahmen, der über dem zerstörten jüdischen Tempel stehe.[8] Wie diese ist der Turm achteckig.
  • Angebaut ist schließlich das Grab Christi, architektonisch weniger auffällig, aber von der Erfahrung ähnlich wie in Jerusalem: Gebückt muss man hineinkriechen und kann dann in der Enge beten und meditieren; länger als dort, wo man in der Schlange der Pilger steht und nach zwei Minuten wieder den nächsten Platz machen muss. Viele Pilger nahmen Maß, um zu Hause eine Kopie herstellen zu können (169-176).

So beschreibt NM das Gebäude als „Erfahrungsraum der Passion“ (59-83). Der Vergleich mit der Heilig-Grab-Anlage in Görlitz, etwas später (1480-1520 entstanden) lassen diese und anderen Vergegenwärtigungen als Interaktion und Immersion, also Eintauchen in die Passion, verstehen, die die Grenze zwischen Bildraum und Realraum verwischen (84-109).

Der Zweite Teil erforscht die Ästhetik des Heiligen anhand der Orte, Materialien und Oberflächen (111-197).[9] Die in der Zeit vielfach dargestellten Arma Christi lassen die Folterung und Kreuzigung bildhaft vor Augen erstehen.[10] Unter den Reliquien ragt hervor ein Splitter vom Kreuz Christi in einem goldenen Kreuz eingelassen (154f, Abb. 148f). Dazu kommt der Leib Christi, der in jeder Messe konsekriert und gewandelt wird, so dass Christus leibhaftig anwesend und von den Gläubigen einverleibt wird.

Der Dritte Teil widmet sich Körper, Handlung und Kommunikation in der Jerusalem-Kapelle (199-277). Zunächst ist es eine Privatkapelle, zusammengebaut seit 1471 mit dem Wohnhaus der Unternehmer-Familie, der Wohnung des Kaplans, den Appartements der zwölf Witwen. Dann kamen von außerhalb an Festtagen weitere Besucher*innen, regelmäßig die Karmeliter und die Brügger Jerusalem-Bruderschaft. Dazu kommen Pilger/ Geschäfts­leute/ Reisende von außerhalb der Stadt.[11] Für die Familie war die Kapelle Memoria für die Verstorbenen, die in den Glasfenstern und auf dem Grab bei den Gottesdiensten immer anwesend waren.[12] Für die Witwen war Maria, die Trauernde, ein Typ der Identifikation. Die Karmeliter feierten vor allem die Passionswoche und das Fest der Erhöhung des Kreuzes (155f) am 14. September. (Die Quellen, die das belegen, sind im Anhang ediert) Die Bruder­schaft aber machte sich breit in der Kapelle und sicherte sich umfangreiche Privilegien. Das Gemälde des Brügger Malers Jan Provost vom Jüngsten Gericht (S. 267, Abb. 231), der selbst Mitglied in der Bruderschaft war, lässt die Mitglieder durchs Himmelstor schreiten, erkennbar an den Palmzweigen, die diese bei Prozessionen trugen.

Im Vierten Teil (279-340) fragt NM nach dem Verhältnis zwischen der Heiligen Stadt und der eigenen Stadt (Brügge). Sie stellt die gebaute Stadt als „Ereignisraum“ dar, in dessen Mittel­punkt die Aufführung und Performanz der Passion stand. Die Stadtkarte auf S. 286 zeigt die Prozessionswege und eine Bestrafung durch die Justiz, die ebenfalls Passion in der Öffent­lichkeit aufführt (283f). Stationen mit tableaux vivants, lebenden Menschen, die das Ereignis (nur) am Festtag darstellten, führten das historische Ereignis in die Gegenwart des Hier und Heute. Die für die Stadt wichtigste Prozession war die Prozession in und um die Stadt herum mit der Heilig-Blut-Reliquie, einem Glasgefäß, in dem das Blut Christi sonst versteinert, am Festtag aber wieder flüssig wurde. Eine Prozession wie viele aus dem Spätmittelalter, die eine anti-jüdische Spitze enthielt.[13] Zum Vergleich führt NM weitere Jerusaleme mit Prozessionen vor: Görlitz, Nürnberg, Florenz.[14]

Man muss noch einmal unterscheiden zwischen der Bezeichnung von Städten, die sich selbst beispielsweise das ‚heilige Köln‘ nennen,[15] und die Städte, die die Heilige Stadt Jerusalem in ihrer eschatologischen (anagogischen) Idealgestalt erbauen durch die Aufführung des Heils mittels der wichtigsten Heilsmaterialien, die gebaut, gegessen, davor gekniet, durchschritten, gehört und gesehen werden. NM spricht hier von Translation – das ist das Wort für die Über-tragung von Reliquien vom heiligen Ort in die eigene Stadt – und (allerdings erst spät im Text, S. 341) von Transformation, wenn die eigene Stadt zum Jerusalem wird. In Brügge sind architektonische Zitate an mehreren Orten in der Stadt zu finden (bes. 308-321).

Mit den herausragenden Abbildungen, 279 an der Zahl, davon viele in Farbe, Grundrisse mit farbigen Linien für Wegstrecken der Prozessionen kann man, auch ohne in Brügge gewesen zu sein, die ausgezeichneten Beschreibungen der Autorin gut nachvollziehen. Von einer lokalen Architektur ausgehend erklärt sie die Vernetzung der Kapelle in die Sakrallandschaft der Stadt, die rituellen Aufführungen von der täglichen Liturgie über die Jahresfeste, die Wallfahrten der Besucher von außerhalb, die auch andere Jerusaleme kennen‚ manche sogar mit eigener Erfahrung im Heiligen Land, wie ja auch die Auftraggeber in Brügge, die sich den Bau einen Teil ihres Besitzes kosten ließen. Die Heilstat Jesu (wie die Kreuzigung als Erlösung der Welt und jedes Einzelnen verstanden wurde) war nun ganz in der Nähe und jeden Tag erfahrbar.[16]

Das Buch ist ein wunderbar gestaltetes Werk: (1) sowohl in der Präsentation von Text und Bild. Nadine Mai führt die Lesenden und Schauenden mit all den aktuellen Diskussionen zur kulturwissenschaftlichen Kunstwissenschaft[17] die lokalen Details in Brügge vor Augen und erklärt den Sinn in gut durchdachten Texten (je mit einer Zusammenfassung jedes Kapitels) und weitet die Perspektive durch den Vergleich mit europäischen Beispielen sowie dem ‚authentischen‘ Jerusalem. Sodann (2) hat der Verlag das Buch opulent ausgestattet, eine Augenweide, mit festem Einband, fadengeheftet.  Ein Index wäre nicht schlecht gewesen, aber so lädt das Buch ein, es ganz zu lesen. Man erfährt, was historische Kunstwissenschaft zu bieten hat, auf höchstem Niveau! Eine Dissertation ist als Gesellenstück gedacht, hier ist sie das Meisterin-Werk.

 

Bremen/Wellerscheid, Februar 2023                                                       Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Allein für den Mittelrhein und das Rheinland enthält der Katalog 36 Grablegungsdarstellungen, die meisten aus der Zeit um 1500. Markus Maisel: Sepulchrum Domini. Studien zur Ikonographie und Funktion großplastischer Grablegungs­gruppen am Mittelrhein und im Rheinland. (Quellen und Abhand­lungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 99) Mainz 2002.

[2] Im Internet ist Nadine Mai als Politikerin zu finden mit der Selbstvorstellung: „1983 in Halle/Saale geboren, seit 2005 im Kreis Pinneberg zu Hause (Wedel/jetzt Uetersen), verheiratet, zwei Töchter. Promoviert in Kunstgeschichte/Mittelalterwissenschaften, Mitarbeit in Ausstellungen und Forschungsprojekten.“ Das Buch ist entstanden als Dissertation 2018 im Arbeitsbereich von Bruno Reudenbach, Kunstgeschichte der Universität Hamburg (Das renommierte Institut in Deutschland mit acht aktiven Professor*innen in der Tradition Aby Warburgs). In der Danksagung hebt sie außer den Spezialisten in Brügge Bianca Kühnel in Israel hervor (351f). Vgl. die Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/07/05/die-geburtskirche-in-bethlehem/ (5.7.2019). Im Folgenden kürze ich ihren Namen ab mit den Initialen NM.

[3] Kristin B. Aavitsland und Line M. Bonde (Hrsg.): Tracing the Jerusalem Code. Volume 1: The Holy City. Christian Cultures in Medieval Scandinavia (ca. 1100–1536). Berlin: De Gruyter 2022. Open access. https://doi.org/10.1515/9783110639438. Geplant sind Volume 2: The Chosen People. Christian Cultures in Early Modern Scandinavia (1536–ca. 1750). Volume 3: The Promised Land. Christian Cultures in Modern Scandinavia (ca. 1750–ca. 1920). Unter dem Gesichtspunkt der Jerusalem-Rezeption untersuchen die Bände das Bild, oder eher die Imagination Jerusalems in den religiösen, politischen und künstleri­schen Kulturen Skandinaviens.

[4] Hier ist besonders das Buch des Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896-1984) zu nennen, der nach seiner Karriere im Nationalsozialismus 1950 das Buch Die Entstehung der Kathedrale. Zürich: Atlantis 1950 (zuletzt 1988 wieder aufgelegt) schrieb; dem vorausgegangen war sein Pamphlet gegen moderne Kunst: Verlust der Mitte. Salzburg/Wien: Otto Müller 1948. Zu ihm gibt es eine kritische Biographie Maria Männig: Hans Sedlmayrs Kunstgeschichte. Eine kritische Studie. Wien: Böhlau 2016. Simon Morgenthaler: Formationen einer Kunstwissenschaft. Text- und Archivstudien zu Hans Sedlmayr. (Textologie 8) Berlin: De Gruyter 2020.

[5] Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religions­wissenschaftlicher Perspektive. (VMPIG 144) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002. Weiter ist wert­voll Justin Kroesen: The Sepulchrum Domini through the ages: its form and function. Leuven: Peeters 2000.

[6] Richard Krautheimer (1897-1984) musste, statt verdientermaßen auf eine Professur berufen zu werden, ins Exil flüchten – wie sehr viele Kunsthistoriker seiner Generation. In den USA lehrte er lange auf Stellen unter seinen Fähigkeiten, bevor er spät seine Forschungstätigkeit fortsetzen konnte, vor allem in Rom. Der Aufsatz „Einführung zu einer Ikonographie der mittelalterlichen Architektur“ (engl. 1942) wurde übersetzt in Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Kunstgeschichte. Köln: Dumont 1988, 142-197 (mit Postskripts). Dort auch Krautheimers Bibliographie 379-383.

[7] In Abb. 159 und 160 sind die beiden Gräber vergleichend abgebildet. Zum Gebäude in Jerusalem die genaue Beschreibung bei Max Küchler: Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007, 409-483.

[8] In dem in der gleichen Generation wie die Brügger Kapelle gedruckten enzyklopädischen Werk der Weltchronik des Hartmann Schedel 1493 findet man im Bild von der Zerstörung Jerusalems (Blatt LXIII/ LXIIII) die beiden Gebäude klar unterschieden (anders als Jerusalem auf XVII). Die Al-Aqsa-Moschee nahmen die Tempelritter als Salomons Tempel, templum Salomonis in Besitz.

[9] Nicht bekannt sind der Autorin die Konzepte und Ausarbeitungen der Religionsästhetik in der Religionswissenschaft, die 1. Das Heilige/Sakrale in seiner Ambivalenz aufzeigen, 2. Das Ritual hervorheben, 3. Die Wahrnehmung Aisthesis αἰστθησις vor der ästhetischen Wertung und Emotionalisierung beobachten und 4. Die Bewegung bei der Aisthesis einbeziehen. Dazu etwa Hubert Mohr: Wahrnehmung/Sinnessystem. Metzler Lexikon Religion 3(2000), 620-633. Christoph Auffarth: Wie ändern die Reformationen das Bild einer Stadt? Die zwei Reformationen in Bremen. Religionsästhetik als verknüpfendes Konzept, in: Tilman Hannemann (Hrsg.): Studien zur Reformation in Bremen. (VIRR Veröffentlichungen des Instituts für Religionswissenschaft und Religionspädagogik 8) Bremen 2016, 27-82. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00105487-18 (3.9.2016). Michael Stausberg: Auschwitz and the Meta-Topography of the Sacred. Saeculum 71, 2 (2021), S. 319–339.

[10] Arma Christi sind die Werkzeuge und Waffen, mit denen Jesus gequält wurde: die Säule der Geißelung, die Geißel, die Dornenkrone als Verspottung des ‚Königs der Juden‘, Hammer und Nägel, der Rock und die Würfel, die Lanze für den Stich in die Seite als fünfte Wunde Jesu. Manchmal ist auch der Hahn zu sehen, als Zeichen, dass Petrus Jesus dreimal verleugnete. Das Brügger Relief S. 116f, Abb. 115f. Zum Titulus, dem Schild am Kreuz, das den Gekreuzigten in drei Sprachen als „Jesus von Nazareth, König der Juden“ ausweist (Abb. 128), jetzt ausführlich Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton: The Art of Discovery. Digging into Past in Renaissance Europe. Princeton 2022, 109-161, die das Authentische der Schrift dem Authentischen von Reliquien gleichstellen (die es vom Auferstandenen Christus ja nicht geben kann, so dass nur Berührungsreliquien wie das Kreuz oder das Schweißtuch der Veronika existieren).

[11] Michael Stausberg hat in Religion und moderner Tourismus (Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010) betont, dass neben ‚religiösen‘ Zielen immer auch andere Interessen eine Rolle spielen.

[12] Die Grab-Tumba in der Mitte der Krypta 217-227.

[13] Das Thema habe ich erst ganz spät (346) angesprochen gesehen. Heilig-Blut-Prozessionen sind grundlegend bearbeitet bei Manfred Eder: Die ‚Deggendorfer Gnad‘. Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte. Deggendorf: Passavia 1992.

[14] Zu Prozessionen in mittelalterlichen Städten Frankreichs s. Ludolf Kuchenbuch; Joseph Morel: Dieter Scheler: La construction processionelle de l’espace communautaire. In: D. Boisseuil et al. (ed.): Écritures de l’espace social. Paris: Sorbonne 2010,139-182.

[15] Ein interessanter Text klärt: diese Städte sind nicht heilig, sie werden nur so genannt. So der Dominikaner Thomas von Cantimpré im Bonum Universale de Apibus 2,53.6 und dazu die Bemerkung in meiner Rezension: Das Vorbild für eine ideale Gemeinschaft: der Bienenstaat: Julia Burkhardt: Von Bienen lernen. Das Bonum Universale de Apibus das Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf. 2020. ISBN 978-3-7954-3505-9. 76 €. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/21/von-bienen-lernen/ (21.6.2021). – „Das heilige Köln“ ist das Leitmotiv in der neuen Geschichte der Stadt Köln, Band 2, Karl Ubl: Köln im Frühmittelalter. Köln: Greven 2022.

[16] Interessant ist der umgekehrte Fall: Hans Holbein lässt den Engel dem Seher Johannes das neue Jerusalem zeigen (Offenbarung 21 in dem Basler Nachdruck von Luthers September-NT-Testament vom Drucker Thomas Wolff 1523) und man sieht das Stadtporträt von Luzern, erkennbar an der Holzbrücke: Philipp Schmidt: Die Illustrationen der Lutherbibel 1522-1700. Basel: Reinhardt 1977, 122 und Abb. 71, = 21-22.Zwingli.jpg (600×924) (johannesoffenbarung.ch (13.02.2023).

[17] Die Arbeiten des Doktorvaters Bruno Reudenbach und die Anregungen derer, die im berühmten Hamburger Institut Kunstgeschichte betreiben und das internatio­nale Netz des Forschungsprojektes Spectrum. Visual Translations of Jerusalem finden sich durchgehend in dem Buch tiefgreifend aufge­nommen.

Koran und Bibel

Wolfgang Reinbold

Koran und Bibel: Ein synoptisches Textbuch für die Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2022
XXVIII, 940 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-525-63413-4
55.-

 

Textbuch für eine Religionsfamilie

Eine Rezension von Manfred Spieß

Nur wenige Christen lesen den Koran, nur wenige Muslime lesen die Bibel. Diese – wie ich finde – unbefriedigende Feststellung kennzeichnet sicherlich den gegenwärtigen Stand. Für den interreligiösen Dialog ist hier also noch viel ‚Luft nach oben‘. Zwar gibt es schon länger zahlreiche Dialogveranstaltungen zu Christentum und Islam in Deutschland, die sich mit vielen wichtigen Fragen des gesellschaftlichen Umgangs beschäftigen. Auch theologische Grund- und Grenzfragen werden hin und wieder erörtert; hier beteiligen sich in letzter Zeit verstärkt auch verschiedene islamische und jüdische Organisationen und Einzelpersonen.[1] Etliche Kirchengemeinden und Moscheen haben auf lokaler Ebene gute Kontakte zueinander. Einzelne ‚Leuchttürme‘, wie das Haus der Religionen[2] in Hannover und das im Aufbau befindliche House Of  One [3] in Berlin stärken und festigen auch überregional diese Bemühungen. Mit berechtigter Hoffnung kann man also für die Zukunft eine intensivere Dialogtätigkeit erwarten. Für die schulischen Religionsunterrichte und die multikulturelle Situation in den Schulen sollte in dieser Beziehung auch stärkere Unterstützung stattfinden. Gerade der zunehmende Rassismus gegen Juden und Muslime bedarf des entschiedenen Einsatzes für Menschenrechte und Demokratie.[4]

Das besondere Miteinander von Bibel und Koran ist in der Öffentlichkeit allenfalls diffus, zumeist aber noch gar nicht wahrgenommen worden. Zwar erschien mit „Die Bibel im Koran“ von Karl-Josef Kuschel[5] 2017 ein umfassendes Werk, das viele Überschneidungen aber auch Unterschiede aufzeigt. Noah, Abraham, Joseph, Moses, David, Maria und Jesus erscheinen durch Lektüre im Koran auf spannende Weise in neuem Licht. Das Gespräch zwischen Muslimen und Christen darüber ist aber kaum über Anfänge hinausgekommen. Dass es sich bei Juden, Christen und Muslimen um eine „Religionsfamilie“ handelt, wie Wolfgang Reinbold deutlich konstatiert[6], wird noch längst nicht von vielen so gesehen.

Mit dem synoptischen Textbuch zu Koran und Bibel, das Wolfgang Reinbold vorgelegt hat, erschließen sich nun neue Möglichkeiten. Das umfangreiche Buch stellt die 114 Suren des Koran in der deutschen Übersetzung von Adel Theodor Khoury vor – jeweils in der Mitte der Seite angeordnet. Darunter findet sich die Transliteration der arabischen Verse und die Angabe von weiteren Koranstellen[7]. In den Spalten rechts und links wird der Blick auf inhaltlich verwandte Texte aus der Bibel (sog. „Altes“ und „Neues Testament“) und aus anderen antiken Quellen gelenkt: jüdische Schriften mit prohetisch-apokalyptischen Inhalten, Babylonischer Talmud und Mischna, christliche nichtkanonische Evangelien und Erzählungen über Jesus und Maria.[8] Zahlreiche Verbindungen zu den „Hadithen“, den Erzählungen vom Leben und den Aussprüchen des Propheten Muhammad, werden textlich belegt.
Es zeigt sich ein großer Reichtum an Beziehungen zwischen Bibel und Koran. Wir finden sehr viele Anklänge an die ‚5 Mose-Bücher‘ (Pentateuch), an Psalmen[9] und an prophetische Literatur; Jesaja und Ezechiel ragen bei letzterer besonders hervor. Das synoptische Textbuch bietet diese Parallelen in prägnanten Auszügen an. Wer weiter forschen will, kann aufgrund der Quellenangaben (Quellen und Sekundärliteratur: 927-931) tiefer eindringen.[10] Die synoptische Anordnung in drei Spalten macht die Koransuren (in mittlerer, breiterer Spalte) und die Verweise anschaulich lesbar. Leserinnen und Leser werden eingeladen, auch die anderen Stimmen neben den koranischen Texten anzuhören. Für viele wird es Neuland sein, durch Hadithe Erzählungen über den Prophten Muhammad kennen zu lernen. Dass im syrisch-arabischen Raum der Spätantike zahlreiche christliche Schriften beliebt und im Umlauf waren, obgleich sie nicht im Kanon zu finden waren, wird deutlich. Auch die enge Bezogenheit auf biblische und außerbiblische jüdische Überlieferungen fällt ins Auge.

Wolfgang Reinbold verzichtet ausdrücklich darauf, die angeführten Texte zu kommentieren oder sie historisch einzuordnen. Diese bewusste Zurückhaltung ist verständlich, denn aufgrund der Fülle des Materials wäre ein solches Vorhaben dem Anliegen eines praxisorientierten Textbuches nicht dienlich.[11]

Viele Möglichkeiten des Einsatzes tun sich auf. Bei der Ausbildung von Lehrkräften im schulischen und im kirchlichen Bereich kann das Textbuch Koran und Bibel helfen, die interreligiösen Kenntnisse zu vertiefen. Die traditionelle monokonfessionelle Ausbildung bedarf in dieser Hinsicht – wie inzwischen öfter gefordert – einer fundierten Ausweitung. Im schulischen Religionsunterricht christlicher bzw. islamischer Prägung, oder auch religionsübergreifend (wie in Bremen und Hamburg) können, je nach Situationserfordernis, die Quellentexte dieses Buches eine wichtige Rolle spielen.
Für dialogisch interessierte Menschen aus christlichen und muslimischen Gemeinden bieten sich hier ausgezeichnete Möglichkeiten, neue Entdeckungen zu machen. Und einfach neugierige Menschen, die sich informieren wollen, was im Koran zu lesen ist, erhalten mit diesem Buch eine sehr ansprechende Möglichkeit, ihr Interesse zu befriedigen. Denn, so habe ich festgestellt, fängt man an zu lesen, so steigt die Lust, Seite um Seite weiter zu forschen. Neuland kann so spannend sein!

Dr. Manfred Spieß
Oldenburg. Februar 2022

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[1] Hier ist besonders die „Alhambra-Gesellschaft“ mit ihren vielfältigen Aktionen zu nennen. Eine neue jüdisch-islamische Initiative „Schalom Aleikum, Deutschland“ wurde im Jahr 2022 gestartet: https://www.denkfabrik-schalom-aleikum.de/

[2] https://www.haus-der-religionen.de/ . Dr. Wolfgang Reinbold ist 1. Vorsitzender dieses Hauses. Und Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen sowie Beauftragter für Kirche und Islam im Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

[3] https://house-of-one.org/de

[4] Beispielhaft sei hier verwiesen auf https://www.claim-allianz.de

[5] Karl-Josef Kuschel: Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Patmos-Verlag 2017. – Dieses Buch ist eine ideale Ergänzung zum synoptischen Textbuch „Koran und Bibel“. Denn hier werden die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge vorgestellt, auf die W. Reinbold im Textbuch ausdrücklich verzichtet.

[6] „Das merkt jeder Leser und jede Leserin sofort, die einmal die Bibel und den Koran nebeneinandergelegt hat“ (937).

[7] Die innerkoranischen Querverweise helfen bei der thematischen Erschließung. Viele Themen werden in verschiedenen Suren, die unterschiedlichen Kontexten zugeordnet werden können, erneut aufgenommen, manchmal dabei auch situationsorientiert modifiziert. Da die Anordnung der 114 Suren im Koran keiner zeitlichen Abfolge der Verkündigung entspricht, sondern meist nach der Länge der Suren sortiert ist, helfen die Querverweise bei der Orientierung.

[8] Register II (917-925) belegt beispielsweise „Apokalypse Abrahams“, „Apokalypse des Mose“, „1. Henoch“, Buch der „Jubiläen“, das „Protevangelium des Jakobus“ und viele andere mehr. Gerade hier zeigt sich die Verflochtenheit der koranischen Verkündigung mit der bewegten Religionswelt der Spätantike, insbesondere im syrischen, byzantinischen und arabischen Raum (Hedschas).

[9] Das Register „Bibel“ (IX – XXVII) weist für Psalmen mehr als 300 Bezüge zu koranischen Versen auf!

[10] Zahlreiche Quellen, besonders zu den außerbiblischen Schriften, sind auch im Internet auffindbar.

[11] Diesbezüglich wird im Vorwort auf das große Projekt „Corpus Coranicum“ verwiesen: https://corpuscoranicum.de/de .Dort wird der Koran Vers für Vers historisch-literarisch untersucht und chronologisch eingeordnet. Bereits jetzt liegen Ausarbeitungen zu vielen Suren im Internet zugänglich vor. Eine Initiatorin des Corpus Coranicum ist Angelika Neuwirth. Ihr Werk „Der Koran als Text der Spätantike“ (1. Aufl. 2010) prägte die Grundlagen dieser religionshistorischen Forschung. „Solche Bücher werden nur alle hundert Jahre geschrieben“, lobt der Religionswissenschaftler Christoph Auffarth in seiner Rezension.

Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda

Friedrich Erich Dobberahn:
Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda.

Umdeutung von Bibel, Gesangbuch und Liturgie 1914-1918.
Mit einem Vorwort von Günter Brakelmann.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021

 

Religiöse Kriegspropaganda 1914-1918.
Keine Wiederkehr des Gleichen

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine riesige Sammlung zur religiösen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg ausgehend vom Heft einer Konfirmandin. Kein Kramladen, sondern gut gegliedert und beschrieben. Die zeitgenössischen Stimmen, weit über Pfarrer, Theologie hinaus, sind authentisch zu lesen.

Ausführlich:

Wie können Christen den Krieg nicht nur rechtfertigen, sondern ihn sogar als Heilige Tat für ihren Gott gutheißen? Mit Entsetzen sieht man, wie der russische Patriarch Kyrill den Angriffskrieg der russischen Föderation, zumal seines Präsidenten Wladimir Putin, als Teil der Heilsgeschichte seinen Gläubigen anpreist. Der erste Weltkrieg wurde von allen Seiten durch eine Kriegstheologie zum Heiligen Krieg erklärt, jeden Tag schlossen die Soldaten den Gürtel mit der Koppel „Gott mit uns“, besuchten Kriegsgottesdienste, beteten neu formulierte Kriegsgebete, erhielten den Schwertsegen, zu Hause Dankgottesdienste und zunehmend Gefallenengedenken. Der Krieg wurde zur religiösen Pflicht überhöht, Menschenleben als „Opfer“ verklärt.[1] Der Erste Weltkrieg ist nicht nur „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Verkettungen, sondern auch für den Glauben der Christen während des „Dritten Reiches“. Nicht die Splittergruppen der völkischen Religionen, sondern das zur Kriegstheologie transformierte Christentum mit seinem Gott, der zum Diener nationalen Hasses herhalten sollte, war der Nährboden des Verbrechens.[2] Zur Kriegstheologie, die sowohl Protestanten wie Katholiken wie Juden entwickelten und zur Frömmigkeit der Gläubigen gibt es eine umfangreiche Literatur.[3] Das hundertste Jahr nach dem Kriegsbeginn brachte, viel beachtet, neue Forschungen hervor. Ein Nachzügler ist das hier vorzustellende Buch. Trotz des Umfangs versucht der Autor Friedrich Erich Dobberahn in diesem Buch keine Gesamtdarstellung oder die vielfältigen Theologien des Krieges zusammenzustellen (63) – wohl aber in Kenntnis einer riesigen Menge an zeitgenössischen Äußerungen und umfassenden Kenntnis der Forschung –, sondern geht aus von einer Quelle im Familienarchiv. Das Protokollbuch einer Schülerin am Internat in Potsdam, das den Konfirmandenunterricht eines Gemeindepfarrers, Theodor Krummacher in Potsdam, und seiner Konfirmandin Ellen Richter notiert in einem Heft die wichtigsten Inhalte des Unterrichts, der zeitlich mit dem Beginn des Krieges zusammenfällt. Das Heft und eine Art Tagebuch (349), das zunehmend „ins Oppositionelle hineingespielt hat“, ist in der Familie überliefert. FED hat gesammelt nicht nur, was an Gedrucktem zur im engeren Sinne Theologie aus dem Ersten Weltkrieg überliefert ist, sondern auch die Medien, in denen Frömmigkeit und Glaube vermittelt und geteilt wurde: Lieder, Gebete, Postkarten für die Soldaten und aus dem Felde, also intentionale und auch etwas die gelebte Religionspraxis. Er begreift das Ganze unter dem Konzept „ästhetizisti­sches Sprachverbrechen“ (63). Das heißt, die Kriegspredigt, die Kriegspostkarten, -lieder, Konfirmandenstunden im Kriege sind Verpackungen der Lüge vom guten Krieg, vom parteiischen Gott auf der jeweiligen nationalen Seite. Der Krieg wird geschönt, die Ziele des wechselseitigen Tötens für moralisch nötig erklärt, religiös als „Opfer“ zur Pflicht erhoben.[4]

Die Präsentation einer riesigen Sammlung, ein Lebenswerk

In sieben Teilen führt FED seine Forschungen zusammen (Vorausschau Seite 71-75).

Erster Teil: Das theologische Ornament als Verbrechen (101-170)Zweiter Teil: Religionspädagogik und Kriegstheologie (171-388)

Dritter Teil: Gottesdienstliches Leben und Kriegstheologie (389-510).

Vierter Teil: Meinungslenkung und Resonanz der Protestantischen Kriegstheologie (511-632).

Fünfter Teil: Auswirkungen der Kriegsideologie und -theologie nach dem verlorenen Weltkrieg – die weiteren Lebenswege Krummachers und seiner Konfirmandin. (633-674)

Sechster Teil: Schlussanalyse und Ausblicke (675-774).

Der siebte Teil bietet die Transkription des Heftes der Konfirmandin, das in der Familie überliefert ist (776-801).

Der Verfasser Friedrich Erich Dobberahn (*1950) ist ein äußerst gelehrter Theologe und Germanist mit außergewöhnlichen Interessen und Kenntnissen.[5] Das Buch umfasst mit seinen 1286 Seiten neben dem Text einen Anhang (siebter Teil) mit der Transkription des Konfirmandenheftes (27 Seiten) rund 350 Seiten Anmerkungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis auf 110 Seiten, ein Namensregister, 48 Abbildungen.

Schwächen in der Konzeption: „Kontinuität“ und Differenzierungen

Bevor ich meine Begeisterung über dieses Buch und die umfassende Sammlung von Materi­alien in der gut geschriebenen Darstellung zum Ausdruck bringe, will ich ein paar grund­sätzliche Fragen notieren, die ich an den Grundlinien dieser Konzeption anders sehe:

  • Es gebe eine Kontinuität, eine ungebrochene Kontinuität der Kriegstheologie seit der konstantinischen Wende (seit 312 n.Chr.), die geradewegs zum verbrecherischen Angriffskrieg Hitler auf ganz Europa und den Weltkrieg führte. Theodor W. Adorno zitierend ist der Erste Weltkrieg der vorletzte Schritt, auf den „der Schatten des Hitler‘schen Reichs“ voraus [!] fiel und schon „seinen Bann ausübte“,[6] ja FED geht soweit, dass die Entwicklung der protestantischen Kriegstheologie ab 1914 auch für den Holocaust-Eliminationismus in Deutschland mit verantwortlich war.[7] In dem augenblicklichen Streit um die Frage, wie weit das Kaiserreich schon die Weichen gestellt habe für das „Dritte Reich“, hat Christoph Nonn in seinem Buch gezeigt, dass das Kaiserreich zwei Entwicklungen hervorgebracht hat: die nationalistische autoritäre Herrschaft und das Ende der Monarchie, die Stärkung des Parlaments, den Weg zur Demokratie.[8] Richtig kann man von Kontinuität sprechen im Bezug auf die Poetik des Krieges seit den Napoleonischen Kriegen, die FED in Kapitel 11 und 12 behandelt (511-555).

Immer wieder zitiert FED – ohne die genaueren historischen Kontexte – Texte aus unterschiedlichen Epochen. Für das Wortspiel malitia – militia (Bosheit – Kriegsdienst) beispielsweise zitiert er (61 + Anm. 292) Matthias Heimbach (1666-1747) in seiner Schaubühne des Todes. Dass der Trierer Dompredi­ger nach dem Dreißigjährigen Krieg kein Beispiel für protestantische Kriegstheologie sein kann, entgeht FED. Das Wortspiel übernimmt der Jesuit aus Bernhard von Clairvaux, der es prägte in De laude novae militiae (kurz vor 1130) zur theologischen Rechtfertigung für den gerade entstandenen Ritterorden, also die Elitetruppe der Kreuzzüge, deren Mitglieder sowohl Mönche als auch Berufs­krieger waren. Was die meisten Theologen bis dahin abgelehnt hatten, den bewaffneten Krieg, weil er malitia Bosheit erzeugt, und stattdessen den Krieg gegen die (eigenen) Sünden als militia Christi der unbewaffneten Nonnen und Mönche propagiert hatten, das verbanden beides die Ritterorden und Bernhard gab die theologische Rechtfertigung – und andere widersprachen (Deus non vult „Gott will nicht [die Kreuzzüge]“.[9] – Ein zweites Beispiel: Der ungeheure verhängnisvolle Einfluss Luthers (63): Längst hat man die Rede vom ‚Einfluss‘ oder der ‚Wirkung‘ oder der ‚Macht‘ als falsch erwiesen. Im Unterschied dazu muss man von Rezeption sprechen: Nicht Luther ist der Aktive, sondern diejenigen, die seine Rechtfertigung für das preußisch-protestantische Deutsche Reich anwendeten. Luther riet dazu, dass die Berufsarmeen die Revolution von 1525 („Bauernkrieg“) verhindern sollten und konnten, aber man muss auch Luthers Entsetzen und Reue mit reflektieren, als er vom Gemetzel erfuhr. Das war nicht die erhoffte Ordnung Gottes. Die nationalistische Rezeption des ‚germanischen‘ Luther ab Luthers 400. Geburtstag 1883 auf der einen, die Kritik de Lagardes, dass Luther die deutsche Reformation verhindert habe, auf der anderen Seite sind nicht „der Einfluss Luthers“.

  • Ambivalenzen und Zäsuren. Auch ich sehe in der Kriegstheologie der Ersten Welt­kriegs das Saatbeet für die christliche Akzeptanz des Nationalsozialismus und seines gewaltbereiten Militarismus weit über die Deutschen Christen hinaus.[10] Aber es gibt da entschiedene Zäsuren und Transformationen. Das eine ist die Neuformulierung einer Kriegstheologie in den Kriegen gegen Napoleon. Hier wird der „Heilige Krieg“ ausgerufen.[11] Das andere ist das Epochenjahr 1917/18. Was längst schon Realität geworden war, dass der Krieg technisiert wurde, d.h. dass die Soldaten sich nicht mehr sahen, Mann gegen Mann, sondern eine Kilometer entfernt abgefeuerte Granate in den Unterstand einschlug, Giftgas sich in die Schützengräben senkte, Flugzeuge Bomben abwarfen, Stahlkolosse auf Ketten alles zermalmten: Da war kein Held mehr, der ‚mit seinem Schwert‘ in der Hand in einem Geniestreich eine Schlacht entscheiden konnte. Auch in den Köpfen hatte sich etwas radikal verändert: Der Krieg hatte gesellschaftliche Konventionen aufgelöst und entlarvt. So verlangte das Epochenjahr 1917 neue, radikale Entwürfe.
  • Die Unterscheidung von ius ad bellum religio ad bellum und religio in bello: also die Rechtfertigung zum Krieg, juristisch und religiös – im Unterschied zur Religion im Krieg, die seelsorgerlichen (paränetischen) Formen des Zuspruchs für die Sterben­den, die täglich vom Tode Bedrohten und die Familien, von denen ein männliches Mitglied gefallen ist, oft damals ‚der Ernährer‘, oder gar verkrüppelt selbst Unter­stützung braucht.[12] Wichtig ist auch die von FED gezeigte Möglichkeit der Alter­native, indem die Konfirmandin als erwachsene Frau sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss (658-673), während der alt gewordene Konfirmator seine Kritik kaum äußerte, weil die Kirche ohnmächtig sei (633-657).

Alle Kritik ist eine Kleinigkeit angesichts der unglaublichen Fülle an ausgebreitetem und ausgezeichnet belegtem Wissen, das über Jahre gesammelt, in den Lebensstationen im Ausland, in der frappierenden Kenntnis von Sprachen[13] und dank der Sammelleidenschaft in diesem umfangreichen Buch. Darunter befinden sich auch 48 Abbildungen, die nicht schon überall abgebildet zu finden sind. Ein Schatz ist entstanden mit so vielen Details, die man nicht missen möchte, die zeitgenössischen Stimmen bzw. die veröffentlichte Meinung. Und das nicht in einer Kiste zum Kramen, sondern sehr gut in die Argumentation eingebunden. Auch dem Verlag (und den Geldgebern) ist zu danken, dass er nicht darauf drängte, das Buch zu kürzen, sondern das Buch in seiner überbordenden, trotzdem lesbaren Form mit all den Gedichten, Liedern, Postkarten, Predigten gedruckt hat. Dabei beschränkt sich FED aber nicht streng auf kirchliche Literatur, sondern bezieht sich auch immer wieder auf Robert Musil, Karl Kraus oder Kurt Tucholsky. So bleibt der Dank für eine bereichernde Lektüre zur religiösen Geschichte des Ersten Weltkriegs, in dem auch etwa jüdische Stimmen (492-510) und (französische bzw. belgische, seltener englische) Stimmen zu Wort kommen. Das ist mehr als die etwas hastige Zusammenstellung von Martin Greschat[14] oder die Konzentration nur auf die Predigten. Die Nähe zum Kaiserhof von Konfirmator und Konfirmandin sind gut reflektiert. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf eine Religionsgeschichte des Ersten Welt­kriegs, aber es bietet eine hervorragende, detaillierte Vorarbeit dazu.

 

Bremen/Wellerscheid, Januar 2023                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:  auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Zu Opfer im Ersten Weltkrieg (mit dem Beispiel eines französischen Juden, der sich selbst opfert für die ‚Auferstehung‘ Frankreichs) Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023.

[2] Thomas Schirrmacher (Sprecher der evangelischen Allianz und der Evangelikalen weltweit) hat in seiner religionswissenschaftlichen Dissertation (2007 bei Karl Hoheisel in Bonn) versucht, Hitlers Christentum als Kriegsreligion als das Gegenteil zum Christentum zu erklären, hat dabei aber nicht die Kriegstheologie der Kirchen im Ersten Weltkrieg erkannt.

[3] Zur Religionsgeschichte nenne ich nur die exzellente Lokalstudie Roger Chickering: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914 – 1918. Paderborn: Schöningh 2009. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen: Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 2006. Zur aktiven Fortführung zwischen den Kriegen (mit meiner Rezension) Der Friede, der nur ein zeitweiliger Nicht-Krieg war. Die Bedeutung der Religion im öffentlichen Diskurs Münchens 1914-1939. Andreas Holzem; Antonia Leugers: Krieg und Frieden in München 1914-1939. Topgrafie eines Diskurses. Darstellung und Dokumente. Paderborn: Schöningh 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/07/23/krieg-und-frieden-in-muenchen/ (23.Juli 2021).

[4] Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023, Kapitel 8, S. 197-228.

[5] Die Biographie (S. [1287]) nennt seine Bonner Promotion zu äthiopischen Zauberpapyri (Dr. phil.) und einem Vergleich alttestamentlicher mit islamischer Prophetie (Dr. theol.). Er lehrte nach seinem Pfarramt acht Jahre in Sao Leopoldo/Brasilien Altes Testament, dann am Missionsseminar in Hermannsburg und an der CVJM-Hochschule in Kassel. – Den Namen kürze ich im Folgenden mit den Initialen FED ab.

[6] Seite 67. Das Zitat ist Anm. 349 nachgewiesen „Adorno 2016, S. 111“. Theodor [Wiesengrund] Adorno ist 1969 gestorben. Die Jahresangabe 2016 für das Buch ist korrekt, aber um den historischen Kontext zu finden, in dem Adorno diese Aussage getroffen hat, ist die Angabe irreführend. Dazu braucht es das Jahr der Erstausgabe. Die fehlt bei vielen bibliographischen Angaben. Wenn man wie FED von einer ungebrochenen Kontinuität ausgeht, dann ist das nebensächlich, für historische Differenzierung aber unbedingt notwendig. Wie etwas rückwärts „seinen Bann ausüben“ kann, ist historisch unmöglich.

[7] FED 67 „…, dass die Entwicklung der protestantischen Kriegstheologie ab 1914 – insbesondere in der apokalyptisch-darwinistischen Ausformung durch Reinhold Seeberg (1859-1935) – mitverantwortlich war für die Grundlegung des von Daniel Jonah Goldhagen definierten Holocaust-Eliminationismus in Deutschland.“ [„Eliminatorischer Antisemitismus“ ist der Begriff für den rassistische begründeten Antisemitismus, dessen Ziel die Vernichtung/Elimination aller Juden sei]. Die Forschung hat heraus­gestellt, dass der von den Nationalsozialisten verübte Genozid an den Juden Europas nicht die unaus­weichliche Konsequenz des überall in Europa grassierenden Antisemitismus war. Vielmehr kam es erst dazu, als die staatliche Herrschaft den ungeheuerlichen Beschluss fasste und organisierte. Goldha­gens These, dass ‚die Deutschen‘ Hitlers willige Vollstrecker gewesen seien, hat sich als viel zu ein­seitig erwiesen.

[8] Christoph Nonn: Zwölf Tage und ein halbes Jahrhundert. München: Beck 2020. Vgl. auch die Entwick­lung von Ernst Troeltsch, der vom Ende der Monarchie überrascht war, dann aber mit voller Kraft sich in der Regierung der Weimarer Republik engagierte. Dazu die Briefe-Ausgabe in der Kritischen Gesamtausgabe Band 21 (Berlin: de Gruyter 2018), vgl. Band 22, 504 v.a. mit der Einleitung von Friedrich Wilhelm Graf (und die Biographie, München: Beck 2022).

[9] Christoph Auffarth: Heilsame Gewalt? Darstellung, Notwendigkeit und Kritik an Gewalt in den Kreuzzügen. In: Manuel Braun; Cornelia Herberichs (Hg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginati­onen. München: Fink 2005, 251-272.

[10] Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des National­sozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442. – Falsch ist die Zuschreibung einer dem Christentum fundamental widersprechenden Hitlers Kriegsreligion, wie sie Thomas Schirrmacher Bonn 2000 sorgfältig aus Zitaten herausarbeiten wollte, ohne andere Stimmen zu berücksichtigen. Und auch hier wieder ist das kein protestantisches Phänomen. Vgl. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/11/12/pastoren-schleswig-holstein-in-der-ns-herrschaft/ (12.11.2022).

[11] Wichtig Klaus Schreiner und Friedrich Wilhelm Graf, etwa in Klaus Schreiner (Hrsg.): Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich. (Schriften des Historischen Kollegs 78) München: Oldenbourg 2008 (auch online das PDF).

[12] Wie ein Bremer Pastor das ius ad bellum, die Rechtfertigung des Krieges als Verbrechen brandmarkte, aber in seinen Predigten religio in bello praktizieren musste, die Familien trösten, die einen aus ihrer Mitte beklagten, s. Auffarth: Religion in Bremen im Ersten Weltkrieg: Zuspruch und Widerspruch. In: Lars U. Scholl (Hrsg.): Bremen und der Erste Weltkrieg. Kriegsalltag in der Hansestadt. = Jahrbuch der Wittheit 2012/13. Bremen: Falkenberg 2014, 146-160. Auch ich habe die Konfirmation als die zentrale Gelegenheit im Lebenslauf protestantischer Christinnen und Christen gewählt.

[13] Das gehört zu den überbordenden Stücken, dass FED die Pädagogik des Konfirmandenunterrichts vergleicht mit eine Griechisch-Stunde im Nationalsozialismus (337-346). Aber auch das ist mit großer Kenntnis, sorgfältiger Nachrecherche dargestellt und mit Anmerkungen versehen (die ich aus der Arbeit zu meinem Aufsatz zum Gräzisten Werner Jaeger gut kenne und nicht ergänzen muss).

[14] Martin Greschat: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick. Stuttgart: Kohlhammer 2014.

Babel-Bibel-Streit

Eva Cancik-Kirschbaum und Thomas L. Gertzen (Hrsg.):
Der Babel-Bibel-Streit und die Wissenschaft des Judentums.

Beiträge einer internationalen Konferenz vom 4. bis 6. November 2019 in Berlin.
(Investigatio Orientis 6)
Münster: Zaphon 2021. 334 Seiten. 58 €
ISBN 978-3-96327-098-7

 

Die Leugnung des jüdischen Anteils an der deutschen Kultur:
Eine hitzige Debatte im Kulturschub 1900

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine Ausstellung und Vorträge zu einer öffentlichen Kontroverse um 1900, ob der jüdische Teil der Bibel wertlos sei, weil in Babel, im Exil abgeschrieben.

Ausführlich:

Der „Babel-Bibel-Streit“ blieb nicht eine Kontroverse unter Wissenschaftlern, sondern erregte die Öffentlichkeit besonders in der Hauptstadt Berlin kurz nach der Jahrhundertwende 1900: Die drei Vorträge im größten Saal in Berlin, der ‚Singakademie‘, im Beisein des Kaisers, das Presse-Echo mit Karikaturen (von denen hier sehr sprechende Beispiele abgebildet sind), öffentliche Stellungnahmen der Pastoren am Kaiserhof und andere Theologen besonders der alttestamentlichen Wissenschaft (derer sich die Professoren rühmten als Weltspitze), Veröffentlichung der Reden, Theaterstücke erregten die Öffentlichkeit über mehrere Jahre.[1] Der Streit ging um die Grundlagen des Kulturprotestantismus, der prägenden ‚Leitkultur‘ des protestantisch-preußischen Deutschen Kaiserreiches (1871-1918), seine außenpolitischen Ambitionen als Kolonialreich, das im Imperialismus seinen Platz an der Sonne noch suchte, als die Welt schon in weltweite Imperien der Europäischen Staaten aufgeteilt war. Meso­potamien (Syrien, Irak, Persien) war eine Region, auf die der Kaiser in seinem ‚persönlichen Regiment‘ die Augen gerichtet hatte und mit dem Osmanischen Reich die Bagdad-Bahn (mit geplantem Abzweig nach Mekka für die Pilgerfahrt der Muslime) von deutschen Ingeni­euren bauen ließ. Er war am Islam und an der islamischen Kultur interessiert, deren Wurzeln im Alten Orient zu finden wären. Da präsentierte der Professor für die Wissenschaft vom Alten Orient der Öffentlichkeit deren Aufsehen erregenden Ergebnisse. Nur kurz davor hatte der Kaiser mit Frau und einer enormen Begleitung eine Reise nach Jerusalem unter­nommen, um dort die von seinem Großvater begründete (den Grundstein gelegte) Erlöser­kirche nun einzuweihen und karitative Einrichtungen wie das Hospital auf dem Skopusberg (gewissermaßen die Verlängerung des Ölbergs) zu stiften, aber die wenigen dort lebenden Juden und die (extra aus Europa angereiste) Zionisten-Delegation der Juden, die um Unter­stützung für die Gründung eines jüdischen Staates erbaten, wies er ab. Stattdessen ließ er auf der Hinfahrt in Damaskus einen Siegeskranz am Grab des großen, toleranten Gegners der Kreuzfahrer, Saladin, anbringen. Ein Schwerpunkt des neuen Buches gilt der antisemitischen Spitze des Babel-Bibel-Streites, der einen Nährboden in der beginnenden antisemitischen Bewegung fand – dem damals allerdings noch eine kräftige Gegenbewegung entgegentrat. Die Wissenschaft vom Judentum bekam keine Professuren an deutschen Universitäten – in der alttestamentlichen Wissenschaft forschten Christen anstelle von Juden. Sie unterschieden mit der Trennung, die schon bei Luther in der Reformationszeit vorgenommen wurde, zwischen der hebräischen Religion der Propheten, an die das evangelische Christentum anschloss, vom Frühjudentum und Spätjudentum, das in Gesetzlichkeit und Selbsterlösung erstarrt sei.[2] Mit dieser Entwicklung in der Antike endete das Interesse am Judentum; die Rabbinen, das heutige Judentum seien abgestorbene Zweige der lebendigen Entwicklung des Christentums, das das Ende der Antike als einzige Religion überstanden habe.[3]  Mit Delitzsch’s Vortrag war die Hebräische Bibel, nur noch Text, nicht mehr Gottes Wort,[4] entfernt aus dem Kanon christlicher heiliger Bücher, eben die Forderung, die dann auch Adolf von Harnack in seinem Marcion-Buch 1921 erhob (und die Deutschen Christen 15 Jahre später durchzusetzen versuchten).

Eva Cancik-Kirschbaum[5] und Thomas L. Gertzen[6] haben zur Hundertjahr-Wiederkehr eine Ausstellung im Pergamon-Museum (das zugleich das Vorderasiatische Museum umfasst) organisiert und diesen Band mit Beiträgen herausgegeben. Die Ausstellung ist dokumentiert S. 249-284 in sehr guten größtenteils farbigen Abbildungen, die sowohl altorientalische Stücke zeigen wie die Streitobjekte der Kontroverse in den Nuller-Jahren des 20. Jahrhun­derts.

Aufbauend auf seiner sorgfältigen Monographie macht Reinhard G. Lehmann klar, dass der Professor Friedrich Delitzsch (1850-1922) zunächst keineswegs den Streit provozierte. Bis dahin und danach publizierte er für die entstehende Wissenschaft der Altorientalistik grundlegende Arbeiten (31).[7] Dafür war er in Kontakt mit dem British Museum und dem Kustos der dort gelagerten großen Mengen und nicht entzifferten Keilschrift-Tafeln, George Smith (1840-1876). Dieser hatte die Tafel mit der Sintflut-Erzählung aus dem Gilgamesch-Epos entziffert und publik gemacht, die auch in Delitzsch’s Vorträgen eine zentrale Rolle spielte: Die Erzählungen der Bibel seien nicht originell, schon gar nicht (des christlichen) Gottes Wort, sondern einfach abgeschrieben. Der Anteil des Judentums und (für den staats­tragenden Protestantismus noch tiefergreifend) der erste Teil der Bibel waren bedeutungslos, konnte man aus seinen Vorträgen hören. Mit den öffentlichen Vorträgen und der Ernennung zum Direktor des altorientalischen Museums war der 52-jährige Delitzsch auf dem Höhe­punkt seiner Karriere. Die historisch-kritische Lesart des Alten Testaments und Delitzsch’s Erwartung, Glaube und rationales Denken nicht als sich ausschließende Gegensätze zu verstehen, geriet er in Konflikt mit der herrschenden Orthodoxie,[8] traf aber (zunächst) auf Sympathie beim Kaiser. Erst durch den Konflikt wurde er mehr und mehr zum Antisemiten, als der er sich 1920/21 in seinem zweibändigen Werk Die große Täuschung zeigte.[9] Lehmann weist nach, dass Delitzsch in der ersten Auflage des Ersten Vortrags noch keine Ausfälle gegen das Judentum erhob; erst in der 3. Auflage positionierte er sich in diese Richtung. Uwe Puschner geht in seinem Beitrag (143-160) diesem Erfolg bei den Völkischen nach.[10] Der Kaiser, Wilhelm II., sprunghaft wie immer, lobte erst, dann mit der Autorität eines Hobby-Wissenschaftlers entzog er die Unterstützung (Christoph Markschies 89-105), weil Delitzsch die Gottheit Christi nicht anerkenne. Das hob der Kaiser in einem öffentlichen Brief kritisch hervor.[11] Das berührte einen Punkt, der gerade zu der Zeit heftig umstritten war, und in dem die herrschende Orthodoxie ihre Macht ausspielte, indem sie ‚liberale‘ Pfarrer aus ihrem Amt entließ.[12] Delitzsch hatte am Ende des zweiten Vortrags pointiert von der notwendigen „Weiterbildung der christlichen Religion“ gesprochen. (Als Adolf Deissmann 1909 an die Berliner Universität berufen wurde, entschuldigte er sich, dass er an einem Sammelband dieses Titels mitgewirkt hatte)[13] Dem stimmte der Kaiser ausdrücklich zu.[14] In dem ausgezeichneten Beitrag von Sabine Mangold-Will ist das differenzierter dargestellt und zudem arbeitet sie heraus, dass der Kaiser sein persönliches Gottesgnadentum aus der Monarchie der mesopotamischen Reiche ableiten konnte (nicht aber aus dem untergegan­genen Königtum Israels).

Ein neuer Aspekt folgt in den Beiträgen zu Juden als Förderer der Ausgrabungen und Museen (Olaf Matthes 129-144). Archäologie in Mesopotamien entfesselte einen Sturm auf die großen Ausgrabungsstätten wie Babel, Assur, Ninive, Ugarit, Dura Europos … Die Aus­gräber waren zugleich auch Spione im Kampf um mögliche Kolonien.[15] Zur Wissenschaft des Judentums im Kontext des Kulturschubs 1900 tragen bei: Reinhard G. Kratz zu einem neuen Fund zur Babylonischen Diaspora, die Babel als Geburtsort des ‚biblischen Judentums‘ ausschließt 181-189.[16] Rüdiger Liwak zum sog. Sündenfall-Zylinder 191-205. Werner Treß zum Alten Testament aus der Sicht der christlichen Alttestamentler und der Wissenschaft des Judentums 207-226. Bernd U. Schipper stellt die Bedeutung der materiellen Kultur für die AT-Wissenschaft heraus 227-240.[17] Yaacov Shavit resümiert the paradoxical Afterlife of the Babel-Bible Controversy, 241-256 aus den Reaktionen von Juden. Er konstatiert: „The ‚evil‘ element in Delitzsch’s argument was his tendency toward neo-paganism and his racialist theory“ (243). – Zur ‚Wissenschaft des Judentums‘ (wie im Titel angekündigt) ist leider wenig zu finden.[18]

Nicht zu vergessen ist freilich auch der Warnruf von Benno Landsberger (1890-1968) an die Assyriologen, nicht vorschnell Vergleiche und angebliche Übernahmen zu behaupten, sondern stattdessen die Eigenbegrifflichkeit der babylonischen Welt erst einmal durch ein Lexikon aller Belegstellen zu erarbeiten (Chicago Assyrian Dictionary).[19] Die Sammlung Texte aus der Umwelt des Alten Testaments von Übersetzungen aus dem Alten Orient enthält sich der ‚Belegstellen‘ zur Hebräischen Bibel.[20]

Den Herausgebern wie dem Verlag ist zu gratulieren zu einem qualitativ so hochwertigen Band, was einerseits die Beiträge anbetrifft wie andererseits die Buchausstattung in Druck, durchgängig farbige Abbildungen, Fadenheftung und festem Einband. So wird das hoffentlich von vielen gelesen. Es lohnt die wiederholte Lektüre.

Bremen/Wellerscheid, Dezember 2022                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Zu diesem Ereignis gibt es zwei umfassende Bücher, so Klaus Johanning: Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie. Frankfurt am Main: Lang 1988. Reinhard G. Lehmann: Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit (OBO 133) Freiburg/CH: Universitätsverlag 1994.

[2] Zu dieser These, die mit den Forschungen von Julius Wellhausen historisch untermauert schien, erhob Delitzsch’s Vater Franz als bedeutender Alttestamentler Einwände, die diese historisch-kritische Lesart entkräften sollten. Dazu souverän der Beitrag von Rudolf Smend „Bibelforscher und Judenmissionar“ (81-86).

[3] Einiges zur Wissenschaftsgeschichte im Kontext des Kaiserreiches habe ich im letzten Kapitel meines Buches zu den Kreuzzügen erforscht. Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 210-252. Eine Grafik zur ‚Propheten-Anschluss-Theorie‘ bei Auffarth: Opfer. Göttingen: V&R 2023, 117.

[4] Im ersten Vortrag unterscheidet Delitzsch noch die „wahre Religion, die wahre Religiosität, wie sie uns die Propheten und Dichter des Alten Testaments und im erhabensten Sinne Jesus gelehrt“ hat, von den „rein menschlichen Vorstellungen“ des Alten Orients: Mangold-Will 114.

[5] Eva Cancik-Kirschbaum ist Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin.

[6] Zu Gertzen die Homepage Dr. Thomas Gertzen • DFG Kolleg-Forschungsgruppe 2615 – Rethinking Oriental Despotism – Home • Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften (fu-berlin.de). Seine Monographie Aber die Zeit fürchtet die Pyramiden. Die Wissenschaften vom Alten Orient und die zeitliche Dimension von Kulturgeschichte. (Chronoi 4) Berlin: De Gruyter 2022. Auch open access https://doi.org/10.1515/9783110760200 (Januar 2022).

[7] Zur Keilschriftforschung in Berlin der Beitrag von Hans Neumann (63-80).

[8] Delitzsch will sich dem „Ringen nach einer Vernunft wie Herz befriedigenden Weltanschauung“ stellen: 1902, 4.

[9] Zu diesem Buch am Ende seines Lebens der Beitrag von Bill T. Arnold 45-61. Lehmann setzt S. 38 die Kenntnis voraus, dass der Altersgenosse Adolf von Harnack 1921 sein Buch über Marcion veröffentlichte, in dem er wie der Held seines Buches im 2. Jahrhundert die Streichung des Alten Testaments aus dem Kanon der christlichen Heiligen Schriften forderte.

[10] Dieser zweite Vortrag wurde nun von vielen Zuhörern als „Hammerschläge“ empfunden. Die Metapher des Hammers verweist zum einen auf den Philosophen mit dem Hammer, Nietzsche, und zum andern verwendete der erfolgreichste Publizist des Antisemitismus, Theodor Fritsch, es in seiner Zeitschrift. Hammer Monatsblätter für deutschen Sinn. Januar 1902. No. 1.

[11] Ein Teilzitat aus diesem Brief bei Markschies 96.

[12] Markschies 95-100. Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Gebieten Preußens zeigt der Oberkirchenrat orthodoxe Härte, wie die Entlassung Albert Kalthoffs zeigt. Dazu Thomas Auwärter: „Die Wiederentdeckung der Religion“ und die Humanisierung des Christentums. Zeit, Leben, Werk und Religiosität Albert Kalthoffs (1850-1906). (Habil. Bremen) Bremen: Universität Bremen, 2020.

[13] Die Weiterentwicklung der christlichen Religion (und nicht des Christentums der Theologen) oder eine „Zweite Reformation“ wurde zum Schlagwort, das dann beispielsweise die Deutschen Christen aufnahmen und im „Entjudungsinstitut“ in Eisenach 1939 ausführten. Der Band Beiträge zur Weiter­entwicklung der christlichen Religion, Hrsg. von Professor D. A. Deissmann [und weiteren 9 Beitragen­den] (München: Lehmann’s 1905) war inspiriert von dem Berliner Theologie-Professor Otto Pfleiderer (1839-1908). Ob die abschätzende Bewertung Wilhelms II. als Hobby-Wissenschaftler bei Markschies nicht auch auf professionelle Theologen der Zeit trifft, ist nicht ausgemacht, fairer ist der Beitrag von Sabine Mangold-Will, 107-127, die in Einigem Markschies widerspricht.

[14] Mangold-Will 118.

[15] Ausstellung und Katalog 1999/2000 im Zollverein Ruhrlandmuseum Essen zeigen etwa Agatha Christie bei den Ausgrabungen ab 1930: „Agatha Christie und der Orient – Kriminalistik und Archäologie „. – Ninive britische Grabungen 1845–1855 durch Austen Henry Layard und C. Rassam. – Babel ab 1899 deutsche Grabungen durch Robert Koldewey. – 1903 1914 Ausgrabungen in Assur durch Walter Andrae. – In Dura Europos gruben ab 1921 zusammen der Belgier Franz Comont und der nach den USA exilierte Russe Michael Rostovzeff, vgl. dazu Cumonts gesammelte Berichte, ed. Danny  Praet, Ted Kaizer, Annelies Lannoy. Rom: Academia Belgica 2020. – Ab 1929 die französischen Ausgrabungen in Ugarit, geleitet durch Claude Schaeffer.

[16] Die Entstehung ‚des Judentums‘ wird heute zumeist in die Spätantike verlegt. Vgl. mit Auffarth, Rezension: „Geburten und Geschwister“: Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/08/19/die-geburt-des-judentums-aus-dem-geist-des-christentums-von-peter-schafer/#comment-79 (19.8.2010).

[17] Bernd U. Schipper hat eine ältere Schwester zu diesem Band herausgegeben, zu der Berliner Schwesterwissenschaft Ägyptologie und ihrem Star Adolf Erman: Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman 1854-1937 in seiner Zeit. Berlin: De Gruyter 2006.

[18] Der Hinweis auf Christian Wiese: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? Tübingen: Mohr Siebeck, 1999.

[19] Landsberger machte rasch Karriere bis zum Professor in Leipzig, wo er seine Antrittsvorlesung zur Eigenbegrifflichkeit hielt: Islamica 2 (1926): 355-372; ND mit neuem Nachwort, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1965. Er wurde aber von den Nazis der Professur beraubt, baute, 1935 von Atatürk berufen, in Ankara das geisteswissenschaftliche Studium auf, bevor er 1948 nach Chicago berufen wurde und dort The Assyrian Dictionary of the University of Chicago« CAD, hrsg. von J. Gelb, Th. Jacobsen, B. Landsberger, A. L. Oppenheim, Chicago: Univ. Chicago Pr. 1956-2010 insitutionalisierte (die Idee war älter) und mit herausgab. Band 20 (2010) enthält die Buchstaben U-W. Der letzte Band 21 Z war bereits 1961 erschienen. The Chicago Assyrian Dictionary Project | The Oriental Institute of the University of Chicago (uchicago.edu) (26.12.2022).

[20] Vgl. (mit Rez. Auffarth) „Fachwissen und Wissenschaft im Alten Orient: zum Vertiefen“. Bernd Janowski/ Daniel Schwemer (Hrsg.): Texte zur Wissenskultur. (TUAT 9) GVH 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/05/31/wissenskultur/(31.Mai 2022).

Delphi. Apollons Orakel

Delphi. Apollons Orakel in der Welt der Antike.

Herausgegeben von Balbina Bäbler und Heinz-Günther Nesselrath.

(Civitatum Orbis MEditerranei Studia COMES 6)
Mohr Siebeck 2021.
VII, 611 Seiten. Leinen 154 €.

ISBN 978-3-16-157570-9

 

 

Wo die Griechen Prophezeiungen einholten: Das Orakel von Delphi

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: So klein die Stadt, so groß die Bedeutung: Alle Welt, nicht nur Griechen, kamen nach Delphi, um dort Rat zu suchen für ihre Projekte. Waren sie erfolgversprechend oder sollten sie eher davon lassen: Kriege führen, Städte gründen, sich mit einer andern Familie durch Heirat verbünden? Der riesige Erfolg durch die ganze Antike rief auch Kritik hervor.

Eine kleine Stadt von großer Bedeutung

Delphi ist wohl keine große Civitas, was die COMES-Reihe verspricht, aber sicher einer der wichtigsten Orte der antiken mediterranen Welt. Im Mythos lässt Zeus zwei Adler von den Enden der Erde losfliegen und sie treffen genau über Delphi zusammen, der Omphalos in Delphi ist das Zeichen dieses Anspruches, „Nabel der Welt“ zu sein.[1] In allen historischen Darstellungen spielt Delphi eine wichtige Rolle. Sie heben hervor

  • Delphi gilt als Treffpunkt all der frühen Griechen, die geeignete Siedlungsplätze außerhalb der meist kargen Inselwelt oder des Festlandes suchten in der sog. griechi­schen Kolonisation der Adriaküsten, Siziliens oder Unteritaliens, oder an den Küsten des Schwarzen Meeres.[2]
  • Den Ort, an dem die großen Könige und Dynastien ihre Macht aller Welt zeigen konnten durch grandiose Weihgeschenke, die Alkmaioniden aus Athen oder der sagenhaft reiche Krösus/Kroisos aus dem anatolischen Lydien. Nach der erfolg­reichen Abwehr des Angriffs des Perserreiches 480/79 wollten die griechischen Poleis ihren Anteil an der Freiheit präsentieren durch ihre Schatzhäuser und Denk­mäler. Wer Anfragen beim Orakel des Apollon stellen wollte, schritt durch eine Ausstellung der griechischen Geschichte und der Vielzahl der Poleis. Winfried Schmitz erkennt dabei eine „aggressive Sprache“ des Temenos, also des Tempel­bezirks (231).[3]
  • Für viele gilt Delphi als Ursprung der griechischen Geistigkeit, wenn die Philosophen den Spruch am Tempel von Delphi umsetzten, das Erkenne Dich selbst! Γνώθι σ’αὐτόν, Nicht zu vergessen der seine Weisheit in Fabeln verpackende Äsop/Aisopos, der sich der Anklage des Tempelraubes ausgesetzt sah.
  • Aber auch noch als Ort sagenhaften Reichtums drohte Delphi von der Völkerwande­rung der Gallier 279/78 v.Chr. erobert zu werden.[4]
  • In der römischen Kaiserzeit war es immer noch nachgefragt als Orakelstätte, auch wenn Plutarch beklagte, dass das Orakel nicht mehr rede.[5] Delphi wurde mehr und mehr zur ‚Marke‘, als Ort der Orakelanfrage nicht mehr so oft aufgesucht. Auch das ganz Griechenland verheerende Erdbeben von 363 n.Chr. zerstörte das Heiligtum nicht vollständig, wohl aber nahm der Kunstraub so wertvolle Stücke weg wie Kaiser Konstantin, der die Schlangensäule in seine neue Hauptstadt holte.[6]

Von diesem bedeutenden Ort also ist die Rede in den 23 Beiträgen, davon vier auf Englisch.[7] Angesichts der Fülle der Beiträge musste wohl der Umfang begrenzt werden, so dass die meisten Beträge etwa 20 Seiten umfassen. Hier können nicht alle Beiträge ausführlich vorge­stellt werden, weshalb ich eine paar Besonderheiten herausgreife, auch wenn ich in jedem Beitrag Lesenswertes und neue Forschungsergebnisse gefunden habe. Abschließend füge ich das vollständige Inhaltsverzeichnis an. Die Herausgeberin und der Herausgeber haben nicht versucht, widersprüchliche Behauptungen in den einzelnen Kapiteln zu egalisieren, selten weisen sie darauf hin.

Die einzelnen Beiträge

Elegant in die Forschungsgeschichte führt Michael Maß (11-34) ein, indem er die beiden patriotischen Prestigeopbjekte der großen ersten Grabungen der Deutschen in Olympia 1876-1882 und der Franzosen in Delphi 1893-1903 vergleichend vorstellt, gerade auch in ihrer publikumswirksamen öffentlichen Darstellung, etwa auf der Weltausstellung 1900 in Paris als Gipsabgüsse. Nicht erwähnt er die üblen Unterstellungen gegen den deutschen Delphi-Forscher Hans Pomtow, dessen fertiges Corpus der Inschriften von Delphi nicht für den Druck in den Inscriptiones Graecae freigegeben wurde aufgrund eines Vetos der Französi­schen Académie des inscriptions.[8] Der folgende Artikel von Brinkmann und Koch-Brink­mann versteht sich als „provisional thoughts“ zur These, dass für die Giebel des Parthenons das über hundert Jahre ältere Siphnier-Schatzhaus als Vorbild der Ikonographie gedient hätte. Die These wird mit Abbildungen suggeriert, aber die Argumentation ist, wie die Verfasser selbst zugeben „in a preliminary and sketchy manner to be understood as the first phase of a larger project“ (62) das immerhin seit 1985 begonnen (Anm. 97) und auch schon in Brinkmanns Ausstellungskatalog Athen vorgestellt wurde. Vincent Deroche stellt Delphi in der späteren und Spätantike vor und betont „Wie oft in Griechenland scheint diese [die Christianisierung] keine Spuren von Gewalt hinterlassen zu haben.“ Erst ab 580/620 sei zu erkennen, dass das Siedlungsgebiet der Stadt sich deutlich verkleinerte.

Mit Hugh Bowden beginnt nach dem archäologischen der zweite Teil zur Funktionsweise des Orakels. Bowden weist auf das Fest der Theophaneia hin, wenn ‚Gott [Apollon wieder] erscheint‘, denn er hält sich in den drei Wintermonaten bei den Hyperboreern fern im Norden auf. Zu diesem Fest schickten die griechischen Poleis Festgesandtschaften (θεωροί), die Unterkunft fanden bei Gastgebern (πρόξενοι). Neben diesem jährlichen Fest ist Delphi alle vier Jahre Austragungsort für die panhellenischen Wettspiele im Zyklus der vier Aus­tragungsorte Olympia, Nemea, Isthmia und die Pythien von Delphi. Von denen ist später im Beitrag von Claas Lattmann die Rede, aber die Nachrichten sind sehr spärlich, weil die Siegeslieder des Pindar in den Heimatstädten vorgetragen wurden, wenn die Sieger nach Hause gekehrt waren, nicht in Delphi. Die folgenden Beiträge widmen sich der Seherin des Apollon, der Pythia.[9] Tanja Scheer betont, dass die Unbildung der Frau – nicht unbedingt jung und ohne sexuelle Erfahrung, Jungfrau – hervorgehoben wird, um deutlich zu machen, dass es Apollon ist, der die Orakel gibt, nicht die Pythia. Das geschieht einmal im Monat und an einem bis drei Tage. Yulia Ustinova fragt, was der Enthusiasmus ‚engoddedness‘ mit modernen Begriffen bedeutet und zieht das Phänomen der altered state of consciousness heran.[10] Dazu fragt sie nach Drogen,[11] das Kauen der Lorbeerblätter oder die immer wieder vermuteten Gase πνεῦμα aus einer Felsspalte. Diese seien jetzt nachgewiesen 126 Αnm. 51.[12] Wie immer besonders interessant erklärt Beate Wagner-Hasel, was Herakles in Delphi zu suchen hat, wenn er dem Apollon den Dreifuß stiehlt. Sie ordnet Herakles dem angestellten Hirten in der Transhumanz zu, der mit seinen Herden in Konflikt mit dem Land gerät, das ausschließlich für Apollons Herden genutzt werden darf, heiliges Land. Damit gehöre das zu dem Konflikt der beiden Nachbarstädte unten in der Küste, um die der erste sog. heilige Krieg geführt wurde (ausführlicher und unterscheidend, aber ohne das Grundproblem der Transhumanz zu berühren, unten im Kapitel von Pierre Sánchez). Unter den von Kroisos gestifteten Preziosen war auch eine goldene Statuette, die Balbina Bäbler diskutiert. Herodot bringt sie in Zusammenhang mit dem Orakel-Test des Kroisos.[13] Er fragt nämlich, was er an einem bestimmten Tag gegessen hat. Hintergrund seiner Frage ist, dass an diesem Tag ein Giftanschlag auf ihn verübt werden sollte, die Bäckerin aber verriet es ihm. Zum Dank habe Kroisos eine Statuette der goldenen Bäckerin nach dem Orakel gestiftet, das seine Frage am besten beantwortet habe, nach Delphi. Mit Robin Osbornes (oben schon erwähnten) Kapitel beginnt der Teil zur Geschichte Delphis. Kai Trampedach fragt danach, was Delphi als historische Akteurin eigentlich bedeute. Es ist immer wieder ein widerstreitender Anspruch zu erkennen, der auch zu den Heiligen Kriegen führte, die Sanchez dann untersucht: Die als Polis kleine Einheit will einen internationalen, d.h. autonomen Status für sich reklamieren, während die Städte der Phokis (und später die Aitoler – wieder fehlt diese Epoche) sie als Teil von ihnen eingliedern und damit die Gewinne aus den Touristenströmen abgreifen wollten. Die anderen Kapitel in diesem historischen Abschnitt sind bereits erwähnt.

Mit Leonie von Alvensleben setzt der Teil zur Literatur ein. Etwas kleinteilig, aber auch überraschend zeigt sie am Apollon-Hymnus eine dreieilige Struktur auf, die auch panhelle­nische Ansprüche für Apollon aufzeigen: Ägäis, Festland, Peloponnes.[14] Lattmann zu Pindar habe ich bereits erwähnt. Heinz-Günther Nesselrath präsentiert glänzend im ersten seiner beiden Kapitel, wie Delphi in den athenischen Tragödien eine wichtige Rolle spielt am Fallbeispiel von Orestes‘ Muttermord – zwischen Aischylos und Euripides, dann die Ödipus-Dramen des Sophokles und schließlich Euripides‘ Ion. Im folgenden Kapitel erklärt Nessel­rath Herodots detaillierte Beschreibung und Lob von Delphi. Er unterscheidet als Frage­steller persönliche Anfragen (ist die Kategorie treffend, geht es doch oft um Fortbestand einer Monarchie?) und die Anfragen von Poleis. Interessant ist der Fall, dass eine Polis ein Orakel nicht haben möchte und darum noch einmal fragt. Dieses Mal ist die Auskunft günstiger. Es geht also auch um Fälle von Manipulation und Selbstkorrektur. Wichtig ist die These, dass Delphi mit der Niederlage der Griechen gegen die Perser 480 v.Chr. rechnete, und als es anders kam, in der historischen Erzählung zurechtbog (so auch Gauer). Gauer legt Wert darauf, dass in der Vorbereitung der Perser auf den Feldzug gegen die Griechen und besonders gegen die Athener Herodot von der „Rache des Zeus“ (und nicht des Xerxes) spricht. Damit ist dann sowohl Ahura Mazda als auch Zeus als Garant des Gastrechts zu verstehen, gegen das die Athener verstießen, als sie die Boten des Perserkönigs ermordeten. Das glänzende Kapitel von Reiner Hirsch-Luipold zu Plutarch, der ja selbst lange Jahre Priester in Delphi war, kommt zu dem bemerkenswerten Ergebnis: „Mit seiner religiösen Begründung philosophischer Aussagen […] wird Plutarch zum pagan-religiösen Exponen­ten einer philosophischen Bewegung, die die westliche Geistesgeschichte wesentlich prägen wird, nämlich einer religiösen Philosophie.“ (411) Und damit rät er dazu, Pagan und Jüdisch-Christlich nicht auseinander zu dividieren, sondern sie als einen gemeinsamen Trend zu verstehen. Jürgen Hammerstaedt findet einen großen Konsens in der Kaiserzeit hinsichtlich der Anerkennung der Weissagung, besonders Delphis; die beiden Leugner, Kyniker und Epikuräer sind daher besonders zu untersuchen. Ilinca Tanaseanu-Döbler verfolgt die Bewertung des delphischen Orakels bei den Neuplatonikern, die „theologischen Orakel“. Mit Sokrates‘ Einschätzung, dass das delphische „Erkenne Dich selbst!“ der Ursprung aller Philo­sophie sei, ist schon vorgegeben, dass nicht mehr der unbedeutend gewordene Orakelort, wohl aber die Orakel als Herabsteigen der Götter zu den Menschen zum Ankerpunkt der Philosophie geworden ist. Ulrich Volp ordnet die Orakelkritik der christlichen Kirchenväter ein. Zum einen konnten die christlichen Apologeten (Verteidiger des Christentums) einfach die Polemik früherer ‚paganer‘ Kritik übernehmen und vergröbern, indem sie aus Apollon einen Daimon machten, der unsittlich in die Pythia eindringt. Es gibt rituell aber kein Äquivalent zum Orakelwesen in der neuen Religion, etwa wenn die Orakelstätte des Apollon in der Nähe von Antiochien für einen Märtyrerkult genutzt wird. Die ethische Ausrichtung des Christentums sei nicht mehr auf Orakel angewiesen. – Sehr wichtig und ein abrundender Beitrag ist der differenzierte Beitrag von Dorit Engster. Sie geht von einem Spiegel-Artikel aus, der die Fähigkeit der Pythia zur Orakelsprache auf Drogen zurückführt auf der Grundlage naturwissenschaftlich-geologischer Untersuchungen (die Ustinova als Beweis anführt, oben Anm. 12). Die Kombination von geologischen Verwerfungen, die eventuell früher einmal nach Erdbeben Gase freigesetzt hätten, und antiken Aussagen nimmt sie auseinander: Die antiken Aussagen sind bei allen Orakeln topisch, d.h. man nimmt an, dass die Orakel-Medien in Höhlen oder Erdspalten Inspiration fanden. Das ist nicht spezifisch für Delphi. Und die modernen Vermutungen über mögliche Methanaus­dünstungen führen nicht zu dem in Frage stehenden Ergebnis, machen sie doch eher schläfrig als dass sie das Bewusstsein erweiterten. Auch wenn Engster das freundlich umschreibt, die Naturwissenschaft hat keine Lösung für das Orakel von Delphi. Das letzte Kapitel führt ein (wenig innovatives) Brettspiel vor über Delphi und belegt damit, dass man mit dem antiken Orakel noch Interesse wecken kann.[15]

Die COMES-Reihe ist um einen wertvollen Band bereichert, der eine der wichtigsten ‚Städte‘ der Antike in vielen Perspektiven umfassend beleuchtet. Der Verlag hat wieder hervor­ragende Arbeit geleistet. Nicht nur die detaillierten Indices der genannten Quellen und das Namen- und Sachregister erschließen den Band, sondern auch die Fadenheftung ist eine große Qualität, wenn man auf dem Schreibtisch mehrere Bücher und den Laptop gleichzeitig benötigt: Das Buch lässt sich aufschlagen und mit dem Leinenband wird es auch noch in der übernächsten Generation benutzt werden können. Man kann der Herausgeberin und dem Herausgeber für die Anstrengung und zu dem Ergebnis nur gratulieren. Den umfangreichen Band durchzuarbeiten ist der Mühe wert und ermöglicht, auch über die Fachgrenzen der Archäologie, der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte hinaus gute Informationen und Argumente vorgestellt zu bekommen zum Stand der Diskussionen.

 

Bremen/Wellerscheid, November 2022                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Heinz-Günther Nesselrath: Einleitung 1-.

  1. Delphi in der Archäologie Michael Maaß: Delphi: Faszination und Akribie 11 – Vinzenz Brinkmann, Ulrike Koch:-Brinkmann Learning from Delphi: Provisional Thoughts on Inter­dependencies of Storytelling on the Siphnian Treasury and the Athenian Parthenon 35 – Vincent Déroche: Delphi in der späteren Antike und Spätantike 65-.
  2. Das Orakel und seine ‚Funktionsweise‘ Hugh Bowden: Theophania, Theoria, Thusia: Rethinking the Delphic Experience 77- – Tanja S. Scheer: Jungfräulich, isoliert, ungebildet? Die Pythia als Sprachrohr Apollons 91- – Yulia Ustinova: The Pythia’s Appointment and Oracular Practice: Historical, Anthropological, and Cognitive Perspectives 119-
  3. Delphi und die (griechische) Geschichte Beate Wagner-Hasel: Herakles und der Dreifuß­raub von Delphi: Überlegungen zu den Hintergründen eines Mythos 137-. – Balbina Bäbler Die goldene Bäckerin: Delphi und die nichtgriechische Welt im Spiegel der Weihgeschenke 155-. – Robin Osborne: What Did Delphi Have to Do with “Colonization”? 173-. – Kai Trampedach: Die Legitimität des delphischen Orakels 185-. – Winfried Schmitz: „Sprache des Temenos“: Weihungen als politische Machtdemonstration 209-. – Pierre Sánchez: Zwischen Heiligen und Amphiktyonischen Kriegen: Die regionalen Konflikte um das Heiligtum von Delphi und die Kämpfe um die Hegemonie in Zentralgriechenland 233-.
  4. Delphi in der archaischen und klassischen griechischen Literatur Leonie von Alvens­leben: Die triadische Struktur des Homerischen Apollonhymnos 267-. – Claas Lattmann: Die Pythischen Spiele bei Pindar: Historischer Kontext und kulturelle Bedeutung 297-. – Heinz-Günther Nesselrath: Das Orakel von Delphi in der attischen Tragödie 329-. – Heinz-Günther Nesselrath: Das Orakel von Delphi bei Herodot 353-. – Werner Gauer: Delphis Perserkriegs­orakel für die Athener und Herodot 377-. –
  5. Delphi in Philosophie und Theologie der römischen Kaiserzeit Rainer Hirsch-Luipold: Priester, Philosoph und Propagandist – Plutarch und Delphi 397-. – Jürgen Hammerstaedt: Das delphische Orakel und seine Sprüche in den philosophischen Debatten der Kaiserzeit 413-. Ilinca Tanaseanu-Döbler: Delphisches im Neuplatonismus 431-. – Ulrich Volp: Delphi und die Orakelkritik bei den Kirchenvätern 457-. –
  6. Delphis Bild in späteren Zeiten Dorit Engster Von Erdbeben, Erdspalten und Erddämpfen – antike Berichte und moderne Forschungen zu Delphi 479-. – Martin Lindner: Ludit in humanis divina potentia rebus: Das Orakel von Delphi im und als Spiel 505-.

Bibliographie 535 – Autorenverzeichnis 585 – Stellenregister 587 – Namen- und Sachregister 601.

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[1] Ulrich Vollmer, RGG4 6(2003), 2f verweist darauf, dass im Alten Orient ähnliche Ansprüche erhoben wurde und verweist auf Richter 9,37 für den Garizim, Ezechiel 38,12 für Jerusalem. Die Odyssee (1,50) nennt Ogygia den „Nabel des Meeres“. Delphi so bezeichnet bei Pindar, Pythien 4,74; frg. 54; Strabon 9, 3,6. Pausanias 10, 16,3. Für den Religionswissenschaftler Mircea Eliade war das ein Symbol für die Axis Mundi (Verbindung von Unterwelt, Welt der Lebenden, Welt der Geister und Götter) und seine Theorie von der Hierophanie.

[2] Einen wichtigen Einwand, dass es gar nicht so viele Beispiele gibt, in denen Poleis nach neuen Sied­lungsplätzen beim Orakel nachsuchten, erhebt Robin Osborne in seinem Kapitel zur sog. Colonization, Seite 173-183. Dennoch wird das in vielen Kapiteln weiter behauptet, etwa Nesselrath 363.

[3] Er greift dabei die Bezeichnung Delphis als „das große monumentale Museum des Hasses von Griechen gegen Griechen“ auf, wie das Jacob Burckhardt in seiner Griechischen Culturgeschichte (etwa 1880, posthum ediert. Kritische Gesamtausgabe, Band 19[2002], 233,28) aus den Erfahrungen der Kriege bei der Nationenbildung im 19. Jh. so einschätzte.

[4] Dieses Ereignis, gewissermaßen die Wiederholung des Angriffs der Perser zweihundert Jahre zuvor (Nesselrath 372f. Gauer 391), ist intensiv berichtet, hier aber gerademal (Einleitung S. 6, Anm. 5) erwähnt. – Ein anderer Teil dieser Migration ließ sich im zentralen Anatolien nahe Ankara nieder und wurde dort Galater genannt, s. Galater – Wikipedia (28.11.2022)

[5] Eines der exzellenten Kapitel ist das von Reiner Hirsch-Luipold zu Plutarch und Delphi. – Während andere Orakelstätten in der Kaiserzeit wieder großen Zulauf fanden und Alexander von Abonou Teichos eine neues an relativ entlegenem Ort aufmachte, ist Delphi nicht mehr an der Spitze. Ilinca Tanaseanu-Döbler zeigt den Abstieg mit Berufung auf die Forschungen von K.M. Heineman, Decadence of Delphi. London 2018.

[6] Werner Gauer, der schon seine Dissertation über die Weihgeschenke aus dem Perserkriegen schrieb (Tübingen 1968), erläutert in seinem Beitrag, wie eine Nachbildung wieder am ursprünglichen Ort aufgestellt wurde.

[7] Warum der Beitrag der Brinkmanns auf Englisch verfasst ist, ist nicht erklärt. Die französischen Beiträge von Vincent Déroche und Pierre Sanchez sind auf Deutsch.

[8] Seine Delphi-Forschungen, die er vor Ort unternommen hatte, sind zusammengefasst in den Artikeln in der Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaften (RE) 4(1901), 2583-2700; Supplement 4(1924), 1189-1432 (Topographie) und (nach dem Tod des Forschers fortgeführt von F. Schober) in Supplement 5(1931), 61-152. Auf Sp. 2583 bittet der Verfasser, die Archontentafeln als vorläufig zu betrachten und „dass man diese Tabellen nicht blos zum Zwecke der Polemik citieren möge“. Sie ergänzen den Delphi-Artikel von Hiller von Gärtringen (RE) 4(1901), 2517-2583 zur Geschichte. Dessen Archontentafeln hat Pomtow korrigiert und auf dem Wissensstand von damals gedruckt und korrigiert 2693ff, vielfach aus noch nicht ediertem Material und dabei Hilfe erfahren durch die beiden an den laufenden Ausgrabungen beteiligten Franzosen E Bourguet und G. Colin (Sp.2584). Die französischen Editionen der Inschriften sind viele Jahre später erschienen und auch hundert Jahre später nicht abgeschlossen.

[9] Das Gegenmodell, Apollons Seherin, der niemand glaubt, weil der Gott ihre Glaubwürdigkeit unterminiert (vor allem in Euripides, Troades, 415 v.Chr.) ist angeführt S. 97 und 101.

[10] Ist der englische Begriff für Enthousismos so zu verstehen, dass die Frau sich in den Gott versetzt, nicht der Gott in die Frau? Der komplementäre Begriff ist die Ekstase. Altered state of consciousness „Bewusstseinsveränderung, -erweiterung“.

[11] Neben drogeninduzierter Intoxikation zur Bewusstseinserweiterung gibt es andere rituelle Formen, körpereigene Potenziale zu eröffnen (wie etwa die Trommel bei den Schamanen, die allmählich die Herzfrequenz erniedrigen).

[12] Das steht im Widerspruch zu Trampedach 192 und wird genauer und einschränkend von Dorit Engster im vorletzten Kapitel diskutiert. Querverweise und besser noch, dass die AutorInnen aufein­ander eingingen, fehlen oft.

[13] Herodot 1, 46-48. Nesselrath nennt das die „Stiftung Warentest“.

[14] Das Problem bei diesen Sammelbänden besteht darin, dass die Kapitel möglichst auch für Leser verständlich erklären sollen, die nicht aus dem engeren Fach kommen und mit der spezifischen Terminologie vertraut sind, gleichzeitig aber auch dem FachgenossInnen etwas Neues bieten wollen.

[15] Hubert Mohr hat in einem nicht publizierten Vortrag gezeigt, wie man im Internet ein Isis-Orakel einholen kann. Die Illustrationen stammen (aus Copyright-Gründen?) aus Lexika des 19. Jahrhunderts ebenso wie die Informationen. Dieses Orakel gehört in den Umkreis der Verehrer des letzten heidni­schen Kaisers Julian Apostata und des Neopaganismus. Vgl. Mohr: Paganismus. RGG4 6(2003), 793-797. Mohr: Neopaganismus. RGG4 6(2003), 186-189.

Pastoren Schleswig-Holstein in der NS-Herrschaft

Helge-Fabien Hertz: Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus.
Kollektivbiografische Untersuchung der
schleswig-holsteinischen Pastorenschaft.

3 Bände.

Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2022.
1778 Seiten. Dissertation, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 2021
(Geschichtswissenschaft, Landesgeschichte).

 

 

Die Pastoren in Schleswig-Holstein in der NS-Herrschaft

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Kurz: Eine Bewertung sämtlicher 729 Pastoren, die während der NS-Zeit im Amt waren, zeigt viel Unterstützung und sehr wenig Kritik oder gar Widerstand. Eine qualitative und quantitative Untersuchung von hoher Qualität.

Ausführlich: Die Frage nach den Rollen der Kirchen in der NS-Zeit ist so vielschichtig, dass man sie zwar nicht individuell beurteilen darf, aber auch nicht von der Institution her beschreiben kann, als ‚die Kirche‘. Die beiden Institutionen, evangelische Landeskirchen wie die katholische Kirche in Deutschland haben je Arbeitskreise für kirchliche Zeitgeschichte aufgebaut, die für die Institution Forschungen durchführen. Dabei ist die Kontinuität der Institution eine Voraussetzung, die eine gewisse Apologetik begünstigt: Die NS-Zeit ist dann Teil ‚unserer‘ Geschichte, Kirchengeschichte. Kirchenleitungen und Kirchenpolitik des Staates standen im Mittelpunkt, ein Abwehrkampf, so sollte es scheinen. In diesen Arbeits­kreisen haben sich bestimmte Thesen etabliert, die Ent-Schuldungen formulieren. Die zweite Geschichte des Nationalsozialismus nach 1945 war bestimmt davon, die Kontinuitäten der Biographien, also der Überlebenden, so zu rekonstruieren, dass sie zur neuen Realität passten, nationalsozialistisches Verhalten wurde ‚beschwiegen‘.[1] Antikommunismus konnte man genau so weiter praktizieren, die ‚Judenfrage‘ war exportiert in den neuen Staat Israel, das christliche Abendland war gerettet.

In der katholischen Zeitgeschichte galt etwa das Reichskonkordat als Erfolg der Kirche; die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ als Frontalopposition. In der evangelischen Zeitgeschichte gilt der Umgang mit den Kirchen in den im Krieg besetzten Gebieten als Anfang der Unterdrückung mit dem Ziel der Vernichtung ‚der Christen‘, was die NS mit den Juden schon getan hatten.[2]

Bewegung kam in die Aufarbeitung der Rolle der Kirchen durch (1) Forschungen seitens der Geschichtswissenschaft, besonders die Monographie über die Berliner Pfarreien von Man­fred Gailus.[3] Aber auch Kirchenhistoriker, die nicht zum Arbeitskreis gehören, haben ganze Regionen untersucht, wie die Forschungen von Andreas Müller zum pietistischen Mindener Land.[4] (2) Dazu kommt, nicht mehr die beiden Konfessionen in den Blick zu nehmen und sie als Gegensatz zur nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘ zu unterscheiden, sondern Religion der Dreißiger Jahre zu untersuchen mit vielem Gemeinsamen.[5]

Ein Geschichtswissenschaftler, Helge-Fabien Hertz, hat sich die Herkules-Aufgabe vorge­nommen, sämtliche 729 Pastoren der Kirche in Schleswig-Holstein zu untersuchen, in einem deutlich dickeren Band 2: NS-Konformität, und dem dünneren Band 3 NS-Nonkonformität.[6] Dazu hat er eine Datenbank erarbeitet, die nach 10 Kriterien bewertet und je eine exempla­rische Biographie vorstellen, die eines der Kriterien verkörpert. Geistliche sind exponierte Personen in einer Kirchengemeinde mit einer Kollektivbiographie, die ihre Rolle in der NS-Zeit prägte. In den sechs Eingangsthesen stellt HFH heraus, dass der ‚Spielraum‘ der Geist­lichen relativ groß war und sie wenig Repressalien zu befürchten hatten (Handlungs­theorie).[7] Dennoch waren sie eine einflussreiche Berufsgruppe, die als „Herrschaftsstabili­sator“ funktionierte (13). Für seine Forschung hat FHF ein Kriterienmodell konstruiert (übersichtlich die Grafik S. 130), das sich anlehnt an die Methoden der Sozialwissenschaftler, ohne allerdings Interviews führen zu können. Also kommt es auf die verwendeten Quellen an. „Dass sich bei einer Vollerhebung von 729 Personen die Quellenbasis gegenüber einzel­biographischen bzw. einzelgemeindlichen Untersuchungen auf eine begründete Auswahl begrenzen muss, ist offensichtlich.“ (90). Was für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung grundlegend ist, die Kontrollgruppe, für die andere Kriterien gelten, gibt es in dieser Unter­suchung nicht. So fragt es sich, ob das ehrgeizige und mit großer Energie verfolgte Ziel der ‚Vollerhebung‘ den höheren Erkenntnisgewinn erzeugt als eine begründete Auswahl von Kontrast-Gruppen.

Die begründete Auswahl von Quellen (171-191) bezieht sich erfreulicherweise auf unver­öffentlichte Archivbestände, nämlich Personalakten, dann Entnazifizierungsakten, Akten zum Kriegseinsatz von Pastoren, die NSDAP-Mitgliederkarteien. SA und SS-Mitgliedschaf­ten gab es nachweislich bei namentlich bekannten Pastoren, ohne dass diese in deren Mit­gliederverzeichnissen aufzufinden waren (171f). Diese Quellen unterzieht HFH einer Quel­lenkritik mit wichtigen Hinweisen: Die Akten wurden mehrfach bereinigt, d.h. belastendes Material herausgenommen. Sie enthalten in der Regel auch Katechesen und Predigten anlässlich der Ersten und Zweiten Dienstprüfung. Das bedeutet, sie sind vorsichtig, einem bestimmten Publikum, den Prüfern entweder des eher deutschchristlichen Landeskirchen­amtes oder denen der Bekennenden Kirche mutmaßlich entgegenkommend formuliert.[8] Gleiches gilt für die Entnazifizierungsakten, für die die Alliierten zudem weniger strenge Fragen stellten dank eines Vertrauensvorschusses für die Geistlichen. Meinungsänderungen, etwa nach dem Sportpalast-Skandal im November 1933, lassen sich so nicht erheben.

Nach den methodischen Grundlagen und der Umsetzung in einem Forschungsdesign quantitativer Auswertung folgen zehn prototypische NS-Biogramme als Beispiele für die qualitative Auswertung 215-311. In dem Kapitel zur quantitativen Auswertung erläutert FHF, wie er die Pastoren einordnet in die 10 Kriterien. Das Ergebnis zeigt (314), 55% NS-Konsens, 25% NS-Konsens bei Betonung der kirchlichen Autonomie, 9% konsensfreie Autonomiebestrebung, 7% Ambivalenzen und 4% NS-Dissenz (anschließend die Liste der Namen in der Zuordnung zu den Kriterien). Dazu ist hinzuzunehmen die Auswertung der Zuordnung zu den Kirchlichen Parteien (366): 2% waren aktiv in der Deutschkirche, 27% bei den Deutschen Christen, 45% rechneten sich der Bekennenden Kirche zu, 26% kann man als Neutrale bezeichnen („die sich lediglich dadurch von den Deutschen Christen unterscheiden, dass sie dasselbe wie jene mit etwas gedämpfterer Stimme sagen“ 397). Interessant auch die Altersstruktur der ‚Opfer‘ S. 386. (Erfreulicherweise sind die Grafiken in Farbe gedruckt, so dass man sie leichter lesen kann).

Band 2 enthält die Untersuchungen zur Handlungstypologie der Pastoren mit (A) NS-Konformität, unterschieden in (A1) praktizierte NS-Konformität (393-1110) und (A 2) innere NS-Konformität (1111-1317). Hier werden neben Mitgliedschaften in NS-Organisationen, Besuch der Reichsparteitage, dazu Denunziationen, u.ä., mit vielen Zitaten aus den Quellen thematische Aussagen untersucht, so zum Bellizismus, also Verherrlichung des Krieges, Verurteilung der Weimarer Republik, Antikommunis­mus, Antijudaismus, Antisemitismus, Euthanasie.

Dass das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘ bei weitem noch nicht ‚ausgeforscht‘ sei 458 A 210, kann man insbesondere nach Arnhold 2010 (nur im Literaturverzeichnis genannt) nicht sagen.[9]

Band 3 NS-Nonkonformität gliedert in (B) Innerkirchliche NS-Nonkonformität: Selbst­behauptung – Charakteristika des Kirchenkampfes 1321-1442. Dazu gehören aktives Eintreten im Kirchenkampf, wie als bekannteste Persönlichkeit Hans Asmussen. Einsatz gegen die Selbstgleichschaltung und die Behauptung der Autonomie der Kirche bzw. gegen das ‚Neuheidentum‘. (C) Politisch-ideologische Nonkonformität (1443-1643), und zwar (C 1) praktizierte, (C 2) Innere NS-Ablehnung. Da geht es um Proteste gegen einzelne Schikanen von lokalen NS-Vertretern oder die Kirchenpolitik bis hin zu Kritik an der NS-Politik wie die Rassegesetze, Euthanasie, Militarismus. Daran schließt an, wo Positionsänderungen (A à C) erkennbar sind. (D) untersucht Einschränkungen und Sanktionen (1645-1698), (D 1) kirchenpolitischer Art oder (D 2) rassenideologisch motivierte.

Der Anhang enthält die im Text benutzten Abkürzungen, ein Abbildungsverzeichnis der Fotos der Pastoren, aber vor allem der Grafiken, insgesamt 374, dann die Quellen aus den zahlreichen Archiven. Die Bibliographie von Forschungsliteratur auf 40 Seiten, mit gut 600 Einträgen. Ein Pastorenverzeichnis schließt das Werk ab.

Die Zusammenfassung „Kirchen als NS-Herrschaftssäule“ (1695-1698) hält fest: „Die Kirchen wurden primär als NS-herrschaftsbereitende, NS-herrschaftskonsolidierende und langjährige NS-herrschaftstragende gesellschaftliche Säule greifbar – viel stärker denn als Störfaktor.“ (1696) „Beinahe alle NS-konformen Handlungen waren vor­gabenfrei und brachten nur geringe karrieristische Vorteile mit sich.“ Diesem Fazit kann ich mich anschließen, wenn auch mit mehr Differenzierung: (1) Die Aussage „die Kirchen“ verallgemeinert, was FHF zunächst für die Schleswig-Holsteinischen Pastoren erhoben hat. Inwieweit das für andere Landeskirchen oder die katholische Kirche gilt, war nicht Gegenstand dieser Untersuchung.[10] (2) Die Aussage, die Kirchen sei eine „Herrschaftssäule“ gewesen, nimmt einen Begriff der ‚Herrschaft des NS‘ in Anspruch, der gemeinhin für eine der Organisationen der Partei und des NS-Staates verwendet wird. Das war die Kirche in SH nicht, auch wenn es die gebotene Amtshilfe gab.[11] Ich habe formuliert, dass die Kirchen bis weit in den Krieg hinein für die Akzeptanz der NS-Herrschaft gesorgt haben, obwohl die NS zunehmend kirchenfeindliche Positionen einnahmen.[12] (3) Viele Elemente der Predigt und alltags­tauglicher Theologie beruhen auf der Kriegstheologie des Ersten Weltkriegs. Gerade an den Marinestützpunkten in S-H erwartete die Gemeinde dafür Unterstützung ihrer Angehörigen, nicht Kritik. (4) Eine theologische Bewertung müsste teils andere Bewertungen vornehmen.

Mit diesen Einschränkungen[13] kann man nur den enormen Fleiß und Anstrengung bewundern, den Helge-Fabien Hertz aufgebracht hat, um all die Archivalien durch­zuarbeiten, dazu die exzellente Organisation seines Forschungsprojektes. Die Aus­sagen dieser Studie wird man erst beurteilen können, wenn Vergleichsuntersuch­ungen vorliegen.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2022                                                         Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Als Überblick Auffarth: Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Literaturverzeichnis 542-553.

[2] Die Legende um das Reichskonkordat deckte Klaus Unterberger auf: Kuriales Interesse, NS-Staat und Demokratie. Weshalb die heutige Quellenlage für Klaus Scholders Junktimthese spricht. In: Dominik Burkard; Nicole Priesching (Hrsg.): Katholiken im langen 19. Jahrhundert. Akteure – Kulturen – Mentalitäten. FS Otto Weiß. Regensburg: Pustet 2014, 329-348. Zu den besetzten Gebieten die Einleitung zu den Dokumenten (und meine Rezension) Religion im Kriegszustand: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Hrsg. von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Band 6 (in 2 Bänden): Gertraud Grünzinger:  1938-1945: Die Kirchenpolitik in den ein- und angegliederten Gebieten (März 1938-März 1945) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/03/02/religion-im-kriegszustand/ (2.3.2018).

[3] Manfred Gailus: Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin. (Industrielle Welt 66) Köln: Böhlau 2001.

[4] Andreas Müller: „Kirchenkampf“ im „erweckten“ Kontext. Der Kirchenkreis Minden in der Zeit des Nationalsozialismus. Bielefeld: Luther-Verlag 2013.

[5] Grundlegend die Forschungen zusammengefasst von Manfred Gailus 2021. Zur These der Doppel­gläubigkeit die religionswissenschaftliche Kritik des Rezensenten: Religion im Nationalsozialismus: kein Widerspruch, aber auch keine feindliche Übernahme. Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich. Freiburg: Herder 2021. (3.1.2022) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/01/03/glaeubige-zeiten-religiositaet-im-dritten-reich/.

[6] Helge-Fabien Hertz nach seiner Promotion mit der vorliegenden Arbeit im SoSe 2021 (summa cum laude; Betreuer Manfred Hanisch und Rainer Hering) ist seit November 2021: Leiter der Geschäfts­stelle des Beauftragten für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus im Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig Holstein. Home-Page Dr. Helge-Fabien Hertz — Historisches Seminar (uni-kiel.de) (16.10.2022). Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen HFH.

[7] Besonders in dem Kapitel 2.1.3 Erkenntnistheorie 61-90. Fazit am Beispiel des Pastors Friedrich Slotty 279-295. Dass Slotty am Ende ohne Strafe bei drei Gerichtsverfahren davonkam, ist allerdings sehr ungewöhnlich. Es gab nur wenige ‚Opfer‘ (allerdings FHFs sehr eingeschränkte Definition 295-298), am Beispiel des Pastors Ernst Gloyer (295-309).

[8] HFH druckt nahezu vollständig eine Probe-Predigt von 1934 ab, die „unter allen annähernd 1.000 analysierten, ausformulierten Predigten […] in dem Maß der Politisierung eine Ausnahme, wenn auch keinen Einzelfall dar(stellt)“.186f. Abgesehen aber von (christentumsfreundlichen) Hitlerzitaten, stehen solche Aussagen, etwa über die Volksgemeinschaft, in einer Tradition 1. der Kriegstheologie des Ersten Weltkriegs und 2. des christlichen Antijudaismus. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels als Strafe Gottes für die Kreuzigung seines Sohnes zu verstehen, die so nicht im NT steht, wurde in norddeutschen Gesangbüchern historisch belegt durch Bugenhagens Paraphrase des Josephus-Berichtes, die regelmäßig an Karfreitag als Lesung vorgetragen wurde.

[9] Meine Rezension: “Entjudung” – Kirche im Abgrund. Von Oliver Arnhold http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2011/08/04/entjudung-kirche-im-abgrund-von-oliver-arnhold/ (4.August 2011).

[10] Vgl. aber die Monographie von Sarah Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929-1939). Frankfurt am Main: Campus 2017.

[11] Auch das ist zu stark, wie ich in einer Rezension zu Manfred Gailus (Hrsg.) deutlich gemacht habe: Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich 2008. in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 257-258.

[12] Allerdings mit erheblichen Unterschieden, die Parteiungen im NS bezüglich Religion und Christen­tum erkennen lassen.  Dazu Auffarth: Parteiungen im Totalitarismus: Christenheiten und Ideologien im „Dritten Reich“. In: Ansgar Jödicke; Carsten Lehmann; Christian Meyer (Hrsg.): Religion, Partei, Parteiung – Komparative Perspektiven auf dem Weg zu einem Grundbegriff religionswissenschaftlicher Forschung. [=Themenheft der] Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik (Hg. von Gert Pickel und Annette Schnabel) 2022, #. DOI 10.1007/s41682-022-00106-3. [Open access 9. März 2022].

[13] Die wichtige Rezension von Andreas Müller, Prof. für Kirchengeschichte in Kiel, der selbst die wichtige Studie zu den Pfarrern im Mindener Land in der NS-Zeit geschrieben hat, aber als Betreuer nicht gefragt wurde: Zeitzeichen 23 (2022) Heft 8, 20f geht weiter. Dazu ein Leserbrief in Heft 10, S. 60, der aber auf die wissenschaftlichen Mängel, die Müller findet, nicht eingeht. HFH hatte seine Studie im Zeitzeichen 2022/6 vorgestellt unter dem (provokanten) Titel „Tragende Säule der Nazis“.

 

 

Leonie Exarchos: Lateiner

Leonie Exarchos: Lateiner am Kaiserhof in Konstantinopel.
Expertise und Loyalitäten zwischen Byzanz und
dem Westen (1143–1204).

(Mittelmeerstudien 22)
Paderborn: Schöningh 2022.

ISBN 978-3506760982

 

Vermittler, Trickser, Versager: Die lateinischen Kultur-Makler
am griechischen Kaiserhof im 12. Jahrhundert

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Für die Vermittlung von Kultur sind Makler (cultural broker) eine wichtige Gruppe. Sie müssen in zwei Kulturen kompetent sein. Leonie Exarchos untersucht diese Gruppe am Kaiserhof in Konstantinopel in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.

Ausführlich:

Das ist eine spannende Gruppe von Spezialisten, die Lateiner in Konstantinopel am (byzanti­nischen) Kaiserhof in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Denn einerseits zeigte die wechselseitige Exkommunikation und feierliche Verfluchung der Kirchen, der lateinischen Kirche mit dem Anspruch des Bischofs von Rom, über allen Kirchen zu stehen, und der griechisch sprechenden orthodoxen Kirche mit dem Patriarchen von Konstantinopel bzw. den Patriarchen in Konstantinopel, Alexandria, Antiochien und Jerusalem, wie weit sich schon länger die Religionskulturen auseinander entwickelt hatten, bevor es 1054 zum Eklat kam. Andrerseits hatten Lateiner und Griechen immer wieder miteinander zu tun, Konflikte auszutragen, benötigten Hilfe. Das Zeitalter der Kreuzzüge brachte – neben den schon lange in Konstantinopel wie in Venedig, Genau oder Pisa tätigen und wohnenden Kaufleute und Diplomaten – Krieger in die Stadt und in das Reich der Byzantiner. Neben den realen Konflik­ten und Auseinandersetzungen, Privilegien und Verboten, Streit und Nachgeben, war ein Bereich von hohem symbolischem Wert, der Streit um theologische Begriffe und Konzepte. Über die Christologie, das Menschsein des Gottessohns, war der Bruch offiziell begründet worden: Geht der Heilige Geist von Gott Vater aus oder von beiden, Gott Vater ‚und Gott Sohn‘ (lateinisch filioque)?[1] In der Praxis waren eher die Rituale Anlass für Argwohn. So werde ich heute noch in Griechenland gefragt, ob wir das Kreuz mit zwei oder drei Fingern schlagen und rechts oder linksherum; die Griechen beenden das Zeichen mit der Hand auf dem Herzen. Hier war es von grundlegender Bedeutung, dass die streitenden Parteien die Argumente der anderen Seite möglichst schon vor dem Streitgespräch kannten. Aber Grie­chisch war den meisten Lateinern unbekannt, besonders die subtilen Begriffe der Theologie, die Griechen machten sich mehr Mühe, aber auch da waren wenige in der Lage, so gut Latein zu können. Hier kommen nun die Experten ins Spiel. Bislang war eine Person aus der Gruppe bekannt, Burgundio von Pisa. Peter Classen, aus einer Gelehrtenfamilie besonders Klassischer Philologen, beherrschte beide Sprachen, Latein und Griechisch, und erforschte als Mediävist die griechisch-lateinischen Beziehungen von Karl dem Großen bis ins Hoch­mittelalter. Seine Abhandlung bleibt ein Muster der Gelehrsamkeit und der beharrlichen Suche.[2] Zusammen mit Hugo Etherianus[3] und seinem Bruder Leo Tuscus, Moses von Bergamo, Paschalis Romanus, Anselm von Havelberg und Johannes Rogerios Dalassenus ist er einer der Hauptpersonen (46-64) in dem Buch von Leonie Exarchos.[4] In der Einleitung diskutiert LE den Gegenstand und die Leitfragen, darunter Kulturtransfer und Migrations­geschichte und – als Teil eines Graduiertenkollegs zu diesem Thema – Experten in der Fremde, Experten für die Fremde (9-31). Als zeitlichen Rahmen nimmt sie die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, bis mit der Eroberung Konstantinopels durch die lateinischen Kreuz­fahrer 1204 die Rahmenbedingungen sich grundlegend änderten. Ein lateinischer Patriarch wird eingesetzt, der die Religion der Lateiner (des Papstes in Rom) durchsetzt. Hier findet das Motto Anwendung una religio in diversitate rituum (was sich bei Anselm von Havelberg findet). Das ist nicht ein Wort der Religionstoleranz, wie man das gerne Nikolaus von Kues zuschreibt, der dreihundert Jahre später angesichts der Unionsverhandlungen kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen den Grundsatz wiederholte. Da geht es nicht darum, dass letztlich alles eine Religion sei, die jede Kultur auf ihre Weise feiert. Vielmehr bedeutet das, dass die eine und einzige Religion (die römische des Papstes) durchgesetzt werden muss und angesichts der lateinischen Herrschaft auch Geltung verschafft werden kann, wenn es auch Variationen geben darf, was Sprache und Rituale angeht.

Nach den Fragestellungen, Begriffen und Methoden diskutiert LE in drei Anläufen deren Wirken: Die Sprache (65-156), die Religion (157-248), die Politik (249-272). Dann folgen noch die Verstetigung des Expertenstatus (273-288) und die Frage der Loyalität, Identifikationen und Konflikte (289-350). Eine deutsche und eine englische Zusammenfassung beschließen die Abhandlung. Der Anhang umfasst das Quellen- und Literaturverzeichnis 22 Seiten, mit ca. 550 Einträgen. Und ein Register der Orte, Namen und Sachen. Die drei Anläufe zeigen in den drei Bereichen, wodurch sich die Experten auszeichneten oder vorgaben, sie hätten die Expertise. Eigentlich waren sie nur Vermittler, konnte aber die Gespräche durchaus lenken. Als ein Verhandlungsführer verlangte, der Experte sollte die Begriffe Wort für Wort wieder­geben, sah der sich außer Stande. Und richtig, für das Übertragen bedarf es nicht nur ein Wort für ein Wort (was bei einem Kauf und Verkauf möglich und nötig ist), sondern Zusammenhänge und kulturelle Differenzen. Dieses Können, in zwei Kulturen denken und der anderen Seite erklären zu können, nennt man auch den Makler/Vermittler zwischen den Kulturen (cultural broker). Sie öffnet aber auch die Möglichkeit, dass der Vermittler die Gespräche manipuliert, für das LE einige Beispiele berichtet. Die drei Anläufe haben aber auch zur Folge, dass die Abhandlung nicht so recht vorankommt, weil immer wieder die gleichen Beispiele behandelt werden. Die Fragen, die man auf den Religionsgesprächen und Unionsverhandlungen diskutierte, sind allerdings auch nicht spezifisch für das Ost-West-Problem. Gerade gleichzeitig stritt man in den Diözesen Passau, Freising und Wien um die richtige Christologie. Das eskalierte ab Herbst 1153 im Kampf zwischen den Modernisten, Schülern von Abaelard und Gilbert von Poitiers, mit der Speerspitze des Magister Petrus in Wien, und den etwas konservativeren, deren Polemik des aufbrausenden Gerhoch von Reichersberg wüste Züge annahm.[5] Es ging um das sehr spekulative Problem des Verhält­nisses der Menschlichkeit zur Göttlichkeit Christi nach seiner Auferstehung. Und Arno von Havelberg war darin involviert. Das hat die gerade erschienene Edition des Scutum Canoni­corum des Arno von Reichersberg deutlich gemacht, war aber auch schon vorher bekannt.[6]

Es ist erstaunlich, wie fast gleichzeitig die Beziehungen zwischen Byzantinern und den Lateinern in verschiedenen Büchern diskutiert werden. Fast gleichzeitig erschien Samuel Pablo Müller: Latins in Roman (Byzantine) Histories: Ambivalent Representations in the Long Twelfth Century (The Medieval Mediterranean 127) 2021. Leiden: Brill 2021 (eine Diss. Zürich bei Claudia Zey und Michael Grünbart). Müller beschreibt aus der Sicht byzantinischer Historiographie. Dort sind die literati (Gebildeten) eine Gruppe, daneben die ambivalente Haltung gegenüber den italienischen Stadtstaaten Venedig, Genua und Pisa, zu Prinzen und Westlern in der Armee. Das Buch endet mit der Bewertung der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204 und möglichen Allianzen bis hin zum Lob für Friedrich Barba­rossa. Die Experten, von denen LE handelt, sind nicht behandelt (laut Index). Evangelos Stavropoulos: Imperium et sacerdotium. Droit sous l’Empereur Manuel Ier Comnène (1143-1180). Turnhout: Brepols 2022. Die Habilitationsschrift Heidelberg von Dr. Stefan Burkhardt: Mediterranes Kaisertum und imperiale Ordnungen. Das lateinische Kaiserreich von Konstantinopel. Berlin: De Gruyter 2014 behandelt die Zeit nach der Eroberung von 1204 unter der Frage­stellung der Vorstellung von Reich und Ordnung, Unterordnung Konnubium im Spiegel der Rituale unter anderem auch die Frage: Über oder zwischen den Religionen?

Man wünscht sich als Leser einen etwas breiteren Kontext, nicht so eng auf Konstantinopel und die Unionsbemühungen bezogen. Müllers Buch öffnet den größeren Rahmen, umfassen­der auf die Westler im Kaiserreich bezogen. Wie interessant wäre die Figur des lateinischen Patriarchen von Antiochien, der Interesse an Zusammenarbeit zeigt und als Kulturvermittler auftritt, Aimery von Limoges! Die Skizze 198-202 hängt ganz von dem Dankesbrief ab, den Aimery an Hugo Aetherianus schreibt. So konzentriert sich Leonie Exarchos auf die Funktion der Experten, ihre mehr oder weniger kundige Vermittlerrolle, den Versuch, sich unentbehrlich zu machen. Eine wichtige Facette in der von der Mediävistik vorangetriebe­nen Globalisierung der Mediävistik als Mediterranistik.[7]

 

Bremen/Wellerscheid, November 2022                                                    Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Die lange Vorgeschichte Peter Gemeinhardt: Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter. Berlin: de Gruyter 2002. Ein wichtiger Text ist 2021 ediert: Niketas von Thessaloniki: De processione Spiritus sancti. Ed. Alessandra Bucossi et Luigi D’Amelia. (CCG Corpus Christianorum, series Graeca 92) Turnhout: Brepols. Exarchos nennt ihn 180; 189f. Alessandra Bucossi und Anna Calia: Contra Latinos et adversus Graecos : the separation between Rome and Constantinople from the ninth to the fifteenth century. Leuven: Peeters 2020.

[2] Peter Classen: Burgundio von Pisa. Richter – Gesandter – Übersetzer. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, PH 1974,4) Heidelberg: Winter 1974 und weitere Aufsätze, die abge­druckt sind in Peter Classen: Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Josel Fleckenstein. Sigmaringen: Thor­becke 1983, bes. Das Konzil von Konstantinopel 1166 und die Lateiner, S. 117-146.

[3] Zu dessen Buch über die Patarener (möglichen Vermittlern einer Ketzerei) Janet Hamilton (ed.): Hugh Eteriano, Contra Patarenos. (The Medieval Mediterranean 55) Leiden; Boston: Brill 2004. Besprochen von CA Theologische Literaturzeitung 132(2007), 1211-1212.

[4] Leonie Exarchos studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Heidelberg und Paris. Als Wissen­schaftliche Mitarbeiterin war sie an der Uni Mainz (Byzantinistik) und im Graduiertenkolleg Göttin­gen. Seit 2021 ist sie Grundsatzreferentin im Referat VII 9 (OZG) des Hessischen Ministeriums des Inneren und Sport. Das Buch ist eine Göttinger Dissertation, betreut vom Mediävisten Frank Rexroth, dem Byzantinisten Johannes Pahlitzsch und Hedwig Röckelein, ebenfalls Göttinger Mediävistin. Den Namen der Autorin kürze ich mit den Initialen ab.

[5] Joachim Ehlers: Otto von Fresing. Ein Intellektueller im Mittealter. München: Beck 2013. Zur Ausein­andersetzung mit Gerhoch 110-115

[6] Mit meiner Rezension (aus der dieser Satz entnommen ist): Leben wie die Jünger, aber nicht als Mönche. Eine Streitschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Arno von Reichersberg: Scutum canonicorum. Edition, Übersetzung, Kommentar. Herausgegeben von Julia Becker. Regensburg: Schnell+Steiner 2022. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/09/15/reichersberg-scutum-canonicorum/ (15. September 2022).

[7] Eine kleine Bemerkung zum Buch als Buch. In der Tat schätze ich Bücher auf Papier mehr als ‚elek­tronische‘ Ausgaben von Büchern der Wissenschaft. Während man Romane mittlerweile ganz gut und mit viel weniger Ballast im Koffer auf einem Lesegerät digital lesen kann, ist das bei wissenschaft­lichen Büchern anders. Im Papier-Buch kann ich zurückblättern auf das Inhaltsverzeichnis, für die Fußnote im Literaturverzeichnis oder Abkürzungsverzeichnis nachschlagen, zurückblättern, finde eine Stelle wieder „rechte Seite oben“. Das digitale Buch verführt dazu, nur noch die Stelle sich suchen zu lassen, die mein Stichwort enthält. In dem Fall dieses Buches erhielt ich es, obwohl vorbestellt, als Book on Demand, das heißt, es wurde gar keine Druckauflage mehr hergestellt, sondern das Papier­buch wird für jeden Besteller oder Bestellerin ausgedruckt und gebunden; etwa vier Wochen dauert das. Kein Lager im Verlag, kein Regal in der Bibliothek; die Covid-Pandemie hat die Entwicklung zum digitalen Buch enorm beschleunigt. Auf den ersten Blick ist dieses Buch ein Qualitätsbuch mit festem Einband, Büttenpapier für das Vorsatz, Staubbändchen, Lesezeichen. Sogar die farbigen Abbildungen im Anhang sind farbig gedruckt. Aber es lässt sich nicht mehr flach aufschlagen, weil es nicht fadengeheftet ist; an einer Stelle ist der Buchblock leicht aufgebrochen. Bei allem Erstaunen, was jetzt möglich ist: Das ist doch eine Qualitätsstufe unter den wissenschaftlichen Büchern etwa vom Verlag Mohr Siebeck, die noch fadengeheftet sind. Aber trotzdem mindestens so teuer.

Blumenberg-Jonas Briefwechsel

Hans Blumenberg und Hans Jonas:
Briefwechsel 1954-1978 und weitere Materialien.

Herausgegeben von Hannes Bajohr.

Berlin: Suhrkamp 2022 [340 Seiten, fest gebunden]

ISBN 978-3-518-58777-5

 

Großtaten und Gefahren der Technik:
Gegenwartsdiagnosen von Hans Blumenberg im Gespräch mit Hans Jonas

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Zwei der bedeutendsten Philosophen beschäftigen sich mit Grundfragen der Gegen­wart. Auf den Briefwechsel folgt Blumenbergs wachsende Skepsis gegenüber Jonas‘ Aufruf, die Gefahren der Technik ernst zu nehmen im Blick auf das Leben kommender Generation.

Ausführlich: Die beiden Philosophen schätzten sich und schickten sich gegenseitig ihre Aufsätze und Bücher. Ihre Interessen konvergierten nicht zuletzt auch, weil sie beide durch den Nationalsozialismus angegriffen wurden, aber sich aus diesen Einschränkungen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten befreiten. Sie stellten neue Fragen, die bis dahin kaum als Themen der Philosophie wahrgenommen worden waren: die moderne Welt, die Bedeutung der Technik, die Körperlichkeit und Gefährdung der Menschen.

Der Jüngere, Hans Blumenberg (1920-1996),[1] entdeckte den erst spät als Universitätsprofes­sor etablierten Hans Jonas (1903-1993) [2]  auf einem Internationalen Kongress der Philosophen in Belgien und machten dessen neue Themen in deutschen Zeitschriften bekannt. Er band Jonas in Themenhefte ein, die nicht mehr mit der lähmenden Aufarbeitung der NS-Zeit, sondern mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu tun hatten. Wie andere (v.a. Rudolf Bultmann) bemühte sich Blumenberg, Jonas einen Ruf an eine deutsche Univer­sität zu verschaffen und endlich gelang es auch, Pensionsansprüche für Jonas durchzusetzen (304).[3] Als 20 Jahre nach dem ersten Band der Gnosis der zweite erschien, setzte sich Blumen­berg in einer Sammelrezension zur Geistesgeschichte der Spätantike[4] mit dem berühmten Erstlingswerk auseinander: Gnosis und spätantiker Geist.[5]  Sie trägt schon den für Blumenberg bezeichnenden Titel Epochenschwelle und Rezeption. Denn Blumenbergs erstes großes ver­öffentlichtes Buch 1966 (da war er 46 Jahre alt) behandelte die Epochenschwelle zur Neuzeit unter dem Titel Die Legitimität der Neuzeit.[6] Denn große Philosophen hatten die Neuzeit für ‚illegitim‘ erklärt, weil sie der mittelalterlichen Welt Gott gestohlen hätte und alles dem Menschen zuschrieb.[7] Blumenberg schickte das Buch an Jonas, der sich nicht einmal bedank­te und erst, als Blumenberg ihn verärgert darauf hinwies (149f), es sieben Jahre später lobte als das „von mir geschätzteste Buch deutscher Philosophie in mehr als einem Jahrzehnt“ (151). Blumenberg und Jonas trafen sich auch in familiärem Kreis („Grüße von Haus zu Haus“) zum letzten Mal 1976. Danach entfernte sich Blumenberg zunehmend, was er aber nur seinen Karteikarten anvertraute, die der Herausgeber wiederum aus den Materialien (im riesigen Nachlass Blumenbergs) veröffentlicht – eine sehr wichtige Beilage. Jonas erkannte nämlich die drohende Gefahr der Selbstvernichtung der Welt und formulierte besonders in seinem Buch 1979 Das Prinzip Verantwortung die Pflicht zur Erhaltung echten Lebens auf der Erde als neuen kategorischen Imperativ. Man müsse vom schlechtesten Verlauf der Folgen einer Großtat der Technik ausgehen, wie der Kernspaltung in den AKWs, nicht vom besten. Blumenberg dagegen fand, dass die Menschheit ein viel zu kleiner Faktor in der Welt sei, als dass sie weder zur „Bewahrung der Schöpfung“ noch diese zu ‚erlösen‘ in der Lage sei. Diese theologischen vorgeprägten Vorstellungen widersprächen der Autonomie der neuzeitlichen Menschen und werteten die Gegenwart ab. Ein Beitrag 1985 (264-266) und eine nicht datierte lange Karteikarte Hans Jonas, der Prognostiker der wiedergefundenen Gnosis (275-280) wider­sprechen Jonas‘ Prinzip Verantwortung und fordert ein Recht der Gegenwärtigen, also die Gegenwart nicht durch die Zukunft(s-Angst) zu erdrücken.

Der Herausgeber hat all die Anspielungen (die die Briefpartner natürlich kannten und nicht erläutern mussten) sehr gut entschlüsselt und präzise nachgewiesen, dazu Querverweise zu anderen Briefen. Da waren auch härtere Nüsse zu knacken. Unterstützung erhielt er unter anderem auch von den anderen Herausgebern Dietrich Böhler und Bernadette Herrmann. Denn der Briefwechsel wird noch einmal ediert werden in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas.[8] Dort werden allerdings die für das Verhältnis der beiden Philoso­phen wichtigen „Materialien“, besonders die Blumenbergs nicht enthalten sein. Ohne diese Funde im Nachlass würde man viele Facetten nicht verstehen. Darin liegt ein besonderer Gewinn dieser Ausgabe. Das Nachwort des Herausgebers Hannes Bajohr fasst das Verhält­nis der beiden großen Philosophen ausgezeichnet zusammen, Blumenbergs zunehmende Kritik am späten Jonas und seinem Prinzip Verantwortung wird hier erstmals ausführlich dokumentiert. Das hielt Blumenberg aber nicht davon ab, nach Jonas‘ Tod das Ruhmeslied in der Gnosisforschung anzustimmen, dessen Konjektur des gnostischen Mythos 1936 durch die Funde von Nag Hammadi 1945 glänzend bestätigt wurde, sondern auch trotz der Skepsis gegenüber der „Heuristik der Furcht“ ihn zu einem der ganz großen Philosophen zu erklären (der Text bricht ab 281-283, dazu Bajohr 327). „Selbstbehauptung oder Selbstbeschränkung“, auf diese Formel bringt der Herausgeber die Alternative (315-327).

Wie der Fund der Gnosis-Bücher von Nag Hammadi Jonas‘ Konstruktion des gnostischen Grundmythos, so hat die Umweltkatastrophe („Klimakrise“) Das Prinzip Verantwortung bestätigt: Die Menschheit ist in der Lage, das menschliche Leben auf der Welt zu zerstören. Aber die Aufgabe lässt sich nicht durch Rückwärtsbewegung mit Verzicht auf Technik angehen, sondern durch bessere Technik (so Blumenberg), die dann aber auch wieder die Folgen-Abschätzung verlangt für das Prinzip Verantwortung.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2022                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Zu seiner Biographie (und meine Rezension): Wie Weltbilder umstürzen. Und die Gottesbilder mit ihnen: Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – eine intellektuelle Biographie. Berlin: Suhrkamp 2020. + Hans Blumenberg: Ursprung der mittelalterlichen Ontologie [1947] Berlin: Suhrkamp 2020.  https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/11/21/hans-blumenberg/ (21. November 2020). Kurt Flasch: Hans Blumenberg: Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966. Frankfurt am Main: Klostermann 2017, ²2019.

[2] Hans Jonas war nach seiner Dissertation, noch bevor er sein erstes Buch veröffentlicht hatte, ausge­wandert; in Deutschland hatte er als Jude keine Zukunft. Aber als Wissenschaftler konnte er auch nicht in Israel arbeiten, Kriegsteilnahme, Dozent in Kanada unter schwierigen Bedingungen. Erst die Berufung an die Universität New School of Social Research in New York 1955 machten ihn zum etablierten Wissenschaftler.

[3] Zum Briefwechsel mit Bultmann s. die Ausgabe (und meine Rezension) Rudolf Bultmann – Hans Jonas: Briefwechsel 1928-1976. Mit einem Anhang anderer Zeugnisse. Hrsg. Andreas Großmann. Tübingen: Mohr Siebeck 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/12/07/bultmann-jonas-briefwechsel/ (7.12.2020).

[4] Die 38 Seiten umfassende Rezension von 1958 ist in den Beilagen abgedruckt S. 211-248.

[5] Teil 1 Die mythologische Gnosis erschien in der von Rudolf Bultmann, seinem eigentlichen Doktor­vater, herausgegebenen Reihe Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 1934, Der zweite Teil Von der Mythologie zur mystischen Philosophie 1954, die erste Hälfte, 1993 die zweite Hälfte hrsg. von Kurt Rudolph.

[6] Die Dissertation und Habilitation waren nur als Schreibmaschinenexemplare archiviert. Als Vorbe­reitung des Neuzeit-Buches war zuvor ein schmaler Band mit Aufsätzen Die kopernikanische Wende veröffentlicht. Danach folgte Buch auf Buch und viele Texte, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden und werden.

[7] Im Zusammenhang ist das beschrieben in Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens. München: Hanser 2022.

[8] Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Dietrich Böhler, Michael Bongardt, Holger Burkhart, Christian Wiese und Walther Zimmerli. 5 Abteilungen mit 11 Bänden in 13 Teilbänden. Freiburg: Rombach; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010 ff. Band V.1 Briefe und Erinnerungen ist für 2023 angekündigt. Die Übersicht Hans Jonas KGA Online | Appendix zur Kritischen Gesamtausgabe der Schriften von Hans Jonas (hans-jonas-edition.de) (21.10.2022).

Heilmann: Lesen in Antike

Jan Heilmann: Lesen in Antike und frühem Christentum.
Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven
und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese.

(Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 66)
Tübingen: Narr Francke Attempto, [2021].
707 Seiten.
ISBN 978-3-7720-8729-5.
120 €.
[Habil Bochum 2019/2020]

 

„Verstehst Du auch, was du liest?“
Vom Lesen und Verstehen
in der Antike,
besonders im Neuen Testament.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ein Meilenstein für das Verständnis – nicht nur der Bibel, aber für deren Texte ganz besonders -, wie in der Antike Texte medial aufgenommen und durch Lesen dekodiert wurden. Die These vom lauten Vorlesen und den der Schrift unkundigen Hörern ist geplatzt.

Ausführlich: Diese Bochumer Habilitationsschrift ist nicht nur vom Umfang her, sondern in ihrer Sorgfalt und umfassenden Kenntnis der dafür zu berücksichtigenden Texte, in der klaren Argumentationslinie ein grundlegendes Werk. Obwohl nur dem Thema Lesen ge­widmet, trifft sie ins Zentrum wichtiger Aspekte antiken Literatur: Wie wurde sie rezipiert? Als Handbuchwissen gilt: Texte wurden erst seit der Spätantike auch leise gelesen, davor in der Regel laut vorgelesen. Jan Heilmann[1] stellt die Texte vor, die für diese Behauptung her­angezogen werden, interpretiert sie und stellt andere Quellen dagegen, die das individuell-direkte leise Lesen belegen.

Das Verhältnis von Sprechen und Schreiben und wieder Sprechen ist ein Vorgang, der bis heute eine zentrale Kulturtechnik darstellt: Gesprochenes wird von jemand gehört und, wenn sie oder er das gelernt hat, in eine visuelle unhörbare Grafik umgewandelt (kodiert), um dann an anderer Stelle, für ein anderes Gegenüber wieder in Gesprochenes dekodiert zu werden. Wie das geschieht, dafür gibt es experimentelle Studien, etwa, wie weit das Auge vorausgreift, wenn es den Text wieder in Sprache dekodiert.[2]

Im digitalen Zeitalter ist nur scheinbar der mittlere Teil, die Umwandlung in einen geschriebenen Text, überflüssig geworden ist. Wenn ich in meinem Handy die weibliche Stimme „Siri“ um eine Information frage und sie eine Internetseite mit der Antwort präsentiert, die ich mir auch vorlesen lassen kann. Meine gesprochene Frage wird erst maschinell – für mich unsichtbar –in eine Computer­schrift übertragen, die die Frage kodiert, so dass sie eine kodierte Antwort finden und präsentieren kann.

JH untersucht zunächst die griechischen (lateinischen und hebräischen) Wörter und Meta­phern für die Kulturtechnik. In anderen Kulturen, die wie im Hebräischen keine Vokale geschrieben haben, müssen die Leser*innen diese aus dem Zusammenhang erraten. Die Schrift, die die Griechen nach einem ersten Mal als eine Art Keilschrift gelernt hatten, aber nur wenige zu schreiben und zu lesen wussten, ein zweites Mal aus dem Orient als Alpha­betschrift adaptierten, ist für viel mehr Menschen erlernbar, demokratischer, hat aber mit den (um die) 24 Buchstaben nicht für jeden Laut einen geeigneten Buchstaben. Das griechische Wort für Lesen ist vor allem anagignosko ἀναγιγνώσκω, was so viel wie ‚wieder-erkennen‘ bedeutet. Dabei geht es nicht, wie beim ersten Leselernen, um das Erkennen einzelner Buchstaben, sondern für geübtere Leser*innen um Wörter und, indem das Auge schon vorausschaut, um das Erkennen halber Sätze. Die bisherigen Vertreter der These vom lauten Vorlesen meinten, die Schrift sei nur die Hilfsbrücke zwischen Gesprochenem und Gesprochenem. Dazu kommt, dass die meisten antiken Texte in scriptio continua geschrieben sind: ohne Zwischenräume zwischen den Wörtern, ohne Satzzeichen. Daraus entstand die These, dass solche Texte nur verstanden werden können, wenn man sie laut liest und im Lesevorgang Worteinheiten isolieren kann. Die Leseforschung hat aber gezeigt, dass es für das Dekodieren des geschriebenen Textes keine Stimme braucht, auch nicht ein Murmeln, eine Bewegung der Lippen, sondern das stimmlos erfolgen kann.[3] Dazu gibt es weitere Zeichen, die den Text gliedern, wie Überschriften, Kolumnen, die nicht zu breit sein sollten, Para­graphen, Akzente, Anzeige des Sprecherwechsels, etc. Hier wären noch andere Hilfsmittel einzubeziehen wie den Finger, der die Zeile und das Wort im Satz mitverfolgt – neben den Augen. Wichtig ist dann das entsprechende Wort für die Rezeptionsweise[4] akoúo ἀκούω. In der Regel wird das Wort im Deutschen mit „hören“ übersetzt, das Aufnehmen eines Lautes und Wortes über die Ohren. Die Verwendung zeigt aber, dass das Wort auch andere Formen der Wahrnehmung bedeuten kann, etwas ‚wahrnehmen, verstehen‘.[5] Es ist kein Beleg dafür, dass Texte in der Antike laut vorgelesen wurden. So prüft JH nach allen Regeln der philo­logischen Kunst die Bedeutungen der Wörter.[6]

Besonders mühsam zu entziffern sind die griechischen Steininschriften. Meist sind sie nämlich stoichedón geschrieben, also Buchstabe unter Buchstabe, schön in Reih und Glied; die Zeile endet, wo eben die Zeile hundert oder soviel Buchstaben voll hat, oft mitten im Wort. Sie ergeben ein schönes Schriftbild, dafür sind sie schwerer zu lesen. Ich vergleiche das Hörverständnis einer Fremdsprache: Man hört einen gesprochenen Satz und muss sich die Wörter wieder abtrennen.

Diese Untersuchung zu der Lexik und Metonymie/Metaphorik begrenzt JH nicht auf das relativ kleine Corpus des Wortschatzes im NT, sondern breit in der antiken Literatur unter Berücksichtigung der Forschungsliteratur.[7] Nur kurz ist schließlich angesprochen die Erreichbarkeit von Büchern in Form von Rollen oder in Codices (271-289).[8]

Der zweite Teil (311-539) wendet nun die im ersten Teil erarbeiteten Grundlagen an auf spezifische Corpora. Zunächst auf die Hebräische Bibel, auf das Werk Philons und auf die Rollen aus Qumran (313-380). Das meist verwendete Wort kara‘ קרא bedeutet zwar ‚rufen‘, wird aber auch verwendet, wenn jemand leise liest. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Kapitel, in dem es um das Vorlesen eines Abschnitts aus der Tora in der Synagoge geht (364-375).[9] Das Hand­buchwissen leitet die Lesung im christlichen Gottesdienst direkt aus der Lesung in der Synagoge ab und bewertet das als ein revolutionäres Element gegenüber dem sonst üblichen Kultus im Tempel. JHs Skepsis bezieht sich darauf, dass die regelhafte Lesung in der Synagoge erst aus rabbinischen Quellen belegt ist. Die Theodotos-Inschrift, die das schon für die Zeit des (noch stehenden Zweiten) Tempels belegt, ist vielleicht später zu datieren (was JH 367 Anm. 239 aber selbst nicht teilt). In dieser Inschrift ist zweierlei in der Synagoge vorgesehen: Das Vorlesen des Gesetzes und die Lehre der Gebote. Auch Josephus bezeugt das Vorlesen der Tora am Sabbat, aber ist damit auch ein Gottesdienst gemeint? Ebenfalls skeptisch sieht JH die neutestamentliche Stelle Jesus in der Synagoge von Nazareth (Lukas 4,16-21; JH 399-406). Wenn das keine kultische Lesung, also ein Vortrag des Textes aus der Tora-Rolle mit anschließender Auslegung sein soll,[10] wie anders kann man die Situation verstehen? Die angespielte Möglichkeit, dass es sich um eine Katechese (also sagen wir Konfirmandenunterricht) handelt, trifft nicht, was da passiert. Es folgt keine Erklärung des Textes, den Jesus gerade aus dem Propheten Jesaja vorgelesen hat (ein Zimmermann[11] kann lesen!), sondern ein Bekenntnis vor der versammelten Gemeinde: Hier und heute ist die Prophezeiung des Jesaja [61,1-2] erfüllt.“

Die Behandlung von Stellen im Neuen Testament zeigt nun die ganze Meisterschaft JHs. Die Paradestelle ist, wie der äthiopische Hofbeamte in der gerade gekauften Rolle Jesaja 53 liest, aber (wie oben in der Überschrift zitiert) nicht versteht, was das bedeuten soll (Apostelge­schichte 8,28-35; JH 407-411). Ganz beeindruckend ist die Erschließung der (bisher nicht beachteten) Textkritik über die Rezeptionsgeschichte für das Verständnis der Seligpreisung in Apokalypse 1,3 (464-482 in der Angleichung an die ähnliche Seligpreisung in Lukas 11,28). Oder die Frage nach dem Schluss des Markusevangeliums und der hinzugefügten Erwei­terung 457-464. Als Ergebnis der Studie ist festzuhalten, (511-533) und das hat Konsequenzen für die Entstehung des Kanons: „Das Christentum war von früher Zeit an eine Buch- und Lesereligion“. Aber dieses Lesen war nicht nur das Vorlesen eines Textes im Gottesdienst, sondern es gab eine Vielfalt, wie und was gelesen wurde. Das bedeutet auch, dass es kein Lese- und „Deutungsmonopol von Theologie und Kirche gab“ (539).

Auf 150 Seiten bietet der Anhang eine Liste mit Belegen für nicht-vokalisierendes [lautes] Lesen, die üblichen griechischen Verben zu den Materialien, dem Vorgang des Lesens. Abkürzungen, die Quellen und Hilfsmittel und das Literaturverzeichnis. Die Register q1umfassen das Stellenverzeichnis, antike Autoren, ein wertvolles Sachregister und wichtige lateinische und griechische Lexeme. Das Buch ist ordentlich gebunden (nicht fadengeheftet).

Für einen ausgebildeten Gräzisten und Religionshistoriker mit Schwerpunkt auf der Antike war das ein reines Lesevergnügen, wenn man die ganzen Begriffe der Philologie und das harte Geschäft der Textkritik selbst kennt und verwendet. JH kennt nicht nur die Wissen­schaftssprache, sondern findet auch überzeugende Beispiele, wofür man diese Kompetenz erwerben muss, will man in der Wissenschaft auf dem höchsten Niveau arbeiten. Für Klassische Philologen wird die Forschung leichter zu lesen sein als für Studierende der Theologie im neutestamentlichen Seminar. Dennoch ist es aller Mühe wert, dieses Buch durchzuarbeiten, das sowohl ein grundlegendes Thema von ‚Literatur‘ umfassend behandelt als auch zeigt, wie man methodisch zu gültigen Ergebnissen kommt.

 

Bremen/Wellerscheid, Oktober 2022                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jan Heilmann ist seit Sommersemester 2021 Professor für Neues Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (*1984). Er studierte Theologie, Geschichte und Germanistik, war 2010-2013 Assistent von Peter Wick an der Uni Bochum und 2013-2019 an der TU Dresden bei Matthias Klinghardt. Seine Homepage Jan Heilmann – Neues Testament 1 – LMU München (uni-muenchen.de) (30.10. 2022). Die Arbeit wurde ausgezeichnet mit dem Hanns-Lilje-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und dem Dr. Klaus Marquardt Preis der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum. Im Folgenden kürze ich seinen Namen ab mit den Initialen JH.

[2] Sakkaden – Fixierung – Regression: Die empirischen Studien zeigen ein schnelles Voranschreiten des Auges im Text, dann bleibt es bei einem Wort stehen und geht wieder ein paar Buchstaben zurück, um das zu verstehen, und eilt dann weiter.

[3] Ob da der Begriff der inner voice richtig gewählt ist (225), müsste noch untersucht werden. Es gibt die Vermutung, dass, wenn man beim Geldabheben die PIN wissen muss und man sie sich selbst ohne Lippenbewegung in Erinnerung ruft, dass KI sie ‚ablesen‘ kann.

[4] Umfassend hat das „Wahrnehmen“ beschrieben und für eine Religionsästhetik aufbereitet Hubert Mohr: Wahrnehmung/Sinnessystem. Metzler Lexikon Religion 3(2000), 620-633.

[5] Im Neugriechischen kann man auf die Vermutung, es muss irgendwo gebrannt haben, als Antwort bekommen, ich habe den Brandgeruch auch ‚gehört‘ im Sinne von ‚gerochen‘, ‚wahrgenommen‘.

[6] Für das Lateinische gibt es ein Lexikon, das alle lateinischen Wörter der Antike sorgfältig auf unter­schiedliche Bedeutungen hin untersucht und entsprechend die Stichwörter gliedert. Der Thesaurus Linguae Latinae TLL hat seit 1899 sich bis zum Buchstaben „R“ vorgearbeitet.  Für das Griechische, das ungleich mehr Wörter umfasst, kann das Wörterbuch Liddel-Scott-Jones (91940 + Supplement 1968; in Kürze auch auf Deutsch das neue von Franco Montanari (für März 2023 angekündigt bei de Gruyter: 140 000 Einträge auf etwa 2 500 Seiten) eine Bedeutungsunterscheidung anbieten, aber bei weitem nicht alle Belege auflisten. Das digitale Hilfsmittel des Thesaurus Linguae Graecae ist vollständig, auch weitestgehend für die Papyri, aber ist eben nicht durchgearbeitet in den Bedeutungsvarianten. Das muss man dann selbst ausarbeiten und JH hat das für die von ihm untersuchte Lexik getan.

[7] Der Forschungsbericht setzt sich insbesondere mit den viel rezipierten Thesen von P.H. Saenger auseinander. Mehrfach bezieht sich JH auf eine Vorarbeit in der Gestalt der Habilitationsschrift (unpubliziert Tübingen 1996) des Latinisten Helmut Krasser.

[8] Martin Wallraff: Kodex und Kanon. Das Buch im frühen Christentum. Berlin: De Gruyter 2013.

[9] Ich verweise darauf, dass Angelika Neuwirth für den Koran (dem dasselbe Verb zugrunde liegt) zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt: aus den im Gottesdienst eingeübten Lesungen und Gesängen entsteht in Neudeutungen das neue heilige Buch. Dazu etwa meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/21/neuwirth-spaetmittelmekkanische-suren/ (21.3.2022).

[10] „Es gibt keine Anhaltspunkte, das Lesen eines Zitats aus dem Buch Jesaja in Lukas 4,16-20 als eine ‚gottesdienstliche‘ Lesung zu charakterisieren.“ (406). Zur ‚Sakralität‘ der Synagoge im Unterschied zum ‚Kult‘ im Tempel wäre eine eigene Erörterung zu führen. JH stellt sich distanziert zu kultischer Vortrag/ Performanz. – Da JH eine Spätdatierung des Lukas vertritt, ist die Stelle kein Beleg für das erste Jahrhundert. Zur Spätdatierung s. Markus Vinzent: Offener Anfang. Die Entstehung des Christen­tums im 2. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau: Herder 2019. Rez CA in ThLZ 145(2020), 951-952.

[11] Zur Bedeutungsbreite von τέκτων (deutsch ist daraus gebildet Archi-tekt) s. Hans-Peter Mathys: Jesus τέκτων. Theologische Zeitschrift [Basel] 78(2022), Heft 2.

Paul Mendes Flor: Martin Buber

Paul Mendes Flor: Martin Buber. Ein Leben im Dialog.

Übersetzt von Eva-Maria Thimme.

Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2022.
413 Seiten. 2 Abb.
ISBN 978-3-633-54314-4
[Amerikanisches Original:
Martin Buber A Life of Faith and Dissent. New Haven: Yale 2019]

 

 

Gestalter des Judentums in der Moderne: Martin Buber

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Das ist eine großartige detaillierte Bewertung eines Lebenswerkes des großen und gleichzeitig umstrittenen Gestalters der ‚Renaissance des Judentums‘ gegen, inmitten und nach dem Versuch der Vernichtung der Jüdinnen und Juden, aber auch Kritiker Israels als Nationalstaat.

Ausführlich: Martin Buber (1878 – 1965) war einer der führenden Gestalter des jüdischen Selbstbewusstseins in dem ‚jüdischen Jahrhundert‘ vom Berliner Antisemitismus-Streit 1879-1882[1] bis zur Intifada 1987, in der Mitte der Plan der Nationalsozialisten, die europäischen Juden zu ver’nicht’en.[2] Genau dann war er, als 60-Jähriger übergesiedelt nach Jerusalem seit 1938, noch vor der Ausdehnung der Judenpogrome in der ‚Reichskristallnacht‘. Trotzdem wurde er zum Kritiker der Politik des Staates Israel und ihres Gründers Ben-Gurion, einen jüdischen Staat zu schaffen, allerdings mittels Krieg, Terrorismus, Vertreibung.[3] Die Ausrufung des Staates Israel 1948 eröffnete den Juden zwar zum ersten Mal seit der Antike die Möglichkeit, einen autonomen Staat im Lande Israel aufzubauen, das Ziel des Zionismus seit 1897, aber es bedeutete auch Krieg, Kriegsverbrechen, Macht, die keine Ethik kennt. Martin Buber widersetzte sich der Machtpolitik als öffentlicher Redner, als Schreiber von Beiträgen und Leserbriefen, als gefragter Berater der Politik und forderte – selbst sich der Kritik bis hin zum Hass aussetzend – Prinzipien der jüdischen, nicht national-israelitischen – Politik gegenüber den im Unabhängigkeitskrieg vertriebenen und nicht entschädigten Palästinensern, im Prozess gegen Eichmann, gegenüber dem gefeierten Helden des neu­gegründeten Nationalstaates Ben Gurion. Eine öffentliche Person ohne den Rückhalt einer Institution und bestimmt kein ‚orthodoxer‘ Jude.

Paul Mendes-Flohr hat sich sein wissenschaftliches Leben lang mit Martin Buber beschäftigt, immer wieder im umfangreichen Nachlass gearbeitet.[4] Dies galt der deutschen Ausgabe der Werke Bubers in 22 Bänden, die er ab 2001 als Hauptherausgeber zunächst zusammen mit Peter Schäfer, dann ab 2010 mit Bernd Witte: Martin Buber Werkausgabe (MBW) betreute.[5] Die Frucht dieser Arbeit ist die vorliegende Biographie, detailliert, kenntnisreich und genau unterscheidend zwischen aufgeregten Disputen in der israelischen Öffentlichkeit, die oft auf Missverständnissen beruhten oder ungenauen Kolportagen, denen PMF mit genauen Zitaten mitsamt Bubers Richtigstellungen antwortet. Dass Buber mehrfach deutsche Preise annahm und schließlich – nach langem Bedenken – auch zur Verleihung nach Deutschland reiste, brachte ihm den Ruf ein, er sei der Jude für die Deutschen (der Außenseiter als Dialog-Jude). Seine Reden indes waren scharfe Anklagen und gleichzeitig Unterscheidungen, in welcher Weise ‚die Deutschen‘ Täter oder Wegschauer waren, ohne die Pflicht einzufordern, zum Märtyrer zu werden.[6] Die Zuhörer waren beeindruckt, darunter der Bundespräsident Theodor Heuß.[7] Die Preisgelder verschenkte MB an Stiftungen für arabisch-israelische Verständigung. Nur die Rede von der Wiedergutmachung und „Versöhnung“ sowie das dringend benötigte Geld zur Rettung vor dem Kollaps Israels, das Adenauer anbot unter der Bedingung, dass sonst gerichtlich keine Reparationen eingefordert würden,[8] blieb ein Stück Machtpolitik, das viele Israelis nicht akzeptieren konnte.

Dass diese einflussreichen und gleichzeitig gegen den Mainstream kritischen, aber abwägenden Stellungnahmen gehört wurden, hatte sich MB erarbeitet durch immer neue Initiativen, die die Erneuerung des Judentums in der Moderne zum Ziel hatten. Dass die Jüdinnen und Juden seit der Französischen Revolution 1789 und dem preußischen Landrecht 1794 immer mehr Gleichberechtigung erreicht hatten und die Weimarer Republik durch Regierungschefs und den bedeutendsten Außenminister Walter Rathenau maßgeblich gestalteten, sie also in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen zu sein schienen, machte MB nicht stolz oder zufrieden. Juden brauchten eine eigene Identität, die sie nicht im Privaten im Gang in die Synagoge oder den koscheren Speisen finden. Das ‚Königtum Gottes‘ und die prophetische Utopie in die Moderne umzusetzen musste programmatisch als jüdisches Ziel, aber vorbildhaft auch für die ganze Menschheit konzipiert werden. Unermüd­lich nahm MB Vortragsreihen an, gründete Zeitschriften und Buchreihen, übersetzte mit seinem Freund Franz Rosenzweig „Die Schrift“ in einer Weise, die das Hebräische im Deutschen erkennbar durchscheinen lassen sollte. Er organisierte das Lehrhaus in Frankfurt und forderte eine Hebräische Universität in Jerusalem, die nicht Doktoranden produzieren, sondern die Kultur des Judentums für Zionisten lehren und ausarbeiten sollte. Aber welches Erbe bildete das Fundament dafür? Die Zionisten setzten in der Kibbuzbewegung auf basisdemokratischen Sozialismus – ohne Religion. Ernst Bloch verstand das „Prinzip Hoffnung“ als den jüdischen Weg. Gershom Scholem sah in der Mystik die ununterbrochene Tradition, beschrieb aber in seinem großen Buch zum Messias Zwi Sabbatai einen charis­matischen Führer, der sich nicht um das Gesetz und die Orthodoxie kümmerte. Die Figur des Messias war für alle ein zentraler Bezugspunkt (der in dieser Biographie zu sehr auf Buber begrenzt vorkommt). Keinem ging es um das ‚religiöse‘ Judentum. Buber dagegen stellte ein Judentum vor, das als hemmungslos rückschrittlich galt: den Chassidismus des ostjüdischen Schtetls. Dort war MB aufgewachsen und von seinem ebenso reichen wie gelehrten Großvater in diese Tradition eingeführt worden. Aus Sorge vor der Reaktion des Großvaters heiratete MB seine großartige Frau erst nach der Geburt des zweiten Kindes, nachdem der alte Mann gestorben war: sie war eine Goij, Nicht-Jüdin.[9] Sie begleitete ihn durch dick und dünn, über sechzig Jahre lang. Nur, diese armseligen Ostjuden in Galizien, der Ukraine (MB war in Lemberg/Lwiw großgeworden), Polen, denen Treitschke vorge­worfen hatte, sie strömten massenweise nach Deutschland, unkultiviert, unhygienisch, schlecht ausgebildet und brächten das Lohngefüge durcheinander (wieder einmal das Lohndumping den verzweifelten Migranten zum Vorwurf machend statt den bürgerlichen Familien, die die billigen Arbeiter ausbeuteten), die sollten ein Vorbild sein? MB transponierte, er übersetzte nicht die Legenden der chassidischen Lehrer, er übertrug sie in moderne Poetik in dem Sinne, wie er ihre Botschaft in die moderne Welt verstanden wissen wollte. Aber es ging Buber nicht um Religion, sondern um Judentum. Sein Freund Franz Rosenzweig, mit dem er gemeinsam die Tora übersetzte, stritt mit ihm über das Gesetz/Tora und nannte ihn einen „Epikuräer/ Apikoras“,[10] also einen Religionskritiker, der gleichwohl die Tradition kennt und achtet, sicher keinen Orthodoxen.

Eine Episode ist noch bezeichnend: Buber plante mit der Bayerischen Akademie der Wissen­schaften eine Tagung zu ‚Sprache‘. Martin Heidegger sollte auf MBs Wunsch eingeladen werden und kam auch; Heidegger, der die Uni Freiburg als Rektor auf Nazi-Kurs trieb – ein rotes Tuch für Juden. Im Vorfeld der Tagung nutzte MB die Gelegenheit zu Streitgesprächen auf langen Spaziergängen mit Heidegger, an die sich Heidegger später öffentlich nicht erinnern wollte. Auf der Tagung dann dozierte Heidegger über die ‚Ontologie‘ der Sprache. Für MB, nicht anwesend, aber auf Heideggers Beitrag reagierend, war Sprache das Medium nicht nur der (nicht-dozierenden, nicht-monologischen) Kommunikation, sondern des Sich-Einlassens auf ein Du (290-299). „Versöhnung“ konnte er dem immer noch von seiner Haltung überzeugten Heidegger nicht anbieten.[11]

Das ist bei weitem das Beste, Detaillierteste und best Informierte, das man über Buber lesen kann.[12] Etwas einschränkend finde ich, dass die Rahmenbedingungen nicht ausreichend erläutert werden. Die Universität Frankfurt beispielsweise, die MB Lehraufträge erteilte für Jüdische Religionswissenschaft und Ethik (162), war neben Hamburg die einzige deutsche Universität, die nicht staatlich eingerichtet, finanziert und kontrolliert wurde, sondern eine städtische, d.h. unter den Finanzierern waren viele Juden. Insofern stand auch die ‚Theologische Fakultät‘ nicht unter kirchlicher Kontrolle. Die Wissenschaft vom Judentum hatte an keiner deutschen Universität eine Chance, ein akademisches Fach zu werden (Professuren für Judaistik wurden erst ab 1960 eingerichtet); sie wurde von evangelischen Alttestamentlern betrieben – ohne Kenntnis des Judentums nach den biblischen Zeiten. Und Paul Tillich hätte wohl an keiner anderen Universität seine Theologie unterrichten können, wurde erst im Exil in den USA ein Star (222, 313).

Resumierend: Das ist eine großartige detaillierte Bewertung eines Lebenswerkes im Kontext eines (fast) Jahrhunderts, das einen großen und gleichzeitig umstrittenen Gestalter der ‚Renaissance‘ des Judentums gegen, inmitten und nach dem Versuch der Vernichtung vorstellt.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2022                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Die erste Sammlung der Kontroverse, unter denen der Historiker des Deutschen Kaiserreichs Hein­rich von Treitschke und der Pfarrer des Kaiserhofs Adolf Stoecker auf der einen Seite gegen die Juden als vollberechtigte Bürger des Deutschen Reiches kämpften, der Althistoriker Theodor Mommsen auf der anderen Seite hervorragte, veröffentlichte Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismus­streit. (Sammlung Insel 6). Frankfurt am Main: Insel 1965. Umfassend Karsten Krieger (Bearb.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. 2 Bände. München: Saur 2003.

[2] Gut dokumentiert im Wikipedia-Artikel Erste Intifada, die im Oslo-Abkommen 1993 zu einer Zwei-Staaten-Lösung ein positives Ende zu finden schien. Die Intifada findet einen Wendepunkt einer neuen Bewertung der Opferrolle Israels, die man bis dahin erzählen konnte durch den Vernichtungs­willen erst der Nazis, nun der Araber, insofern als der Staat Israel seither der best bewaffnete, international best unterstützte, best informierte Staat im Nahen Osten wurde, der gegen die Palästinenser unkritisiert jedes Mittel einsetzen konnte, ohne dass der anderen Seite ein adäquates Mittel zur Verfügung stand: Steine gegen Kampfjets. Dem Iran als Unterstützer von Gegenmaßnahmen wurde Terrorismus vorgeworfen.

[3] Man muss sehr genau unterscheiden, wie der Staat Israel als ‚jüdischer Staat‘ etwa von der George W. Bush und der Trump-Präsidentschaft verwendet wurde – die Araber mit israelischem Pass ausschließend – oder integrierend. Davon zu unterscheiden ist die Zwei-Staaten-Lösung mit einem unabhängigen palästinensischen Staat neben dem multiethnischen (mit russischen, äthiopischen, jemenitischen, deutschen [usw.] Juden und den Arabern mit israelischem Pass) Staat Israel. Buber setzte sich ein für die Integration der arabischen Einwohner und die Entschädigung der durch die Nakba (Vertreibung) Enteigneten. Das betraf auch speziell auch sein neues Haus in Jerusalem, das einer Familie gehörte, die in die Türkei geflohen war.

[4] Paul Mendes-Flohr, in New York 1941 geboren in einer galizischen Familie, Teil der jiddisch-sprechenden community. Schon in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit Martin Buber.

[5] Martin-Buber Werkausgabe. 22 Bände. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001-2022. Gliederung findet sich unter Werkausgabe | Martin Buber (martin-buber.com) (nicht ganz auf dem letzten Stand). Detaillierter Philosophische Fakultät der HHUD: Startseite (uni-duesseldorf.de) (16.08.2022)

[6] Besonders umstritten war nach der Goethe-Medaille der Universität Hamburg der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in ’seiner Stadt‘ Frankfurt 1953. Zur Rede (289) mit dem Schlussatz „Wer bin ich, dass ich mich vermessen könnte, hier zu vergeben?“ Auslöser für sein Umdenken, nun doch nach Deutschland zu reisen, war eine Rede von Romano Guardini (285). Theodor Heuß 288 und 314

[7] Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Übersetzt von Angelika Schweikhart.

Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag (Suhrkamp) 1992. Englisch London : Routledge & Kegan Paul/ Princeton UP 1973.

[8] Das Luxemburger Abkommen am 10.9.1952. Constantin Goschler in Die Zeit Nr. 36, 1.Sptember 2022, 17. Der Verfasser arbeitet gemeinsam mit Lorena de Vita an einem Buch über dieses Abkommen.

[9] Die Andeutung von PMF, sie sei in einer esoterischen Kommune in Südtirol aufgewachsen, die von einem zum Islam konvertierten Juden begründet und geleitet wurde, würde Religionswissenschaftler näher interessieren. Später beschreibt sie in einem Schlüsselroman Muckensturm den Prozess der Nazisierung ihrer Nachbarn in Heppenheim.

[10] Die Freundschaft mit Franz Rosenzweig, dem unheilbar erkranktem Frankfurter Freund 145-177.

[11] PMF 296 „…dass Heidegger nicht nur Bubers Dialogverständnis nicht teilte, sondern sich beharrlich weigerte, einzugestehen, dass ein Dialog zwischen einem Juden und einem Deutschen – noch dazu einem, der seine Unterstützung des Nationalsozialismus nicht bereute, – zwangsläufig im Schatten der Schoah stattfinden müsste, wollte er denn seinem Wesen nach aufrichtig sein.“

[12] Das muss ich insofern einschränken, als ich nicht die französische Biographie kenne von Dominique Bourel: Martin Buber, sentinelle de l’humanité, die auch auf deutsch übersetzt ist von Horst Brühmann: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Biografie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus [2017], fast tausend Seiten.

Ratschlag, ob man den Juden …

Johannes Reuchlin: Ratschlag, ob man den Juden
alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll.

Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch.
Neuedition und Neuübersetzung.
Hrsg. und übers. von Jan-Hendryk de Boer.
Ditzingen: Reclam 2022. 173 S.
6,80 €
ISBN: 978-3-15-014248-6.

 

Reuchlins Einspruch 1510: Juden haben ein Recht auf ihre Bücher
– sie sollen nicht verbrannt werden.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Reuchlins Gutachten 1510 lehnte den Plan ab, die Schriften der Juden zu vernichten. Wer in ihnen Kritik am und Schmähung des christlichen Glaubens behaupte, müsse sie erst einmal im hebräischen Original lesen und aus den Quellen belegen.

Ausführlich: Mit diesem kleinen Band macht der Verlag Reclam wieder auf einen Text aufmerksam und der Herausgeber Jan-Hendryk de Boer hat Vorzügliches geleistet, um den Text sprachlich zugänglich zu machen und ihn in die zeitgenössische Diskussion einzu­ordnen mit seinen Kommentaren.[1]

Es geht um ein Gutachten zu dem drohenden Entscheid des Kaisers Maximilian, alle religiösen Bücher der Juden zu verbrennen außer der Tora. Das Gutachten ist gedruckt,[2] während es sich bei den Büchern der Juden um Handschriften handelt. Als Kenner der jüdischen Tradition aus eigener Lektüre des Hebräischen erhielt er den Auftrag zu dem Gutachten. Der Kaiser wollte andere Stimmen heranziehen als die des Judenhassers Johannes Pfefferkorn (1469-1521). Dieser war in einer jüdischen Familie geboren, bekehrte sich aber (wohl 1504) unter dem Einfluss der Kölner Dominikaner zum Christentum. Er kannte also die jüdische Tradition und stellte sie verzerrt und böswillig dar, ein fanatischer Renegat, wie andere vor ihm, etwa Raimundus Martini, der mit für die Talmudverbrennung 1269 in Paris gesorgt hatte.[3] Neben der Auslegung der Bibel in Midrasch und Talmud, sollten vor allem die christenfeindlichen Polemiken vernichtet werden, das Nizzahon und die Toledot Jeschu, ein Anti-Evangelium.[4] Die hatte man aber bei der Konfiszierung erst in Frankfurt, dann in Worms und Mainz u.a. nicht gefunden, obwohl man etwa 1500 Bücher beschlagnahmt hatte, die Grundlage für den Gottesdienst und Kultur der Juden. Diese Konfiskation geschah in des Kaisers Namen, denn 1509 konnte Pfefferkorn bis zum deutschen Kaiser Maximilian vordringen und seine Forderung vortragen. Gedrängt wurde er von den Dominikanern in Köln; die konnten kein Hebräisch und hatten ziemlich sicher kein Exemplar des Talmud. Pfefferkorn bezog sich also vor allem auf den „Ketzersegen“ im 18-Bitten-Gebet, den er in drei Sprachen drucken ließ. Reuchlin weist nach, dass die Übersetzung böswillig sei und die zwei wichtigsten Wörter gar nicht im Text stehen.[5] Vielmehr verlangte er, dass man die Bücher der Juden studieren sollte, dafür konnte er sich auf das Wort Jesu berufen (Johannes 5,39): scrutamini scripturas studiert die Schriften! Und weist in den Quellen nach, was ihr behauptet. Das ist der humanistische Grundsatz ad fontes! An die Quellen! Der originale Wortlaut ist entscheidend, nicht Hörensagen und Traditionen aus zweiter Hand. Reuchlins Gutachten war das einzige, das die Bücherverbrennung ablehnte, ausführlich untermauert mit philologischen, theologischen, religiösen und humanistischen Gründen, nicht zuletzt aber juristischen, stellt er sich doch als „in kaißerlichen rechten doctor “ vor (6). Es zog einen langen Streit nach sich fast bis zu Reuchlins Tod, mit Polemiken der Befürworter, Prozessen, Einmischung des Vatikans, Lehrverurteilung. Pfefferkorn überzog den Ratschlag mit Beleidi­gungen des Verfassers in dem ein halbes Jahr später gedruckten Handspiegel, auf den wiederum Reuchlin mit dem Augenspiegel antwortete mit einer Brille auf der Titelseite, dass er den klaren Durchblick habe, während der Handspiegel blind geworden sei. Der Kölner Dominikaner-Prior van Hoogstraeten strengte sogar einen Ketzerprozess an. Die Reuchlin unterstützenden Humanisten aus Gotha und Erfurt veröffentlichten Briefe von und an ihn unter dem Titel  clarorum virorum epistolae und parallel gefakte Briefe in fehlerhaftem Küchenlatein, die angeblich die Kölner Scholastiker verfasst hätten und so zum Gespött wurden, die obscurorum virorum epistolae 1515 und 1517 (163-165).[6]

Bücherverbrennungen sind ein Versuch, „den Irrtum zu liquidieren“.[7] In der Antike und im Mittelalter, also vor der Möglichkeit des Buchdrucks und damit zahlreicher Kopien eines Buches, bedeutete das, dass das einzige Exemplar (oder eines von ganz wenigen) vernichtet wurde. So berichtet die Apostelgeschichte 19,19, dass in Ephesos Gebrauchsanweisungen, Hefte, Bücher für magische Rituale konfisziert und verbrannt wurden.[8] Die Beispiele, die Werner untersucht und darlegt, zeigen, dass es keineswegs nur um Zensur geht oder jemanden an den Pranger zu stellen, sondern um Vernichtung eines falschen Gedankens, der die Wahrheit aufzufressen droht. Der letzte von Werner erwähnte Fall (525-528) ist die Ver­brennung von Büchern und deren Autor Michel Servet 1553 in Genf, dahinter stand Calvin. Und hier, wie auch in vielen der von Werner untersuchten Fällen, werden Buch und Autor (oder Besitzer) verbrannt. Es geht also um mehr als „Zensur des Geistes“. Juden gab es, als die Verbrennung ihrer Bücher angeordnet werden sollte, nur noch wenige innerhalb der Grenzen des Alten Reiches, denn sie waren ab Mitte des 14. Jahrhunderts, also 160 Jahre zuvor, vertrieben oder gar getötet worden als vermeintlich für die Pestwellen seit 1348 Verantwortliche. Langsam kehrten wieder Juden zurück. Luther hat sie 13 Jahre später ermuntert, sich der „evangelischen“ Seite anzuschließen (dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, 1523), danach aber 1537 auf die Vermittlungsbitte des Vertreters der Juden, Josel von Rosheim (1476-1554) gar nicht reagiert und gegen Ende seines Lebens eine Judengesetzge­bung vorgeschlagen, die die Vernichtung der Bücher der Juden miteinschloss.[9] Immerhin gab es den in der Nähe von Reuchlins Wirkungsort Pforzheim geborenen Melanchthon, der ebenfalls exzellent Hebräisch konnte und als der Philologe und Wissenschaftler später in Wittenberg arbeitete. Dieser hatte auch nachweisen können, dass die 1510 unter dem sächsischen Kurfürsten Joachim I. der Hostienschändung angeklagten 38 Juden unschuldig den Märtyrertod erlitten hätten, und so erreichte Josel die Wiederzulassung der Juden in Sachsen.

133f zu Anm. 72 sollte man hinzufügen, dass die Legende von der Septuaginta-Übersetzung in einem weiteren Reclam-Büchlein präsentiert ist.[10]

Wieder hat der Reclam-Verlag die Initiative ergriffen, einen wichtigen Text zu entdecken, durch einen kompetenten Herausgeber präsentieren und kommentieren zu lassen. Neben den antijüdischen Schriften und Stimmung kurz vor und während der Reformationszeit ein entschiedener und ebenso wohlbegründeter Einspruch.

 

Bremen/Wellerscheid, September 2022                                                      Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Jan-Hendryk de Boer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Geschichtswissenschaft) an der Universität Duisburg-Essen. Seine Dissertation (Göttingen bei Frank Rexroth 2014) beschäftigte sich mit Reuchlin. Sie wurde veröffentlicht unter dem Titel Die Gelehrtenwelt ordnen. Zur Genese des hegemonialen Humanismus. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 101). Tübingen: Mohr Siebeck 2017. Der vorliegende Text stand im Mittelpunkt der vorausgehenden Monographie Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 94.) Tübingen 2016. Seit 2022 ist er Mitarbeiter im interdisziplinären Forschungsprojekt „Kompromisskulturen“. Seine Homepage findet sich unter Personen im Historischen Institut: Jan-Hendryk de-Boer (uni-due.de) (4.9.2022). Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen JHB.

[2] Widu-Wolfgang Ehlers hat sie Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1999, 13-168 kritisch ediert (dazu JHB 113).

[3] Raimundus Martini (1220-1285), Pugio fidei. JHB zu 31,33. Es gibt jetzt eine Teilübersetzung von Görge K. Hasselhoff: Texte zur Gotteslehre, 1(2014). Texte zur Gotteslehre, 2 (2022). Pugio fidei I-III, Lateinisch, Hebräisch/Aramäisch/Arabisch, Deutsch. (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters) Freiburg: Herder

[4] Der knappe Kommentar 115-137, hier zu 13,1, ist sehr gehaltvoll und auf dem Stand der Forschung. Zur Toledot Jeschu Peter Schäfer: Jüdische Polemik gegen Jesus und das Christentum. Die Entstehung eines jüdischen Gegenevangeliums. München: Carl Friedrich von Siemens Stftung, Themen103, 2017. Weiteres in Schäfer, Die Geburt des Judentums  aus dem Geist des Christentums 2020, dazu meine Rezension: Geburten und Geschwister: Peter Schäfer: Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums 2010. http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2010/08/19/die-geburt-des-judentums-aus-dem-geist-des-christentums-von-peter-schafer/#comment-79 (19.8.2010).

[5] JHB zu 7,7 und 27,15 (Seite 120). Zu Pfefferkorn Hans Martin Kirn: Das Bild vom Judentum im Deutsch­land des frühen 16. Jahrhunderts, dargestellt an den Schriften Johannes Pfefferkorns. (Texts and studies in medieval and early modern Judaism 3). Tübingen Mohr 1989.

[6] Obscurorum bedeutet gegenüber clarorum „unbedeutende, Winkelgelehrte“. Dt. Dunkelmännerbriefe. Zweite Abteilung (projekt-gutenberg.org) (5.9.2022).

[7] Die folgende hervorragende Dissertation (Göttingen bei Otto Gerhard Oexle 2005) ist leider nicht aufgeführt und offenbar unbekannt: Thomas Werner: Den Irrtum liquidieren. Bücherverbrennungen im Mittelalter. (VMPIG 225) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007.

[8] Apostelgeschichte 19,19. Bauer-Aland, Wörterbuch zum NT 61988, 282 s.v. βίβλος, ἡ führt als Überset­zung zu der Stelle stracks an „Zauberbücher“, wobei die geheftete Form, der Codex noch die Ausnah­me war. Τὸ βιβλίον das Buch ist im Plural zunächst die Bezeichnung für die Bibel, die noch aus vielen τά βιβλία bestand. Erst später, als die Bücher in einem Codex ihren festen Platz hatten und man nicht mehr ein einzelnes Buch herausnehmen oder weglassen konnte, musste man entscheiden, welches Buch in den Kanon gehören sollte, und dann wurde daraus ‚die Bibel‘, ἡ βιβλία. Dazu Martin Wallraff: Kodex und Kanon: Das Buch im frühen Christentum. Berlin: De Gruyter 2013. Weiter die Arbeit von Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. (Bibliothek des Buchwesens 7). Stuttgart: Hiersemann 1981. Werner, Irtum 2007, 144-232.

[9] Noch immer ist das Buch von Selma Stern 1959 die maßgebliche Literatur zu Josel; 2008 ins Französische übersetzt. Der folgend genannte Fall bei Stern S. 137. Eckardt Opitz: Johannes Reuchlin und Josel von Rosheim. Probleme einer Zeitgenossenschaft. In: Arno Herzig, Julius H. Schoeps (Hrsg.): Reuchlin und die Juden. (Pforzheimer Reuchlinschriften 3) Sigmaringen:  Thorbecke, 1992, 89–108. Luthers Vorschlag einer Gesetzgebung in Die Juden und ihre Lügen 1543.

[10] Aristeas: Der König und die Bibel. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen. Ditzingen: Reclam 2008. Dazu meine Rezension Septuaginta deutsch. Hrsg. von Wolfgang Kraus; Martin Karrer 2008. – Aristeas: Der König und die Bibel. hrsg. von Kai Brodersen. 2008 Rezension für http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2009/06/30/septuaginta-deutsch-herausgegeben-von-wolfgang-kraus-und-martin-karrer/ (30.6.2009).

Aneignungen Luthers

Thomas Kaufmann: Aneignungen Luthers und der Reformation.

Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.-21. Jahrhundert.

Hrsg. von Martin Keßler. (Christentum in der modernen Welt 2)
Tübingen: Mohr Siebeck 2022.
XIV, 653 Seiten. ISBN 978-3-16-161336-4

 

Aneignungen Luthers zu einem deutschen Helden
und Vorbild für den Nationalsozialismus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Die Sammlung von Aufsätzen zeigen vorzüglich die Fokussierung auf Luther als den Deutschen, besonders auch in der Zeit des Nationalsozialismus, und die Wissenschaftsge­schichte der (deutschen) Kirchengeschichte als Theologie, aber kaum einen Weg künftiger Forschung.

Ausführlich:

In der Tat spielt die Forschung zu Luther und weniger zur Reformation als ‚Bewegung‘ den zentralen Bezugspunkt der Wissenschaftsgeschichte, zu der Thomas Kaufmanns Aufsatz­sammlung bestens informierte und deutlich im Verhältnis zum Nationalsozialismus wertend Beiträge liefert. Im Mittelpunkt stehen die Deutungen von Ernst Troeltsch und Karl Holl wie seiner ‚Schule‘, was das Zentrum der Reformation ausmache. Ernst Troeltsch hatte in seinem Tausend-Seiten-Buch Die Soziallehren 1912,[1] vorbereitet in 1906, die deutsche Ausnahme­stellung zur Reformation als weltgeschichtliche Wende bestritten. Luther und der Altprotes­tantismus waren, so Troeltsch, noch weitgehend dem Mittelalter verpflichtet, erst mit dem Neuprotestantismus begann die Neuzeit. Übersetzt in die Gegenwart waren das die Schweizer Reformierten in Westeuropa und dann vor allem die nach Nordamerika ausge­wanderten Christen, die Puritaner. Max Weber schrieb seine zwei Aufsätze zu Die protes­tantische Ethik 1904/1905, Troeltsch sein Der Protestantismus und die protestantische Kirche in der Neuzeit. Zusammen mit seinem Fachmenschenfreund Max Weber war er eingeladen zu einem Kongress in St. Louis im Zusammenhang mit der dortigen Weltausstellung. In der Vorbereitung hatten sie sich eingearbeitet in das nordamerikanische Christentum und seine calvinistischen Wurzeln.[2] Damit war ein Streit vom Zaun gebrochen, der am deutschen Selbstverständnis des Kaiserreichs nagte, mit dem Ersten Weltkrieg zum Skandal wurde. Mit der Radikalität, Konventionen aufzukündigen, traten zwei theologische Positionen gegen Troeltsch‘ Geschichtskonstruktion an: Zum einen die Dialektische Theologie mit dem himmelweiten Abstand von Gott und Mensch und auf der anderen Seite Karl Holl und seine Schule, die die gerade edierten frühen Schriften des jungen Luther interpretierten und den Zeitpunkt der „reformatorischen Erkenntnis“, die Rechtfertigungslehre viel früher ansetzten und als massiven Bruch mit dem Mittelalter verstanden.[3] Die Weimarer Republik als ‚gott­losen‘ Staat ablehnend, konnten viele Protestanten sich identifizieren mit dem autoritären Führerstaat und beriefen sich dafür auf Luther. Ein herausragendes Beispiel ist der Berliner Kirchenhistoriker und Reorganisator des theologischen Curriculums, Erich Seeberg.[4] ThK hatte schon in dem großartigen Aufsatz die Seebergs mit den Harnacks verglichen, zwei Professoren-Dynastien, die im Baltikum als Minderheit das Deutschtum vertreten hatten, und nun in Berlin die eine (Harnacks) die Demokratie stärkten bis hin zum Attentat auf Hitler, die andere (Seebergs) in vorderster Front für den Nationalsozialismus eintrat. Besonders eindrücklich ist der Nachweis, wie Werner Elert sein Kriegserlebnis (des Ersten Weltkriegs) im Kampf um das Christentum 1921 und dann in seiner Morphologie des Luthertums verarbeitete, um dann 1934 gegen die Barmer Synode den Ansbacher Ratschlag zu veröffent­lichen, der Rasse als Gottes Schöpfungsordnung theologisch rechtfertigte.[5] Noch aufregender ist das Lutherverständnis Hermann Dörries, der sich nach 1945 als Opposition zum NS stilisierte, aber einen Beitrag in seiner Bibliographie verheimlichte, der bereits 1932 An die Kritiker des NS: ein Schutzwort statt einer Kritik für den damals noch weitgehend geächteten NS schrieb.[6] Differenziert zu Heinrich Bornkamm, dessen wichtige Studie zu Luther und das Alte Testament zwar erst 1948 erschien, er das Thema aber schon im Krieg – gegen die Verwerfung des AT – gewählt und erarbeitet hatte.[7]

Im Schnelldurchgang noch die anderen Aufsätze: ThK weist nach, dass der Antisemitismus Luthers nicht erst durch die Ausgabe 1938 bekannt, sondern in Zitatensammlungen (Florilegien) das ganze 19. Jh. präsent war.[8] Protestantisch-theologische Wurzeln des Personenkults im 19. Jh.?[9] Friedrich August Tholuck kritisiert aus der Sicht der Erweckungsbewegung den Rationalismus und seine Vorgeschichte 59-87. Zum schwierigen Verhältnis von Luthertum und Humanismus [2013], 399-431.

Das Ganze ist erschlossen durch üppige Indices. Die meist mehr als die halbe Seite einneh­menden Fußnoten dokumentieren die Forschung außerordentlich dicht, aber viele Nach­weise sind mit den vollen bibliographischen Angaben redundant und verständlicherweise gibt es Überschneidungen, bes. in Kapitel 10 und 13.[10] Ein Manko ist, dass das Datum der Erstveröffentlichung in den bibliographischen Angaben oft fehlt.[11]

Zwischenfazit: Eine herausragende, bestens dokumentierte Wissenschaftsgeschichte, mit Wertungen, die je mit eindeutigen Zitaten belegt sind. Wissenschaftsgeschichte ist jedoch einzuschränken: Auch wenn die historischen Kontexte oft genannt sind, so geht es doch durchgehend um die Wissenschaft der Kirchengeschichte als eine theologische Disziplin, weitergehende wissenschaftsgeschichtliche Einordnungen sind selten.

Und das ist erstaunlich. Der Band ist eher ein Abgesang an eine verschwindende Epoche, ein spezifisch deutscher Zugang, der durch die deutsche Institution der theologischen Fakultä­ten geschützt ist und immer neu begründet werden muss in ihrer Andersheit zu den ‚Profan­historiker:innen‘.[12] Erstaunlich wenig ist von den neueren Entwicklungen die Rede, beson­ders Berndt Hamms Forschungen sind bibliographisch präsent, aber nicht in ihrer Konse­quenz dargestellt.[13] Ein Ausblick auf Themen, die künftig der Erforschung harren, fehlt völlig. Und das von einem Forscher wie Thomas Kaufmann, der umfassend das Medium Buchdruck/Flugschriften erforscht hat und dafür den kecken, geradezu provozierenden Titel gewählt hat Die Mitte der Reformation.[14] Die Fragestellungen haben sich verschoben auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit, eine Bewegung, nicht ein theologischer Denker, der seinen Studenten den Römerbrief auslegt. Die Reformation auch in Kaufmanns Sinne hat (mindestens) vier Zentren: Wittenberg, Zürich, Genf und Straßburg. Insofern ist der Satz völlig überzogen (506): … der Begriff ‚Reformation‘ wurde von den Pluralisten enteignet, inhaltlich entkernt und umgedeutet – ein Akt der semantischen Expropriation zum Behufe der historiographischen Relativierung, was bisher darunter verstanden wurde.“ Man kann so argumentieren: „Ohne Luther keine Reformation“. Aber Luther ist nicht die Reformation. Die weitgehende Engführung auf die deutsche Forschung, auf die theologische Kirchenge­schichte eröffnet keine Perspektiven. Und die Frage, was die Reformation an ‚Neuem‘ für welche Gruppe erbracht hat, das erscheint auch nicht am Horizont.

Fazit: Die hier herausgegebene Sammlung von Aufsätzen zeigt Kaufmann als exzellenten Kenner der Kirchengeschichtsschreibung mit bohrenden Fragen und scharfen, aber immer gut belegten Urteilen zur Stellung zum Nationalsozialismus samt Vor- und Nachgeschichte. Da ist sie großartig und unbedingt lesenswert. Aber es ist eher ein Grabgesang einer ver­gangenen Epoche als ein Aufbruch zu neuen, frischen Fragen. Und das von einem, der genau solche Aufbrüche wagt.

 

Bremen/Wellerscheid, August 2022                                                                     Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

 

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[1] Jetzt die fundamentale Ausgabe mit den späteren, geplanten Ergänzungen als Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe (KGA) 9, 1-3, hrsg. [und vorzüglich eingeleitet] von Friedrich Wilhelm Graf u.a. siehe meine Rez.: „Die Soziallehren der christlichen Kirchen“: Ernst Troeltschs Klassiker in der Neuausgabe. Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe. Berlin: De Gruyter. Band 9,1-3 Die Soziallehren. 2021. ISBN 978-3-11-043357-9 https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/06/30/troeltsch-soziallehren/ (30.6.2021).

[2] Das 20. Jahrhundert würde das amerikanische sein, hatte schon Ulrich von Wilamowitz in seiner Rede auf das Neujahr 1900 prophezeit. S. Christoph Auffarth: „Ein Hirt und keine Herde“. Zivil­religion zu Neujahr 1900. In: CA; Jörg Rüpke (Hrsg.): Ἐπιτομὴ τῆς Ἑλλάδος. Studien zur römischen Religion in Antike und Neuzeit für Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier. (Potsdamer Altertums­wissenschaftliche Beiträge 6) Stuttgart: Steiner 2002, 203-223.

[3] Das Thema des „Durchbruchs“ der „reformatorischen Erkenntnis“ reduziert die Reformation auf ein kognitives Ereignis eines Individuums. Bei dem von Karl Barths Dialektischer Theologie geprägten Ernst Bizer wird das zu einer sich verstärkenden Reihen von Durchbrüchen. Sein Lutherbuch fides ex auditu 1958 führte zu einer langen Kontroverse ([2004] 463-489). [Das sind das Jahr der Erstveröffent­lichung und die Seitenzahlen im vorliegenden Buch von Thomas Kaufmann].

[4] Die Harnacks und die Seebergs [2005], 119-170. Erich Seeberg als NS-Theologiepolitiker, 249-270. Der letztere Aufsatz ist eine Zusammenfassung eines 150-seitigen Aufsatzes von 2002. Zum Schüler See­bergs Ernst Benz, der dessen Programm der Umgestaltung der Kirchengeschichte zum Fach Deutsche Frömmigkeit vorantrieb, in der Bonner Republik aber – weiterhin antikommunistisch und anti­katholisch – als Kulturpolitiker die globale Öffnung repräsentierte, s. Auffarth, Frömmigkeit im protestantischen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[5] Werner Elert als Kirchenhistoriker [1996], 197-248. Dort auch eine gute Charakteristik der Gemein­samkeit mit Rudolf Otto 224, Anm. 94, sich auf Luthers „unableitbare“ Erfahrung berufend.

[6] Mit angeblichen Lutherzitaten. ThK kann auf den Nachlass von Elert zurückgreifen, den er privat archiviert hat [unveröffentlicht], 371-395).

[7] Heinrich Bornkamm als Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte [2008], 271-320. Ein Blick auf Bornkamms Bruder Günther, Prof. für NT, klarer Gegner des NS, wäre erhellend. Dazu Gerd Theissen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945: Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm. Heidelberg: Winter 2009.

[8] [2015], 3-36. Johannes Wallmann hatte das bestritten in zwei Rezensionen, ThK stellt das nicht heraus (4, Anm.2).

[9] [2015], 37-58 verweist auf die Schrift von Carl Ullmann.

[10] 10 Evangelische Reformationsgeschichtsforschung nach 1945 [2007], 321-369 (um den Kritiker Ernst Wolf herum). 13 Die deutsche Reformationsforschung seit dem Zweiten Weltkrieg [2009], 433-461.

[11] Fehler sind sehr selten. 172 A. 1 heißt der Autor Wolfgang Schluchter, nicht Schlachter. Andere Versehen liste ich hier nicht.

[12] Obwohl gerade die Frühneuzeit-Historiker:innen das Thema Religion entdeckt haben, kommen sie in den Forschungsberichten fast nicht vor (außer prominent Peter Blickle). Wo steht etwas zur „Sozial­disziplinierung“ (Gerhard Oestreich) und La grande peur (Jean Delumeau 1978), Schorn-Schütte ist gerade einmal erwähnt, Renate Dürr gar nicht. Die Forschung von Franziska Loetz zu Zürich ergab ein überaus interessantes Bild vom Verhältnis der Ratsherren und der Theologen (Mit Gott handeln, 2002). Gerade erschienen ist ihr Gelebte Reformation. Zürich 1500-1800. Zürich TVZ 2022, 391-409.

[13] Die herausragende Monographie (mit meiner Rezension) zeichnet geradezu ein Gegenbild zu Luther, jedenfalls eine Alternative zu Luthers Menschenbild: Gerechtigkeit in der Stadt – Ein Prediger vor der Reformation. Berndt Hamm: Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation. Ulrich Krafft in Ulm. Ulm: Stadtbibliothek 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/04/19/hamm-spielraeume-eines-pfarrers/ 27.4.2021. Zum „Ablass“ ders.: Ablass und Reformation – erstaunliche Kohärenzen. Tübingen: Mohr Siebeck 2016.

[14] Im Kontext dieses wissenschaftsgeschichtlichen Bandes wäre die „Mitte der Reformation“ die theologische Erkenntnis der (passiven) Rechtfertigung und der Gnadenlehre und die Mobilisierung der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem Ablassstreit 1517. ThK hat das in seinem Der Anfang der Reformation begründet (Meine Rezension: Anfänge und Bruch. Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. 2012. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/02/27/der-anfang-der-reformation ) und in seinem abschließenden Aufsatz Wider die Pluralisierung der Reformation (491-514) noch einmal festgeschrieben., nachdem sein Buch Das Ende der Reformation von der Titelgebung eine Trilogie suggerieren. Meine Rezension zu Die Mitte: Thomas Kaufmann:  Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XX, 846 Seiten. (Beiträge zur historischen Theologie 187) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/11/19/mitte-der-reformation/ (19.11.2019). Zu diesem gelehrten Buch erschien gerade eine populärere Version: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: Beck 2022.

Reichersberg scutum canonicorum

Arno von Reichersberg: Scutum canonicorum.

Edition, Übersetzung, Kommentar.
Herausgegeben von Julia Becker.
(Klöster als Innovationslabore 11)

Regensburg: Schnell + Steiner 2022.
256 Seiten, ISBN 978-3-7954-3733-6.
66 €.

 

Leben wie die Jünger, aber nicht als Mönche.
Eine Streitschrift aus der Mitte des 12. Jahrhunderts

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der Traktat des Arno von Reichersberg, in einer mustergültigen Edition und Über­setzung, mischt sich ein in den Streit über das ‚Leben wie die Apostel‘ im 12. Jahrhundert.

Ausführlich: Arno von Reichersberg wurde 1100/1110 als einer von fünf Brüdern geboren, trat in das Reformstift Rottenbuch zusammen mit seinem älteren Bruder, des bedeutenderen Gerhoch (1092/93 – 1169), ein, folgt ihm nach Reichersberg, wohin Gerhoch als Propst berufen worden war, und nimmt schließlich dessen Nachfolge an. In dieser Funktion starb Arno 1175.[1] Das Stift war 1080/1084 gegründet worden und zählte sich eher zu der Reform­bewegung, die der Salzburger Erzbischof förderte. Die Mitglieder des Stiftes verstanden sich als Regularkanoniker, einem neuen Typ von Geistlichen, dem viel Misstrauen und Kritik entgegenschlug. Das Scutum („der Schild“) Canonicorum , um 1146 geschrieben, wehrt sich gegen diese Kritik und fordert Gleichberechtigung mit den Mönchen. Denn, so führt Arno aus, „besetzten Mönche die Stiftshäuser und brächten die dort lebenden Kanoniker, obwohl sie schon die lebenslange Profess abgelegt haben, dazu, gleichsam unter dem Vorwand größerer Frömmigkeit zu sich zu locken.“[2] Was JB mit Frömmigkeit übersetzt, heißt im lateinischen Text religio, was im Mittelalter nicht ‚Religion‘ im Sinne einer sozialen Hand­lungspraxis bedeutet, sondern die Lebensform, die sich ausschließlich dem Gebet für das ewige Heil widmet, in Arbeitsteilung mit den Laien, die Lebensmittel und Nachwuchs erarbeiten oder die Mönche und Nonnen mit Waffen schützten (manchmal auch bedrohten). Dazu ist der breitere Kontext zu erklären (was die Herausgeberin dieses erstmals kritisch edierten Textes nicht tut – dafür anderes, Hervorragendes), weil sie auf das umfassende Buch des Projektleiters Stefan Weinfurter verweisen kann.[3] Dies ist also bei den LeserInnen gewissermaßen vorausgesetzt. Im 12. Jahrhundert, wohl auch durch eine kleine Warmzeit des Klimas beflügelt, entwickelte sich das lateinische Mittelalter ganz außergewöhnlich. Überall wurden Wälder gerodet für neue Siedlungen und Städte gegründet, auch auf den Hängen der Berge und bisher unbesiedelten Gebieten („Landesausbau“). Neben einem selbstbewusst werdenden Bürgertum („Laien“) entstanden religiöse Bewegungen, die sich weigerten, sich durch die klassischen Regeln der Mönchsorden einsperren zu lassen, sondern sich auf den Grundsatz beriefen, „wie die Jünger Jesu zu leben“ (vita apostolica). Dabei entstanden viele Experimente.[4] Auch der Aufruf des Papstes Urban II. zum Kreuzzug 1095 enthält diese Aufforderung an seine Jünger: „Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“[5]  Das richtete sich an Krieger, die nun Milites Christi (Krieger Gottes) im Orient werden sollten, statt andere Christen in Frankreich zu töten. Milites Christi war bis dahin ein Name für die Mönche und Nonnen. Klar, dass diese neuen Entwicklungen und Experimente Kritik hervorrief, nicht zuletzt bei den traditionellen Mönchsorden. Die neue Form der Regular­kanoniker versuchte einen Kompromiss und suchte immer wieder Bestätigung durch das römische Papsttum.[6] Papst Urban bestätigte 1092 in einem Privileg, dass Regulierte Kanoniker und Mönche gleichwertig seien mit Verweis auf die moderate Regel Augustins.[7] Der Bischof Eberhard von Bamberg jedoch unterstellt seine Eigenklöster dem Orden der Zisterzienser bzw. der Prämonstratenser, worauf die Kanoniker die Klöster Richtung Reichersberg verließen. Das war der konkrete Anlass für diese Schrift, den Schutzschild. Die Mönche murrten und zerrten das Leben der Kanoniker herunter. Da gebe es Kanoniker, die ein eigenes Haus besaßen, also sich nicht in das Gemeinschaftsleben einfügten,[8] die nicht rechtzeitig da waren, um die Messe zu lesen. Also musste die Regel in konkrete Tages- und Lebensabläufe ‚reguliert‘ werden, in consuetudines.[9]

Genau das tut Arno im zweiten Teil seiner (gut sechzig Seiten umfassenden) Schrift, während er im ersten Teil die Gleichwertigkeit der beiden Lebensstile erklärt und verteidigt. Übrigens auch die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern mit dem Verweis auf die Freundinnen und Freunde unterm Kreuz (wobei die Jünger bis auf Johannes aus Angst nicht sich zur Solidarität einfanden). In klassischer Manier beruft er sich auf zwei Bibelstellen, die mit der zweiten auch die weiblichen Kanonissen einbezieht. Um die Gleichwertigkeit aus der Bibel zu belegen, bezieht er sich auf den ‚Wettlauf‘ der Jünger zum leeren Grab Jesu:[10] Während Johannes schneller ankommt, aber verstört vor dem Grab stehen bleibt, kommt schnaufend Petrus hinterher. Der geht sofort ins Grab, sieht die leeren Hüllen und erkennt das Wunder der Auferstehung. Daraus zieht Arno den Schluss, dass die beiden Lebensformen zwar unterschiedlich sind, aber zum gleichen Ziel kommen. Der eine ist eher kontemplativ (quietis ac theorię assuetior) – das sind die Mönche –, der andere (Petrus) ist eher zum Dienst am Wort bereit (alius ministerio verbi paratior 216,2f) – das sind die Kanoniker. Der Jüngere ist am Ende abhängig vom Älteren, weil der früher die sacramenta erkannte (seniori agnoscendorum sacramentorum prioratum dependit 216,6). JB übersetzt richtig sacramenta mit ‚Geheimnisse‘, dabei geht die mitzuhörende Bedeutung Sakramente notwen­digerweise verloren.[11] Für die Kanoniker spielt der Gottesdienst für und mit den Laien mit der Austeilung der Sakramente eine zentrale Rolle, während die Mönche erstens nicht alle auch Priester sind und zweitens nur begrenzt für die Seelsorge zugelassen sind. Ähnlich legt Arno die Geschichte des Besuchs Christi bei Maria und Martha aus. Hätten die Mönche recht, dann müsste man scheinbar die Ruhe der zuhörenden Maria sogar für wertvoller als das Amt des predigenden Christus. Das wäre absurd.[12]

Das Besondere dieser Edition aber liegt darin, dass die Herausgeberin die Leserinnen und Leser Einblick nehmen lässt in den Prozess von der Handschrift, den eigenhändigen[13] Korrekturen und Erweiterungen, den Abschriften, der Kurzfassung, alles mit farbigen Fotos gezeigt und in Listen übersichtlich erfasst, bis zur Edition, die die Unterschiede in einem Apparat dokumentiert. Ein zweiter Apparat weist die Bibelstellen und andere Autoritäten nach, auf die sich der Autor beruft. So wird das mühselige Handwerk einer Edition sehr anschaulich.

Und einmal mehr kann man nur die Qualität der Verlagsarbeit loben. Ein Textbuch muss man flach auf den Tisch legen können; Fadenheftung ist nach wie vor die bei weitem beste Lösung, die hier auch angewendet wird, übersichtliches Layout mit farbigen Abbildungen, fester Einband, Vorsätze aus Büttenpapier: Qualität! So kommt die immense Arbeit der Herausgeberin zur Geltung. Sie hat ein interessantes Stück aus dem enormen Aufstieg der Regularkanoniker und der Kontroverse um diese Lebensform der vita apostolica mit einer Übersetzung leicht zugänglich gemacht, erschlossen, knapp kommentiert. Der Anlass ist klar bestimmt, der Kontext etwas mehr vorausgesetzt, den man als Leser mitbringen soll aus Weinfurters Forschungen.

 

Bremen/Much, September 2022                                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Zu Gerhoch und den Hintergründen des ‚Investiturstreits‘ weiteres in meiner Rezension zu Gerhoch von Reichersberg: Opusculum de aedificio Dei. Edition, Übersetzung, Kommentar Julia Becker. Regensburg: Schnell und Steiner 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2020/12/07/gerhoch-von-reichersberg/ (7.12.2020). Dort auch Anm. 1 der Hinweis auf Peter Classen, der seine Habilitation zu Gerhoch 1960 schrieb und weitere Aufsätze, die in diesem Buch immer wieder zitiert werden. – Zum Projekt insgesamt Klöster im Hochmittelalter | Heidelberger Forum Edition (heidelberger-forum-edition.de) (3.9.2022, etwas veraltet)

[2] Scutum, ed. Becker (2022), 110f. …Monachis videlicet  quibusdam loca nostra occupantibus et fratres nostros professos quasi obtentu maioris religionis sibi allicientibus. Das Partizip Perfekt Passiv ist eher adversativ.

[3] Stefan Weinfurter 1945-2018 war in Heidelberg Professor für mittelalterliche Geschichte und hat das Forschungsprojekt der Klöster als Innovationslabore begründet und geleitet. Seine Kölner Dissertation hatte die Regularkanoniker zum Thema: Salzburger Bistumsreform und Bischofspolitik im 12. Jahrhundert. Der Erzbischof Konrad I. von Salzburg (1106–1147) und die Regularkanoniker. Köln: Böhlau 1975.

[4] Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und religiöse Bewegungen. München: Beck 2005, ³2016.

[5] So erinnerte sich an die Predigt Der Anonymus Gesta Francorum 1,2f. Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana 1,3,7.

[6] Rudolf Schieffer: LexMA 7(1995), 608: „nach Hunderten zählende Welle von Stiftsgründungen“.

[7] Davon gibt es zwei, das praeceptum und der ordo monasterii.

[8] Das Leben in der Gemeinschaft vita communis wird in der Apostelgeschichte 4,32 idyllisch beschrieben. – Dieser Grundsatz ist die eher noch wichtigere Wurzel des Mönchtums als die Askese. Dazu Otto Gerhard Oexle: Koinos Bios. Die Entstehung des Mönchtums. In: OGO: Die Wirklichkeit und das Wissen. […] Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, 470-495. Vgl. Klaus Schreiner: Gemeinsam Leben. [… Gesammelte Aufsätze] Berlin: LIT 2013; zu Arno 21-23.

[9] Consuetudines (regelmäßige ‚Gewohnheiten‘), die die Regel in konkrete Praxis des Alltags aus­buchstabieren, sind viele erhalten (die Reihe: Corpus consuetudinum monasticarum. Ed. Pius Engelbert; Kassius Hallinger. Siegburg: Schmitt, 1963- bislang 15 Bände, zuletzt die von Hirsau (2010). Leicht zugänglich (zweisprachig in den Fontes Christiani) ist die Lebensordnung des Regular-Kanonikerstiftes Klosterrath. Text erstellt von Stefan Weinfurter. Übersetzt und eingeleitet von Helmut Deutz. Freiburg: Herder 1993.

[10] Johannes 10,4-8. JB, Scutum 2022,  S. 51f. Text S. 214.

[11] Zu den Begriffen Christoph Auffarth: Mysterien (Mysterienkulte). In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 25 (2013), 422-471, hier 436-453.

[12] Sic vero et Marie audientis quies Christi predicantis officio dignior habenda videretur. Hinc vero plurimum interest inter Marthę et Christi ministerium …(218,23-220,2). Sic (genauso absurd wie der Satz zu vor. JB übersetzt absurditas mit ‚Unvernunft‘. Hinc ist nicht aus dem Satz davor abzuleiten „daher“, sondern schließt mit „demgegenüber“ an: Die vita activa Christi ist nicht zu vergleichen mit der vita activa der Martha. Beckers Übersetzung trifft aber in der Regel gut den Sinn und bleibt gleichzeitig nah am Wortlaut.

[13] Die sog. Autographen, also Handschriften, die der Autor selbst geschrieben hat, sind sehr selten. Meist muss man in einem Stemma (Stammbaum der Verwandtschaften) versuchen, die Handschrift zu ermitteln, die dem Original am nächsten kommt, oder aus verschiedenen Überlieferungswegen die Spaltung zu rekonstruieren.

 

Kirchenkunstsammlung Norwegen

Justin Kroesen, Stephan Kuhn (Hrsg.): Die mittelalterliche Kirchenkunstsammlung.

Universitätsmuseum zu Bergen (Norwegen).

Regensburg: Schnell & Steiner. 2022.
ISBN 978-3-7954-3604-9
208 Seiten, 142 farbige Illustrationen.
25 €.

 

Eine Kirchenlandschaft aufgeschlossen: Norwegen

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Hervorragende Bilder und Texte für die Kirchenschätze der Gegend um Bergen in Norwegen in ihrem europäischen Kontext.

Ausführlich:
Eine für viele ganz überraschende Sammlung mittelalterlicher Kirchenkunst wird in diesem Band präsentiert: aus dem westlichen Norwegen, gesammelt im Museum von Bergen. Im Wesentlichen chronologisch geordnet haben der Leiter und Forschungsprofessor Justin Kroesen[1] und Stephan Kuhn eine Auswahl von hundert Objekten getroffen. Exzellente Foto­grafien und knappe, äußerst informative Texte mit den aktuellen Forschungsergebnissen, bibliographisch erschlossen, stellen die Objekte vor.

Wie an vielen anderen Orten wurden die Objekte musealisiert im Zuge der Säkulari­sierungen, die man der Französischen Revolution und Napoléon anlastete, die aber vor allem in den katholischen Gebieten die Voraussetzung für die Entwicklungen der politi­schen, industriellen, agrarischen, medizinischen Revolutionen des langen 19. Jahrhunderts waren. Das Museum in Bergen wurde 1825 gegründet, um „Relikte des katholischen Kultes“ zu sammeln (9).[2] 11 Jahre zuvor hatte Norwegen seine Unabhängigkeit (vom dänischen Königreich) erlangt, blieb aber noch bis 1905 in der Monarchie des Drei-Kronen-Reiches. 1946 wurde das Museum Teil der neugegründeten Universität. Viele Kirchenschätze aber hatten die Einführung der lutherischen Konfession 1536/37 überdauert.[3] Aber da manche Stabkirche (Holzkirchen) abgebrochen wurde, ergab sich die Notwendigkeit der Aufbewah­rung in einem Museum. Die engen Räume der Holzkirchen (von den etwa 230 Kirchen im frühen 14. Jh. waren nur 56 aus Stein, darunter 18 in Bergen [S. 15]), die etwa die Fotos S. 14-19 zeigen) sind mit verflochtenen Schnitzereien verziert wie die Portalwangen Kat. 10-15, und Abb. S. 6. Über dem Altar waren runde Baldachine ausgemalt. Die Altäre waren an der Schauseite mit hölzernen Altarfrontalien ausgestattet. (Davon sind 19 erhalten von insgesamt 125 in ganz Europa. Katalog 60-73). Neben den Geräten für den Gottesdienst wie Aqua­manilen (Wasserkrüge aus Metall, an denen sich die Priester vor der Eucharistie die Hände waschen, oft phantasievoll als Löwe oder Greif geformt Nr. 55; vor der Messe konnten sich die Priester schon in der Piscina die Hände reinigen, dem Wachbecken in der Sakristei), Weihrauchfässer, Kelche, liturgische Gewänder. Der Aufbewahrungsschrank der Abendmahlsgeräte und Hostien (Tabernakel) ist meist das am aufwändigsten gestaltete Ausstattungsstück.[4] Hier sind zwar vielfach die nationalen Heiligen abgebildet: Die Heilige Sunniva, die irische Königin, die im 10. Jahrhundert das Christentum nach Norwegen brachte und dabei den Märtyrertod erlitt, wie man nicht müde wurde zu erzählen. Und der König Olav, der das Christentum – oft gewaltsam – durchsetzte. Aber die Stücke sind meist anderswo von erfahrenen Meistern geschnitzt und gemalt. Als Herkunftsort bietet sich der Hansische Raum an, also kamen die Kunstwerke auf den viel benutzten Handelsrouten der Schiffe nach Norwegen, besonders die Bergen-Fahrer aus Lübeck, Hamburg, den Nordrhein und den Niederlanden in die norwegischen Siedlungen, die Stadt Bergen, die Klöster, aber auch in die einsamen und abgelegenen Kirchen in den Bergen und Fjorden weitab der Stadt. Ich hoffe, dass ein nächster Band von Justin Kroesen die Marienkirche von Bergen vorstellen wird, die Kirche der Bergenfahrer aus Lübeck mit den Skulpturen und – sensationell – der Kanzel.[5]

Die große Sorgfalt, sich von dem Kult von Bildern (Idololatrie) abzusetzen, hält die Inschrift auf Kat.Nr. 44 (um 1275) fest – auf Latein; für wen ist das dann geschrieben? Der Satz ist ein oft zu findender Merksatz des Balderich von Bourgueil (1046-1130):[6]

Nec deus est nec homo presens quam cernis imago,

Sed deus est et homo presens quam signat imago

Das Bild hier, das Du betrachtest, ist weder Gott noch der (Gott-) Mensch,

wohl aber ist (existiert) Gott und der (Gott-) Mensch, auf die das Bild hier verweist.

Neben dem Hanseraum sind noch zwei Regionen aufregend. Da gibt es zum einen Textilien aus dem Nahen Osten. Das ist bekannt aus dem Reliquien-Handel, dass dafür exzellente Stoffe zum Umhüllen verwendet wurden (Nr. 49).[7] Überraschend aber sind die Verbindun­gen nach Katalonien, also zur Mittelmeerseite der Iberischen Halbinsel (Nr. 43 um etwa 1300; Nr. 56). Was fehlt sind Beziehungen nach dem oströmischen Reich (Byzanz), wo doch die skandinavischen Waräger/ Wikinger/ Normannen als Händler und Militärs im Einsatz waren.[8]

Einzelne Objekte hervorzuheben erübrigt sich eigentlich, da die Forscher dies mit ihrer Auswahl schon getan haben. Religionswissenschaftlich interessant ist das »Handelnde Kunstwerk«, also der Angleichung eines (toten) Bildes mit einem lebendigen Menschen, wenn das Kruzifix (1500/1510, Katalog 92) eine Perücke aus Naturhaar, eine Krone aus echtem Dornengestrüpp und aus der Seitenwunde ‚echtes‘ Blut hervortrat.[9] Die Wieder­gewinnung des Heiligen Kreuzes durch den byzantinischen Kaiser Heraklios 620 n.Chr. wird in der Kreuzzugszeit erinnert, nachdem Saladin 1187 die Kreuzesreliquie und Jerusalem erobert hatte (Nr. 65), und ebenso Nr. 60: Mit Marias Hilfe besiegt Heraklios die Muslime, die angeführt werden vom Sassaniden-König Chosroe und seinem Monster.[10] Das ist um 1300 ein Wunsch, nachdem 1292 die letzte Besitzung der Kreuzfahrer im Heiligen Land verloren gegangen war.

Statt eines Bestandskatalogs (die Beschreibung sämtlicher Objekte in einem Museum) haben die beiden Autoren einen attraktiven Band gestaltet, der eine Auswahl in knappen präzise beschreibenden Texten vorstellt und in ihren europäischen Bezügen einordnet. Damit machen sie eine Region bekannt und zeigen attraktive Stücke, nicht zuletzt durch die durch­gehend farbigen Abbildungen, die es wert sind, mit anderen Kirchenschätzen verglichen zu werden. Mehr als nur ein Museumsführer, weniger als ein kiloschwerer Bestandskatalog, gut zum Vorbereiten, Nachbereiten oder einfach zum aufmerksamen Betrachten und kluge Einordnungen zu lesen zu Hause.

Bremen/Much, Juni 2022

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Justin Kroesen hat mit seinem Mentor Regnerus Steensma Kirchen auf dem Lande erforscht in den Niederlanden, in Ostfriesland (auf Deutsch das wunderbare Buch Kirchen in Ostfriesland und ihre mittelalterliche Ausstattung. Petersberg: Imhof 2011). Er wurde zum Jahresbeginn 2016 aus Groningen nach Bergen berufen und ist dort seit 2017 Professor of Cultural History (specialization: Material Culture of Christianity), University Museum of Bergen, Norway. Seine Home-page Justin E A Kroesen | University of Bergen (uib.no) (19. Juni 2022.

[2] Das Kölner Wallraff-Richartz-Museum entstand 1824, als Wallraff seine private Sammlung der Stadt Köln vermachte.

[3] JK bestätigt das Motto Die Bewahrende Kraft des Luthertums, so der Titel des Buches von Johann Michael Fritz (Regensburg: Schnell+Steiner 1997).

[4] Justin Kroesen hat schon schwedische Kirchenschränke beschrieben (gemeinsam mit Peter Tångeberg): Die mittelalterliche Sakramentsnische auf Gotland (Schweden). Kunst und Liturgie. Petersberg: Imhof 2014.

[5] Ein paar Tage durfte ich in Bergen verbringen, als ich zu einer Tagung zur Reformation im Frühjahr des Jubiläumsjahrs 2017 eingeladen war. Einer der Höhepunkte war eine eindrückliche Deutsche Messe in der Marienkirche. – Meine Beobachtungen zur materiellen Transformation im Zuge der Reformation am Beispiel Bremen findet man im Aufsatz »Bilder und Ritual im calvinistischen StadtBild Bremens«. In: Jan van de Kamp; Christoph Auffarth (Hrsg.): Die andere Reformation. Bremen und der Nordwesten Europas. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020, 277-306. Zur Materialität der Heiligen- und Gottesbilder u.a. im re-katholisierten Heidelberg s. Auffarth:  Das angemessene Bild Gottes: Der Olympische Zeus, antike Bildkonvention und die Christologie. In: Natascha Kreutz; Beat Schweizer (Hrsg): Tekmeria. Archäologische Zeugnisse in ihrer kulturhistorischen und politischen Dimension. Beiträge für Werner Gauer. Münster: Scriptorium 2006 [Mai 2007], 1-23.

[6] Zu den verschiedenen Versionen des Satzes Javier del Hoyo: »Nec Deus est nec homo. A propósito de la inscripcion de la portada norte de San Miguel de Estella«. in: Proceedings of the III Hispanic Congress of Medieval Latin. Hrsg. Maurilio Pérez González. Leon 2002, Bd. II, S. 797-802, hier 798f.

[7] Die zahlreichen Stücke aus der Grabung im Bremer Dom, heute restauriert im Dommuseum, s. 22 R 8 Textilien und Grabbeigaben Grab 7_hw (dommuseum-bremen.de) (25.Juni 2022).

[8] Im Herbst 2022 wird es eine spektakuläre Ausstellung im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum geben.

[9] Zum handelnden Kunstwerk im Mittelalter Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik : Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik. Berlin: Gebr. Mann, 1998. Für die Antike Jan N. Bremmer: The Agency of Greek and Roman Statues: from Homer to Constantine. In: Opuscula 6 (2013), 7–21.

[10] Das wird in der Kreuzzugszeit wieder aktuell. Vgl. Boris Gübele: Deus vult, Deus vult. Der christliche heilige Krieg im Früh- und Hochmittelalter. Ostfildern: Thorbecke 2018. (mit meiner Rezension) https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2018/12/28/guebele-deus-vult/ (28.12.2018). 1235 bzw 1249 hat Alexander Minorita in seinem Apokalypse-Kommentar den Drachen der Apokalypse 12,3 mit Chosroe zusammengestellt (ed. Wachtel MGH-QG 1, 1955, p. 260,14) und aktualisiert auf die Muslime (p. 273,2). Die Wiedergewinnung des Kreuzes und die Eroberung Jerusalems durch die Muslime 638 werden zu einem Ereignis zusammengezogen.

 

Origenes Levitikus

Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

(Origenes Werke Deutsch OWD 3)
Berlin: De Gruyter 2021. VI, 508 Seiten.

ISBN 978–3–11–076034–7

 

U n t e n  eine Übersicht aller bisherigen Rezensionen von Christoph Auffarth zu den Origenes-Ausgaben!

 

Was ist heilig, wenn es kein Opfer mehr gibt?
Der Christ Origenes legt die Opfervorschriften des Alten Testaments aus

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Was sollen christliche Leser mit den Opfervorschriften des Alten Testaments anfangen? Origenes ‹übersetzt› sie in das Denken der Philosophie und Theologie seiner Zeit, indem er sie durch Allegorie und Spiritualisierung zu einem christlichen Text macht. Dabei macht er sich die Mühe, möglichst jeden Vers des Originals (um–) zu deuten.

Ausführlich:

Das Buch Levitikus (das dritte Buch Moses) könnte aus christlicher Sicht auf das »Alte« Testament nicht überholter sein, beschreibt es doch sehr detailliert die Regeln für Rituale, die die jüdischen Priester nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (das ist die Situation zur Zeit des Origenes) nicht mehr in Realität ausführen konnten.[1] Andrerseits haben die Christen die Beschreibung des Versöhnungstages (Jom Kippur) in Levitikus 16 als das Modell für das Verständnis für den Tod Jesu uminterpretiert: Stellvertretung und Sündenbock sind im Neu­en Testament, besonders im Hebräerbrief verwendet, um etwas Unmögliches auszusagen: Christus sei sowohl das Opfer, das geopfert wird, und gleichzeitig der Hohepriester, der das Opfer ausführt, Täter und Opfer in einem. Was so gar nicht möglich ist, und weit entfernt ist von den historischen Fakten des Todes Jesu, wurde zur Metapher, die in jeder Messe wieder aufgeführt wird: das ‹Selbstopfer› Christi, das auch zum Vorbild des Lebens der Christen wird. Kaum einer der Theologen der römischen Kaiserzeit und der Spätantike (Kirchenväter) hat das Buch des christlichen Alten Testamentes erklärt. Für seine christlich-philosophische Auslegung verwendet Origenes das folgende Bild in Homilie 10 (S. 344/345), um den Text zwar ernst zu nehmen und Kapitel für Kapitel ziemlich vollständig als christlichen Text zu verstehen:[2] Ein Bildhauer darf zunächst sein Können beweisen und verbessern an Bronze­bildern, bevor er die Meisterschaft ausbildet, auch Statuen aus Silber und Gold zu gießen. Aber zuvor macht er sich immer ein Modell aus Lehm (Ton), an dem er schon alle Einzel­heiten vorwegnimmt, die auch im Meisterwerk aus edlem Material dann gestaltet werden. Am Ende wird das Tonmodell nicht mehr benötigt. Anders als etwa Markion, der die Hebräische Bibel völlig verwarf, eigneten sich die als ‹rechtgläubig› geltenden Theologen (Origenes verwendet dabei die Begriffe Haeretici und Catholici 138,20/24, vgl. in Ios. hom. 9,8. 10,2. 14,2 und in Cant. comm. III 16f) das Alte Testament an.[3] Durch die allegorische Auslegung bekommt es eine gänzlich neue Bedeutung. Trotzdem bleibt für Origenes der Wortlaut von Bedeutung, er findet einen ‹Verlust›, bemerkt, dass etwas verloren ist, während die Häretiker etwas »unterschlagen«.[4] Wie dieses Beispiel verwendet Origenes noch weitere Metaphern aus Paulus wie »Schatten« oder »Verhüllung« (AS 9–14).

Der Heilige Ort, der auch im Buch Levitikus eine Utopie und nicht den Tempel in Jerusalem darstellt, denn die Opferregeln werden fiktiv in der Wüste für das ‹Zelt der Begegnung› des Volkes mit Gott gegeben, vermittelt durch den Hohenpriester (die Stiftshütte). Die Heiligkeit des visionären Ortes verlegt Origenes in das Innere des Menschen: »Den heiligen Ort suche man aber nicht auf der Erde, sondern im Herzen. Denn ein heiliger Ort wird die vernünftige Seele genannt.« (hom 13,5. S. 408f.2f). Nicht allein »Seele«, sondern mit Platons Dreiteilung der Seele soll das Vernünftige, Logikon λογικόν, die beiden anderen Teile das Mutige thymoeides θυμοειδές und die Begierde epithymetikon ἐπιθυμητικόν beherrschen und lenken. Denn die Seele, so führt Origenes den Gedanken fort, kann auch der Ort des Teufels werden. (Anders als in den bisherigen Bänden ist die Platon-Rezeption hier nicht so prominent nachgewiesen). – Die Übersetzung des Rufinus trifft wohl ganz gut den Sinn, ist aber keine Wort-für-Wort Übersetzung. Das zeigen die wenigen Stellen, an denen der griechische Text durch andere Tradition erhalten ist. Zudem versuchte Rufinus in einer Zeit anderthalb Jahrhunderte später ein Problem zu lösen. Origenes war in Verruf geraten, dass manche seiner kühnen Gedanken nicht dem ‚rechten Glauben‘ entsprächen. Rufinus versuchte das zu entschärfen (50-52). Die wichtige Frage, inwieweit der mittlerweile in Palästina lebende Origenes auch jüdische Auslegungen von Rabbinern kannte und berücksichtigte, die ja ebenfalls den Text auslegten, ohne dass da noch im Tempel die Rituale real vollzogen werden konnten, ist differenziert beantwortet (37-43).

Das ist der mittlerweile elfte Band in der Origenes-Ausgabe, die dank der treibenden Kraft von Alfons Fürst Jahr um Jahr wächst, elf weitere sind ‹in Vorbereitung›.[5] Dazu muss der Herausgeber jeweils kompetente Bearbeiter gewinnen, die nicht nur über die Alten Sprachen Griechisch, Latein und Hebräisch verfügen, sondern auch die Kirchenväter umfangreich studiert haben, also die christlichen Theologen vom 2. bis zum 6. Jahrhundert. Dazu ist eine Kenntnis der antiken Kultur, besonders der Philosophen nötig, zu denen sich Origenes zählt und mit denen er sich auseinandersetzt. Ein solcher seltener Glücksfall einer Bearbeiterin ist Agnethe Siquans.[6] Wie alle Bände der Reihe ist der lateinische Text, die lateinische Über­setzung des Rufinus und der leider bis auf ganz wenige Zitate des originalen, sonst aber verloren gegangenen griechischen Textes des Origenes aus der kritischen Ausgabe von Wilhelm Adolf Baehrens übernommen, die auch nach hundert Jahren nicht überholt ist (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 29. = Origenes, Band 6. Leipzig 1920, 280—507 und desselben Überlieferungsgeschichte 1916). Der Übersetzung gelingt es, wie schon für den ersten Band angemerkt, die Balance zu halten, einerseits erst genau den Sinn zu erfassen, dann das Gemeinte in die Zielsprache Deutsch so zu übersetzen, dass der Wortlaut des Originaltextes möglichst erkennbar bleibt, der auf der Seite daneben gedruckt ist (und zu dem die Übersetzerin immer auch noch überlegen muss, welches griechische Wort dort gestanden haben dürfte). Ein ‹Apparat› weist die vielen Bibelstellen nach, die Origenes verwendet, um aus dem alttestamentlichen hebräischen Text einen griechischen normativen Text zu machen (Zur Methode von Origenes› Auslegung AS 14–19). Dazu eine bewusst knappe Kommentierung, die vor allem die Erklärungen des Origenes in anderen Stellen seines Werkes verweist und auf andere Kirchenväter. Die Bibelstellen und die Vernetzung innerhalb des Werkes des Origenes sind in umfangreichen Indices zusammen­gestellt, dazu ein wertvoller Index von Namen und Sachen (wobei man sich eine Unter­teilung gewünscht hätte, etwa ist »Fleisch« – 47 Belegstellen – das am Altar geopferte Tier und die Speise oder der Gegensatz Leib zur Seele etc.?).

Agnethe Siquans hat eine sehr gute Ausgabe der wichtigsten Auslegung des ‚Opfer‘-Buches der Hebräischen Bibel zugänglich gemacht.[7] Sie bietet die lateinische Übersetzung des Rufinus in der wissenschaftlichen Ausgabe (also mehr als einen Lesetext) parallel zur direkt mit dem Original vergleichbaren Übersetzung, so dass man sowohl den Überblick über den Verlauf der gesamten Predigten erarbeiten kann als auch eine detaillierten Analyse von einzelnen Passagen durchführen kann, erschlossen durch die Indices. Eine wichtige Grundlagenarbeit!

Bremen/Wellerscheid, April 2022
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Christoph Auffarth: Opfer. Eine Europäische Religionsgeschichte. (Theologische Bibliothek) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2023 (im Druck), Kapitel 6 zur Mutation des Opfers in den jüdischen, christlichen, paganen und islamischen Traditionen der Spätantike.

[2] Sehr gute Übersicht des Inhalts und der dabei ausgelegten (und der nicht ausgelegten) Verse bietet AS S. 55—58.

[3] AT und NT seien ein Brot (in Lev.hom. 13,4 S. 402f), ja Aaron und seinen Nachfolgern sei sogar das testamentum aeternum übergeben. Hier könnte die Auslegung prägnanter sein (zumal das an das Evangelium aeternum erinnert, das in Apk 14,6 angekündigt ist, das die Evangelien des NT ersetzen wird. Das steht bei Origenes im Zusammenhang mit seinem Verweis auf das Mysterium, es seien ἐγκρυφίας geheime, verborgene (Brote) 13,3 (S. 400f.15)

[4] Invenit perditionem in Lev 5,20 (die Kapiteleinteilung in der lateinischen Übersetzung Vulgata ist etwas anders, zählt also Lev 6,3. Origenes arbeitet dann in hom 4,5 mit dem Wort perditio und seinen unterschiedlichen Bedeutungen. Er unterschiedet perire untergehen und perdere, dass die Häretiker etwas »unterschlagen« (138,8. 15. 26), so dass daraus am Ende sogar ein ›Raub› wird. AS übersetzt konkordant (AS 55).

[5] Die aktuelle Planung WWU Münster > Fachbereich 2 > Forschungsstelle Origenes > Edition (uni–muenster.de) (12.1.2022).

[6] Agnethe Siquans (*1986) promovierte mit der Arbeit Der Deuteronomiumkommentar des Theodoret von Kyros. (Österreichische biblische Studien 19) Frankfurt am Main: Lang 2002. Ihre Wiener Habilitations­schrift bearbeitete Die alttestamentlichen Prophetinnen in der patristischen Rezeption. Texte – Kontexte – Hermeneutik. (Herders biblische Studien 65). Freiburg im Breisgau: Herder 2011. Sie ist apl. Professorin für Altes Testament an der Wiener katholisch-theologischen Fakultät. Ihren Namen kürze ich im Folgenden mit den Initialen ab AS.

[7] Nur noch zwei weitere Auslegungen sind überliefert. Die von Augustinus ist ebenfalls zweisprachig durch einen Alttestamentler erschlossen: Quaestiones in Heptateuchum. Fragen zum Heptateuch. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Walter Groß. (Augustinus Opera – Werke 57) 2 Bände. Paderborn: Schöningh 2018. Zu Levitikus Band 2, S. 7-169.

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In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände.
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Stand: 02.06.22

Wissenskultur

 

Bernd Janowski und Daniel Schwemer (Hrsg.): Texte zur Wissenskultur.

(Texte aus der Umwelt des Alten Testaments [TUAT]; Neue Folge 9)

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021.
XXII, 612 Seiten : Illustrationen.
ISBN 978-3-579-00100-5

 

 

Fachwissen und Wissenschaft im Alten Orient: zum Vertiefen

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der letzte Band der Reihe versammelt Texte zu Fachwissen und Wissenschaft aus den Kulturen des Alten Orients, je von Spezialisten vorgestellt und übersetzt.

Ausführlich: Die alten Kulturen der Antike haben eine hoch entwickelte Wissenskultur her­vorgebracht und gepflegt. Der vorliegende Band stellt Texte für diese Art der Wissenschaft und des Fach-Wissens vor. Die Texte werden knapp eingeführt, datiert (so weit das möglich ist), der Aufbewahrungsort angegeben, die Edition des Textes (keine Umschrift des Original­textes), Bibliographie der Kommentierungen, und umfangreiche Fußnoten zu Details, die eher einen Hinweis auf Forschungsdiskussionen geben, als selbst ein Kommentar zu sein. Wieder haben Spezialist:innen aus den Wissenschaften des Alten Orients Texte beigetragen und auf dem Stand der Forschung für Nicht-Fachkolleg:innen vorgestellt, so dass sie diese für die eigenen Forschungen erst einmal wahrnehmen und weiter daran arbeiten können. Zeitlich sind Texte aus der ältesten Zeit bis in Hellenismus und Römerherrschaft vertreten (VI. Griechische Texte aus Ägypten). Räumlich-kulturell sind Texte aus Mesopotamien, der Hethiter, aus Syrien, Ägypten und Iran in den Bänden zusammengetragen.[1]

Thematisch geht es zunächst einmal zur Rekrutierung, Ausbildung (Schreibübungen als Schultexte), die Arbeit, Beschreibstoffe und die Wertschätzung des Berufs der Schreiber.[2] Dann die Organisation der Bürokratie und Justiz (etwa die Fall-Übungen 122-133). Es geht weiter in die Landwirtschaft und die Bewässerungstechnik, Weinanbau, etc. Dann sind berücksichtigt Fachtexte aus den Handwerken (Färberei, Häuserbau, der Bau der Arche gegen die Sintflut [36-38], Zimmermannstechnik). Mathematische Texte und astronomische Berechnungen bilden eine hochspezialisierte Wissenschaft.[3] Bezüglich der medizinischen Kenntnisse stehen sich zwei Praktiken gegenüber: zum einen gibt es technische Könner, die sich auch riskante Operationen zutrauten wie Trepanationen (Löcher in die Schädeldecke meißeln), Zahnoperationen, Kenntnis der Wirkweise von Drogen, Balsamieren von Leich­namen; auf der anderen Seite die Rituale, um göttliche Hilfe herbeizurufen oder eine Pro­gnose zu treffen über den Verlauf der Krankheit. Entsprechende Texte sind bereits in Band 4 zu Magie und Divination gesammelt. Schließlich rechnen die Herausgeber auch zum Bereich dieses Bandes ‚Das Weltbild und Gottesvorstellungen‘ sowie ‚Reflexionen über die Vergan­genheit‘. Dazu gehören etwa die babylonische Weltkarte (mit schematischer Zeichnung (30), der Stadtplan von Nippur (35), Götterlisten; für das zweite sind es Chronologien, Königs­listen, Annalen. Das führt zu einer Eigenart der altorientalischen Wissenschaften: zum einen die Institution der Schreiber als Spezialwissen, das für die Herrscher und ihre Götter ein verlässliches Moment der Tradition darstellt, zum andern die Reduktion auf Listen. Die Götterlisten (wie An : Anum, S. 8-18)[4] dokumentieren den exakten Namen/Schreibung und die Stellung im Pantheon. Die „Listenwissenschaft“ ist eine der typischen Formen altorien­talischen Wissens. (Dazu noch unten).

Die Reihe der Texte aus der Umwelt des Alten Testaments wurde in einer ersten Folge begründet von Otto Kaiser.[5] Die Neue Folge wird herausgegeben von Bernd Janowski und Gernot Wilhelm; ab dem fünften Band ist der zweite Herausgeber Daniel Schwemer.[6] Der neunte Band ist der letzte Textband und der Verlag druckte noch im gleichen Jahr eine (im Unterschied zu der gebundenen Erstausgabe) erschwingliche Paperback-Sonderausgabe aller neun Bände. Die Planung sieht noch einen Atlas mit Bildern vor, der dann entsprechend „Bilder aus der Umwelt des Alten Testaments“ (BUAT) heißen soll.[7] Diese Textsammlung leistet mehr als nur eine Sammlung von Texten „aus der Umwelt“ der Hebräischen Bibel. Anders als die Bücher, die zu der jeweiligen Bibelstelle einen kleinen Ausschnitt aus einem ‚Buch‘ einer Kultur des Alten Orients (selten der griechischen Kultur) bieten,[8] haben die hier vorgestellten Texte ein ‚eigenes Recht‘, indem sie vorgestellt, einge­ordnet und in möglichst ganzem Umfang dargeboten werden. Damit werden auch die Kulturen Mesopotamiens, Syriens, der Hethiter und Ägyptens als eigenständige Kulturen erkennbar. Die Beziehungen zu den Texten der Hebräischen Bibel werden nicht aufgedrängt, wie das bei den älteren Textbüchern der Fall war, ohne zu klären, wie weit entfernt und zeitlich auseinander sie liegen. Umgekehrt machte es, als noch kaum Texte des Alten Orients bekannt und übersetzt waren, der Assyriologe Friedrich Delitzsch, indem er in Aufsehen erregenden Vorträgen die Bildungsbürger im Kulturschub 1900 (‚Jahrhundertwende‘; fin de siècle) schockte oder bestätigte, dass die Bücher der Hebräischen Bibel alles nur abgeschrie­ben hätten von den Nachbarkulturen; die Sintflut als Musterbeispiel, die schon im – älteren – Gilgamesch-Epos vorkommt.[9]  Es geht also um die Frage des Verhältnisses der Texte aus der Umwelt zu der Rezeption in der aufnehmenden Kultur. Dafür gibt es wenig Antwort in dieser Sammlung der Texte aus der Umwelt das AT. Sie stellt Texte und Forschungsergeb­nisse zur Verfügung, aber drängt nicht ein Ergebnis auf, vielmehr bietet sie eine größere Auswahl von Möglichkeiten und darunter viel Unbekanntes.

Die Frage nach den Texten aus der Umwelt des Alten Testaments betrifft die Frage nach der Übernahme, Übersetzung, Akkulturation, aktiven Rezeption, Umformung. Selbst habe ich das für die frühe griechische Kultur unternommen unter der Fragestellung, wie die Herr­schaftsideologie der Palastkulturen des Alten Orients in der ‚regulierten Anarchie‘ des frühen Griechenlands rezipiert, aber gleichzeitig völlig umgeformt wurde für eine ganz andere Gesellschaft. Die Theogonie Hesiods ist ein Beispiel für die Götterliste, es folgt der Frauenkatalog usf. Herausragende Forschung zur Rezeption der altorientalischen Kultur in der frühen griechischen Kultur hat Martin L. West geleistet: [10] Ein Beispiel für die Rezeption in der Kultur Israels ist der „erste Schöpfungsbericht“. Der erste Schöpfungsbericht Gen 1 – Gen 2,4a ist offensichtlich eine altorientalische Listen-Wissenschaft, die in genealogischer[11] Reihenfolge die Entstehung der Welt auflistet: |Gott befiehlt | Ereignis | Tag eins | Gott bestätigt |. Das sind 10 verschiedene Schöpfungsaufgaben. Der Autor (oder Autorin) will aber gleichzeitig die Zeiteinteilung der Sieben-Tage-Woche begründen als Gottes Wille und Schöpfungsordnung. Dafür wird der siebte Tag zum Ruhetag erklärt, den Gott bestimmt und selber einhält, der Schabbat (Das Wortspiel mit den drei hebräischen Konsonanten sch – b – t dient dreifach der Erklärung als „siebter“, „aufhören“, „Sabbat“. Dafür müssen die zehn Werke in sechs Tagen untergebracht werden.

Mit diesem Band kommt ein Unternehmen zum Abschluss, das 2004 mit der Veröffent­lichung des ersten Bandes begann. Annette Krüger hat die Bände redigiert und ihnen so ein einheitliches Gesicht gegeben. Die Textsammlungen eröffnen altorientalische Kulturen in modernen, zuverlässigen Übersetzungen, nach Textgenera zugeordnet (was nicht immer trennscharf möglich ist). Aber sie sind auch nicht auf Religion begrenzt. Eine Themenorien­tierung wäre für viel Benutzer einfacher,[12] aber auch enger und auf das Nadelöhr bestimmter alttestamentlicher Texte zugeordnet. So verlangen diese Textsammlungen aufmerksame und geduldige Leser, nicht nur ‚Benutzer‘. Sie führen breit in die anderen Kulturen ein und ver­langen gewissermaßen ein forschendes Lernen.[13]

 

Bremen/Wellerscheid, 23. Mai 2022

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Die Wortwahl „Fremdarbeiter“ (513) ist ein nationalsozialistischer Begriff. Arbeitsmigranten wäre die nicht-wertende Bezeichnung.

[2] Eva Christine Cancik-Kirschbaum; Jochem Kahl (Hrsg.): Erste Philologien: Archäologie einer Disziplin vom Tigris bis zum Nil. Tübingen: Mohr Siebeck 2018.

[3] In meinem ersten Buch zur Odyssee und ihrem altorientalischen Hintergrund konnte ich nachweisen, dass dort der 19-Jahres-Zyklus bekannt ist, aber als Wissen übernommen, nicht auf eigenen Forschun­gen beruht: Auffarth: Der drohende Untergang. ”Schöpfung” in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezchielbuches. (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten RGVV 39) Berlin 1991, 411-460.

[4] Im Erscheinen ist begriffen als Auftakt zur vollständigen Edition aus den jahrzehntelangen Forschungen des Assyriologen Wilfred George Lambert (1926-2011) und seines Schülers Andrew George. An = Anum and Related Lists. God Lists of Ancient Mesopotamia, Volume I. Edited by Andrew George and Manfred Krebernik. Tübingen: Mohr Siebeck 2022.

[5] In drei Abteilungen mit insgesamt 18 ‚Lieferungen‘. Nachdruck bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wbg academics 2019. Vollständige Dokumentation im wikipedia-Artikel und unter Ernst Kausen, Ausführliches Inhaltsverzeichnis sämtlicher Teile von TUAT, Alte und Neue Folge. Mit Autoren und Sprachangaben. (22.05.2022; ohne Band 9).

[6] Bernd Janowski ist emeritierter Professor für Altes Testament an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Homepage:  Prof. em. Dr. Bernd Janowski | Universität Tübingen (uni-tuebingen.de) sowie ein Wikipedia-Artikel. – Daniel Schwemer ist Professor für Altorientalistik an der Universität Würzburg Schwemer – Lehrstuhl für Altorientalistik (uni-wuerzburg.de) (22.05.2022).

[7] Auf der Homepage von Prof. Friedhelm Hartenstein, Professor für Altes Testament an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Forschung – Altes Testament 2 – LMU München (uni-muenchen.de) (22.05.2022).

[8] Beispielsweise Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament. In Zusammenarbeit mit Hellmut Brunner hrsg. von Walter Beyerlin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975; ²1985.

[9] Dazu der Band Eva Cancik-Kirschbaum; Thomas L. Gertzen (Hrsg.): Der Babel-Bibel-Streit und die Wissenschaft des Judentums. Münster: Zaphon. 2021. Der Bibel-Babel-Streit hatte deutlich antisemitische Untertöne. Das Buch wird demnächst hier besprochen.

[10] Martin L West: The Eastern Side of Helicon. Oxford: OUP 1997. Weiter Auffarth, Untergang 1991, wo neben dem frühen Griechenland (Odyssee) auch Israel (das Ezechielbuch) behandelt ist nach der Katastrophe des Königtums.

[11] Die Liste wird in 2,4a als Toledot (Stammbaum einer Familie, Genealogie) bezeichnet.

[12] Eine gelungene vergleichende Textsammlung und Kommentar sind etwa Othmar Keel; Silvia Schroer: Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht 2002, ²2008. Oder: Roland Färber; Rita Gautschy (Hrsg.): Zeit in den Kulturen des Altertums. Antike Chronologie im Siegel der Quellen. Wien: Böhlau 2020. Oder: Migration and Diaspora Formation: New Perspectives on a Global History of Christianity

[13] Auf eine innovative, nur über das Internet erreichbare Textsammlung ähnlichen Charakters will ich noch hinweisen: Im Corpus Coranicum hat Angelika Neuwirth eine Sammlung TUK Texte aus der Umwelt des Koran konzipiert. Dort wird auch der originale Text geboten, eine Übersetzung, ein Kommentar zum Text und mögliche Bezüge zum Koran erklärt. Umwelttexte Überblick | Corpus Coranicum (22.05.2022).

 

Jerusalem

Jerusalem II: Jerusalem in Roman-Byzantine Times.

Edited by Katharina Heyden and Maria Lissek with the assistance of Astrid Kaufmann. 

(COMES 5)
Tübingen: Mohr Siebeck 2021.

593 Seiten. Leinen 154 €.
ISBN 978-3-16-158303-2

 

Wie Jerusalem entheiligt und dann die Heilige Stadt erst für Römer,
dann für Christen und schließlich für Muslime wurde:
Brüche und Kontinuitäten

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Ein Sammelband zu Jerusalem in römischer und spätantiker Zeit. Theolog:innenen (Patristiker:innen, der Liturgiewissenschaftler), Archäolog:innen, Althistoriker:innen, die Islamwissenschaftlerin, jüdische wie christliche, präsentieren ihre Forschungen auf höchstem Niveau.

Ausführlich:

Jerusalem ist und war eine aufregende Stadt, die Stadt aus Steinen und die utopische Stadt als Vision. Der vorliegende Band beschreibt in gelehrten Kapiteln Aspekte der Stadt und seiner näheren Umgebung in der römischen Kaiserzeit und in der Spätantike. Eigentlich sind es drei Städte aus Stein, um die es sich hier handelt: (1) Die Stadt ohne den Tempel, den die Römer im Jahre 70 n.Chr. zerstörten bei dem großen jüdischen Krieg, und damit die jüdische >heilige< Stadt desakralisierten, noch gravierender aber als Kaiser Hadrian den Juden verbot, hier noch zu wohnen, und die Stadt zu einer römischen Stadt (Colonia) machte, deren neuer Name jede Kontinuität zur jüdischen Stadt auslöschen sollte: Aelia Capitolina. Der Abstieg zu einer unbedeutenden Provinzstadt, vor allem von Militärs bewohnt, änderte sich, (2) als Jerusalem zur christlichen Stadt wurde. Während bis dahin das Ziel der Christen das himmlische Jerusalem war, wurde allmählich, dann aber intensiv das Heilige Land und die Heilige Stadt Ziel für Pilgerfahrten und Ansiedlung auf Dauer. Besonders Witwen und adelige Damen stifteten Kirchen und Klöster. Als die Kaisermutter Helena Jerusalem und Bethlehem aufsuchte und ihren Sohn Konstantin dazu bewog, die Grabeskirche (griechisch: die Auferstehung, Anástasis), die Geburtskirche und die Himmelfahrtskirche (Eleona) zu bauen, boomte die Stadt. Rom wurde unsicher, besonders seit sie einmal von den Goten erobert und geplündert worden war (410 n.Chr.). Noch in die Spätantike zählt (3) die Islami­sierung der Stadt.[1]

Katharina Heyden und Maria Lissek[2] haben einen Band komponiert mit Kapiteln der jewei­ligen Fachleute. In ihrer Einleitung stellen sie klug Fragestellungen zusammen, die den Band strukturieren. Max Küchler fasst die Baugeschichte der Stadt in der Epoche zusammen, die er in dem hervorragenden Handbuch umfassend beschrieben hat.[3] Christoph Markschies und Ute Verstegen erklären die Christianisierung der Stadt. Dabei stellt sich das Problem: Wonach suchen Forscher:innen, wenn sie ›Christianisierung‹ erforschen wollen: Nach Kirchengebäuden, nach geheiligten Orten (Sakrallandschaft),[4] nach Frömmigkeit, nach dem Aufbau kirchlicher Strukturen, der (höchst hypothetischen) Zahl von Christ:innen, nach Zeichen und Symbolen, die Christ:innen benutzt haben (können)? Verstegen beschreibt archäologisch (fixe) Orte und (bewegliche) Objekte. Markschies, des Problems bewusster, stellt gegeneinander die Grabeskirche und den leeren, gerade nicht christianisierten Tempel­berg. Aber auch die Grabeskirche (im Westen so genannt als Märtyrer-Verehrung; im Osten Anastasis ›Auferstehung‹ als Gottwerdung des Pantokrator Christus) sei kein Steinmonu­ment der Formel der Konzils von Nizäa. Die grundlegendere Frage, warum für Christ:innen das irdische Jerusalem zum heiligen Ort wird, nicht mehr (nur) der Himmel, ist erwähnt, aber nicht erklärt.– Eine besondere Leistung findet sich in der Darstel­lung der Liturgie in Jerusalem: Harald Buchinger fasst seine Forschungen zusammen und stellt in umfangreichen Tabellen die Befunde der Quellen dar (auf 70 Seiten). Die Internatio­nalität und die universale Bedeutung Jerusalems für die Christenheit wird deutlich darin, dass die Erschließung der Jerusalemer Liturgie vor allem auf dem Armenischen und den beiden Georgischen Lektiona­ren beruht – neben der ausführlichen Beschreibung, die die Pilgerin Egeria gegeben hat, die aus Nordspanien/Südfrankreich sich auf die lange Reise machte (etwa 381-384 n.Chr.).[5] Das mimetische Nachspielen der Heilsgeschichte an den verschiedenen Stationen in und nahe der Stadt spielt eine zentrale Rolle, bevor dann die Heiligenverehrung (in Jerusalem der ›Erst-Märtyrer‹ Stephanus) den Kalender mit fast täglichen Gottesdiensten füllt. Die Ent­wicklung der Grabeskirche ordnet der Spezialist Jürgen Krüger in die Tradition kaiserlicher Grabbauten ein. Die Bauforschung ist (endlich) im Gange, so dass neue Ergebnisse zu erwarten sind.[6] Im zweiten Teil geht es zunächst um die römische Aelia Capitolina. Die sehr schwer zu rekonstruierende Topographie und besonders ihrer Heiligtümer (Lag das Iupiter-Heiligtum/Capitol auf dem Tempelberg oder direkt an der Grabeskirche oder doch eher unter der evangelischen Erlöser-Kirche? Wo gab es den Venus-Tempel?) diskutiert mit großer vergleichender Kompetenz Nicole Belayche.[7] Der schwierigen Frage, ob und seit wann Juden wieder in Jerusalem lebten und an Stätten jüdischer Erinnerung beteten, geht Hagith Sivan nach. Das Verbot, in Jerusalem (und hundert Meilen im Umkreis) zu wohnen ist verbunden mit der Gründung der römischen Colonia. (Der Hofhistoriograph Konstantins, Eusebios, hielt die Gründung für das Ergebnis, Jan-Willem Drijvers für den Anlass zum Bar-Kochba-Aufstand [mit Cassius Dio 69,12-14] und datiert auf 130 n.Chr. Ob Juden nur zum Jahrestag der Zerstörung (am 9.Av) zur Klage­mauer durften (wie Hieronymus hämisch berichtet) oder ob bzw. seit wann es wieder eine jüdische Gemeinde gab, ist nicht sicher zu klären. Bedeutende, aber kurzfristige Unterstüt­zung erhielten die Juden durch Kaiser Julians Projekt, den Tempel wieder aufzubauen, und dann durch die Sassaniden, als diese ein paar Jahre die Stadt in ihren Besitz brachten, bevor dann die Muslime die Stadt eroberten. Für diese erneute Wendung, die islamische Stadt, stehen zwei Beiträge am Schluss. Das ist ein Lieblingsthema von Angelika Neuwirth, wie Jerusalem zur ersten Gebetsrichtung der Monotheisten Arabiens schon in Mekka war, also die Utopie der Stadt schon sehr präsent war, bevor die Muslime sie eroberten.[8] Boaz Shoshan blickt von den heutigen Konflikten um die Heilige Stadt dreier monotheistischer Religionen aus auf die Islamisierung der Stadt. Dabei nimmt er sich Abhandlungen über die „Verdienste‹ Jeru­salems‹ von muslimischen Autoren im 8. Jh. vor. Sie nennen die Stadt weiterhin vorwiegend mit ihrem römischen Namen Ilya, verwenden aber auch die koranische Umschreibung al-Quds. Für das christliche Jerusalem sind noch hervorzuheben die Beiträge zu den Pilger­fahrten (Ora Limor),[9] von Andreas Müller, der sein Buch über die christliche Armenfürsorge weiterschreibt,[10] und über das Netzwerk der Kirchenhierarchie von Lorenzo Perrone.

Es ist nicht vermeidbar, dass sich Informationen wiederholen, aber gegensätzliche Aussagen wären doch durch Querverweise in Beziehung zu setzen.[11] Den Herausgeberinnen ist ein wertvoller Band gelungen, in dem die neuen Befunde der Archäologie und die aktuellen Forschungen zur Romanisierung, Christianisierung, Islamisierung und zur jüdischen Präsenz umfassend diskutiert werden: eine sehr aktuelle Bestandsaufnahme mit vielen neuen Erkenntnissen. Einmal mehr ist auch der Verlag zu loben für die Qualität von Druck, Fadenheftung und Leineneinband: eine selten gewordene Qualitätsarbeit für eine lange und intensive Verwendung dieses wertvollen Bandes.

Inhalt Introduction Katharina Heyden/Maria Lissek: Jerusalem: Shape, Life and Claims.
Part One: Shape of the City: Topography and Buildings. Max Küchler/Markus Lau: Topographie und Baugeschichte Jerusalems in römischer und byzantinischer Zeit – Christoph Markschies: Die Christianisierung Jerusalems und ihre Auswirkungen auf die Urbanisierung – Ute Verstegen: Die christliche Sakralisierung Jerusalems von Konstantin bis Heraklios – Harald Buchinger: Liturgy and Topography in Late Antique Jerusalem – Jürgen Krüger: Die Grabeskirche: Entstehung und Entwicklung bis in frühislamische Zeit.
Part Two: Life in and around the City: Economics and Religions. Jon Seligman: The Economy of Jerusalem from the Second to Seventh Centuries – Ronny Reich: The Cultic and Secular Use of Water in Roman and Byzantine Jerusalem – Nicole Belayche: The Religious Life at Aelia Capitolina (ex-Jerusalem) in Roman Times (Hadrian to Constantine) – Hagith Sivan: The Making of Memory: Jerusalem and Palestinian Jewry in Late Antiquity – Ora Limor: Jewish and Christian Pilgrims to Jerusalem in Late Antiquity – Andreas Müller: Jerusalem als Zentrum von Wohltätigkeit in der Spätantike – Brouria Bitton-Ashkelony: Monastic Net­works in Byzantine Jerusalem
Part Three: Claims on the City: Emperors, Bishops and Monks – Jan Willem Drijvers: Jerusalem – Aelia Capitolina: Imperial Intervention, Patronage and Munificence – Lorenzo Perrone: Jeru­salem als kirchliches Zentrum der frühbyzantinischen Reichskirche – Christoph Brunhorn: Die Bedeutung Jerusalems für das Mönchtum der Judäischen Wüste: Monastische Topo­graphie im hagiographischen Corpus Kyrills von Skythopolis
Epilogue: The City in Early Islamic Period – Angelika Neuwirth: Al-masjid al-aqṣā: The Qur’anic New Jerusalem – Boaz Shoshan: The Islamic Conquest: Continuity and Change. Anhang: Antike Quellen, Bibliographie (fast 80 Seiten), Index of Passages, Index of Names, Places and Index of Subjects.

 

Bremen/Wellerscheid, Mai 2022
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Das Thema der Völkerwanderung, das an anderen Regionen des Römischen Reiches massive Verän­derungen schon seit langem verursacht hatte, vermehrt aber seit der Schlacht von Adrianopel (im Jahre 378), ist von Mischa Meier (München: Beck 2020) umfassend aufgearbeitet und dargestellt. Den Krieg zwischen Römern und Sassaniden zur Zeit des (ost-) römischen Kaisers Herakleios und dem Sassaniden-König Chosrau II. nennt James Howard-Johnston: The Last Great War of Antiquity. (Oxford University Press, Oxford 2021). Zum Problem, ob man für den Islam von »Mittelalter« sprechen kann, s. Thomas Bauer (München: Beck 2020). Angelika Neuwirth plädiert dafür, dass der Koran im »Denkraum der Spätantike« (2010) entstanden ist (s. meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ )

[2] Katharina Heyden *1977 in Berlin (DDR) ist seit 2019 Professorin für Historische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern. Ihre Habilitationsschrift beschäftigte sich schon mit Themen des vorliegenden Bandes. Orientierung. Die westliche Christenheit und das Heilige Land in der Antike. Münster: Aschendorff 2014. – Die Dissertation von Maria Lissek ist gerade erschienen Sich selbst durch andere verstehen. Die Kontroversdialoge von Gilbert Crispin und Petrus Alfonsi (Encounters between Judaism and Christianity 1) Leiden; Paderborn: Schöningh 2022.

[3] Das Buch erschien Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007. Es umfasst die Baugeschichte der Stadt von der vorjüdischen Zeit bis zur Gegenwart, ist aber vorwiegend archäologisch ausgerichtet. Die zweite Auflage 2014 ist um ein Drittel gestrafft (statt 1266 Seiten nur noch 816 Seiten); ich bevorzuge die erste Auflage. Ronny Reich, der in diesem Band zu dem Problem der Wasserversorgung in der Bergstadt Jerusalem schreibt, war ein Mitautor an dem Handbuch. Die archäologischen Befunde waren schon in dem dreibändigen Werk von Bieberstein/Bloedhorn (1994) und der dazugehörigen Karte exzellent aufgearbeitet worden. Hinzu kommen die archäologischen Forschungen von G. Avni (2017) und A. Kloner (2000-2003), die teilweise auf Hebräisch geschrieben sind.

[4] »Keine ›Sakraltopographie‹« Verstegen S. 97.

[5] Die Pilgerfahrt der Egeria (bzw. Aetheria) ist zweisprachig zugänglich in der Tusculum-Reihe, hrsg. Kai Brodersen. Berlin: De Gruyter 2016; und in den Fontes Christiani von Georg Röwekamp, Freiburg: Herder ³2018.

[6] Der sehr gut bebilderte Band des Autors zur Grabeskirche (Regensburg: Schnell+Steiner 2000) erfährt bedeutende neue Einsichten. Die neueste Bauforschung ist aber noch nicht publiziert.

[7] Von ihr das Handbuch Iudaea-Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Second to Fourth Century (Religion der römischen Provinzen 1) Tübingen: Mohr Siebeck 2001.

[8] Zu Koran, Sure 17 jetzt der umfangreiche Kommentar von Neuwirth, dazu meine Rezension »Der Kampf um Jerusalem: Historische und ideologische Eroberungen, gespiegelt im Entstehungsprozess des Koran“, zu Angelika Neuwirth; Dirk Hartwig: Der Koran 2.2: Die spätmittelmekkanischen Suren. Berlin: Suhrkamp 2021«. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/21/neuwirth-spaetmittelmekkanische-suren/ (21.3.2022).

[9] Dazu meine Besprechung des Buches von Vlastimil Drbal: Pilgerfahrt im spätantiken Nahen Osten. Mainz 2018, das Limor nicht kennt, hier:
https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/05/28/pilgerfahrt/

[10] S. das Publikationsverzeichnis (Prof. Dr. theol. Andreas Müller — Theologische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (uni-kiel.de) 25.05.2022), 2009, 2013, 2014, 2017.

[11] Verstegen wiederholt die These von der Geburtskirche/Grabeskirche/Himmelfahrtskirche als »ein Glaubensbekenntnis in Stein« (97); so auch Krüger (202), gegen die Markschies gerade (82) gute Gegenargumente präsentiert. Drijvers meint, dass die Grabeskirche nicht mit der Auffindung des Kreuzes verbunden ist (378), während Krüger sogar den genauen Tag der Fundamentlegung und Weihe bestimmt. Es ist von einer Tagung (die es für andere derartigen Bände gegeben hat) die Rede (v), aber man sieht nicht, wie solche Thesen diskutiert und aufeinander Bezug nehmen. Unglücklich ist, dass die Legende zur Madeba-Karte (Abb. 1, S. 23f) nicht gegenüber der Karte zu sehen ist, sondern auf der Rückseite. Die Karten am Schluss 591-593 sind klein und Karte 2 anders orientiert als die anderen beiden Karten. Keine Karte, die Bethlehem, die Kathisma-Kirche oder die Monastic Networks zeigen.

Pilgerfahrt

Vlastimil Drbal: Pilgerfahrt im spätantiken Nahen Osten (3./4.-8. Jahrhundert).

Paganes, christliches, jüdisches und islamisches Pilgerwesen. Fragen der Kontinuitäten.

(Byzanz zwischen Orient und Okzident 7) Mainz: Verlag des Römisch-Germanischen Zentralmuseums, 2018
[Regensburg: Schnell & Steiner, 2018].
247 Seiten. Karten, Abbildungen.
ISBN 978-3-88467-295-2 bzw. 978-3-7954-3318-5

 

Pilgern zu Heiligen Orte in der Spätantike –
auch in interreligöser Gemeinschaft

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Das Buch beschreibt ein wichtiges Thema, das Pilgerwesen in einer Zeit, in der nicht nur die drei monotheistischen Religionen nebeneinander existierten, sondern auch die klassischen (‚heidnischen‘) Kulte noch Bestand hatten. Neben der (vor allem in den literari­schen Texten hervorgehobenen) Konkurrenz ist an vielen Orten erkennbar, dass die Pilger der unterschiedlichen Religionen heilige Stätten auch gemeinsam besuchten.

Ausführlich: Das Vorhaben dieser Arbeit ist ebenso umfassend wie kühn. Denn zum Pilgerwesen der Christen in der Spätantike gibt es viel Literatur, aber die Einbeziehung der antiken vor-christlichen („paganen“) und nicht-christlichen (jüdischen und islamischen) Pilgerfahrten in nicht nur vergleichender, sondern auch synchroner Sicht, ist bisher kaum geleistet, eigentlich nur in Ansätzen. So stellt diese Monographie eine religionswissenschaft­lich relevante Forschungsarbeit dar, die umfassende Kenntnisse und Können erfordert. Um es vorwegzunehmen, das ist Vlastimil Drbal[1] sehr gut gelungen.

Das Forschungsprojekt konnte VD im Rahmen des Leibniz WissenschaftsCampus Mainz durchführen, in dem die Byzantinistik der Universität und das Römisch-Germanische Zentralmuseum zusammenarbeiten mit einem Schwerpunkt auf der Archäologie und materiellen Kultur. Das Forschungsprojekt mit mehreren Mitarbeitern Für Seelenheil und Lebensglück: Studien zum byzantinischen Pilgerwesen und seinen Wurzeln veröffentlichte seine Ergebnisse in einem Sammelwerk in der gleichen Reihe, Band 10.[2] Das vorliegende Buch enthält auf den Seiten in DIN A 4-Format mehr enggedruckten Text und noch kleineren Fußnoten (für wissenschaftliche Texte ein Glück) als sonst wissenschaftliche Bücher auf zwei Seiten; im Oktav-Format wären das leicht an die 600 Seiten geworden, das Literaturverzeich­nis ist eine Bibliothek von 1500 Werken. Ein großer Teil der in Farbe gedruckten 54 Bilder wurde vom Autor selbst fotografiert, das heißt, er hat viele Orte selbst bereist.

Auf einen einführenden allgemeinen Teil 11-32 folgen die vier Kapitel zur paganen (33-72), jüdischen (73-126), christlichen (127-138), islamischen Pilgerfahrt (139-160). Dann kommen die religionswissenschaftlich besonders interessanten Kapitel Multireligiöse Pilgerorte im Nahen Osten (161-192) und Pilgerfahrten zu Heilkulten zwischen Heidentum und Christen­tum (193-198) sowie eine Zusammenfassung auf zwei Seiten. Kein Index.

Das Problem läuft auf die Fragestellung hinaus, ob es eine Kontinuität von Praktiken und Orten der Pilgerfahrt gegeben hat, die über die einzelnen Religionen hinaus gehen. Dazu sind erst die einzelnen religiösen Traditionen in der gebotenen Ausführlichkeit vorzustellen, bevor dann die gemeinsamen Pilgerorte diskutiert werden. Im einführenden allgemeinen Teil werden Begriffe und allgemeine Probleme diskutiert. In der Frage, wie Christen nach dem Toleranzedikt von 313[3] und nach den kaiserlichen Verboten ab 392 mit den bestehenden alten Heiligtümern umgegangen sind, dafür gibt es dramatische literarische Berichte, die sich aber im archäologischen Befund so nicht bestätigen. Beispielhaft das Resüme: „Der archäologische Befund, wie ihn J.-M. Spieser für Griechenland herausgear­beitet hat, weist darauf hin, dass es hier keine kultische Kontinuität zwischen der paganen und christlichen Religion gab. Mit anderen Worten: Zwischen dem Verlassen der paganen Tempel und ihrer Wiederbenutzung durch die Christen lagen ein oder sogar zwei Jahrhunderte.“ (26). Das ist zu relativieren: 1. Es gab auch in der griechischen Kultur Zerstörung von klassischen Statuen oder Verstecke von Götterbildern. 2. Die Nicht-Aneignung von Tempeln ist noch kein Beleg für die Nicht-Kontinuität von religiösen Praktiken.[4] Aber die Forschung insbesondere von Ausgrabungen ist gut referiert. Die Erhaltung vieler Götterstatuen, ohne sie zu verehren („mit Blut zu besudeln“), in der christlichen Stadt beruht auf der Umdeutung als „Schmuck“, also ihrer ästhetischen Bewertung als Kulturerbe, aber nicht mehr religiösen Wertschätzung.[5] – Zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung stellt VD typologisch gegeneinander die These von Mircea Eliade von der Hierophanie der Axis mundi am heiligen Ort, wo der Heilige Ort sowohl zur Unterwelt wie zum Himmel eine ‚Achse‘ bilde, das Zentrum der Welt,[6] gegen die These Victor Turners von der Dezentralität/ Marginalität  des Heiligen Ortes getrennt vom Zentrum der Macht, weshalb eine Pilgerfahrt erst Sinn mache. Auch das ist eine kaum noch vertretene Theorie,[7] wobei allerdings Turner mit der Liminalität der Pilger eine starke Erklärung für die Egalität der Teilnehmer auf einer Pilgerfahrt bietet. Peri­phere Zentren und Religiöser Tourismus sind anders zu erklären: (1) Durch die Diaspora­situation und vorher schon durch die Desakralisierung des Landes durch die Joschianische Kultreform 622 v.Chr. wird die Wallfahrt innerhalb des Jüdischen Landes und aus der Dia­spora/Exil die Pilgerfahrt zum einzigen sakralen Zentrum ein Wunsch für Juden.[8] Für Chris­ten entsteht das Ziel des irdischen Jerusalem erst mit dem Ende der Christenverfolgung und der Flucht aus der nun christlichen Stadt durch das Mönchtum. Pilgerfahrt ist zu verstehen als eine Art temporärer Askese; wenn man so will freiwilliges Erleiden der (nicht mehr statt­findenden) Christenverfolgung und kleines Mönchtum auf Zeit.[9] (2) Im religiösen Tourismus ist die religiöse Motivation, wie Michael Stausberg zeigt, nur eine von mehreren.[10] Während VD der jüdischen Pilgerfahrt das längste Kapitel widmet, ist das Kapitel zur christ­lichen relativ kurz, auch weil diese bereits intensiv erforscht ist; viel Neues bietet das Kapitel zum Islam.[11] Da ist zunächst das islamische Jerusalem. Der „Felsendom“ ist ein starkes Zeichen, dass die neuen Herren der Stadt seit 638 die Stadt auch religiös dominieren. Der christliche Patriarch Sophronios hatte mit Omar (cUmar) ausgehandelt, dass – anders als in vielen ande­ren eroberten Städten – die Kirchen nicht den Christen weggenommen und zu Moscheen umgebaut würden. Stattdessen könnten sie auf dem Tempelberg bauen, den die christlichen Einwohner als ‚Müllhalde‘ benutzten.[12] Die Muslime nahmen gerne diesen die Stadt über­ragenden Platz an als haram und bauten über ‚dem Felsen‘ des zerstörten jüdischen Tempels den Felsendom und südlich dazu die al Aqsa-Moschee.[13] Nach der Idee, dass der Islam die beiden anderen monotheistischen Religionen vollende (nicht überwinde und ersetze), bauten sie ‚den Tempel‘ wieder auf. Der Felsendom sollte Jerusalem durch ein starkes architekto­nisches Zeichen (wieder) zur Heiligen Stadt machen und Mekka übertrumpfen. Nach einer Tradition steht das im Zusammenhang mit dem Streit (der sog. Zweite Bürgerkrieg) zwischen Ibn Zubair, der von Mekka aus das Kalifat beanspruchte, und cAbd al-Malik, der seine Residenz in Jerusalem zum Zentrum machten wollte. VD lehnt dies als spätere Traditi­on erst klar ab (153), nähert sich aber mit der neuesten Forschung wieder der Deutung als Konflikt an (157). Die religiösen Deutungen der Islamisierung der Heiligkeit Jerusalems sind zu vielfältig, um sie in diesem Zusammenhang auszuschöpfen; VDs Diskussion wird im Bezug auf die Architektonik der Komplexität gerecht.[14]

Waren die vorausgehenden Kapitel schon ausgezeichnete knappe Darstellungen auf dem neuesten Stand der Forschung, so stellt das Kapitel Multireligiöse Pilgerorte im Nahen Osten (162-191) noch einen weiteren Höhepunkt dar: Studien zu den Orten und ihre archäologische Erforschung (so schon zu Sergiupolis im NO Syriens, 140-147). Neben dem kurzen Schluss­kapitel, nach dem Patienten den weiten Weg auf sich nahmen, um wieder gesund zu werden bei einem Heil-Heiligtum (195-198),[15] sind es die folgenden: Mamre, der Ort, an dem Abraham drei unbekannte Männer bewirtet und diese ihm und Sara im hohen Alter noch die Geburt eines Sohnes, Isaaks, voraussagen (Gen. 18). Eusebios schreibt ‚seinem‘ Kaiser Konstantin zu, dass dieser das dort vorhandene Heiligtum renovieren ließ, gleichzeitig aber die anderen Religionen auszusperren befahl (VC 3,52f). Die Archäologie zeigt aber, dass das wohl nicht gelang, wie auch an anderen Orten die archäologischen Befunde die Schriftquel­len nicht bestätigen. Vielmehr ist ein idumäisches Heiligtum sowohl pagan wie jüdisch und christlich wie wohl später auch islamisch besucht worden. Mit einer Typologie von Benjamin Kedar wäre das ein Muster für ein von allen Religionen besuchtes ‚egalitäres‘ Heiligtum, das weitgehend unter freiem Himmel keinen ‚Besitzer‘ kannte, der andere ausschließen konnte, in gut 50 km Entfernung südlich von Jerusalem, damit nicht unter den Augen religiöser Autoritäten. Das zweite Beispiel ist das Grab der Erzeltern in Hebron, das auch heute von Juden wie Muslimen besucht und verehrt wird, nachdem es lange eine Moschee war, heute aber von der israelischen Polizei abgeschirmt wird. Die Architektur ist kompliziert (von VD nicht näher auseinandergesetzt, nachdem er Mamre ganz intensiv diskutiert hat), ebenso knapp zu Gilgal. Dagegen räumt VD dem christlichen Zion im Süden knapp außerhalb der Altstadt eine ausführliche Diskussion ein, dem Davidsgrab, dem Abendmahlssaal und der Kirche Hagia Sion. Die nur von wenigen akzeptierten Rekonstruktionen aufgrund schlecht untersuchter und winziger archäologischer Spuren wird ausgiebig dargelegt.[16] Schließlich das Grab der drei Heiligen auf dem Ölberg. Die erst 1991 entdeckte und dann untersuchte Kirche Kathisma (Die hochschwangere Maria ‚setzte sich‘ auf der Reise nach Bethlehem und ruhte sich aus) bildet den Abschluss des Kapitels. Noch im 5. Jahrhundert als christliche Kirche im Oktogon gebaut, nutzten die Muslime sie, indem sie eine Gebetsnische Richtung Mekka einbauten. Hier könnten noch weitere Beispiele genannt werden, wie die Gebets­nische in der Geburtskirche Jesu in Bethlehem, die Moschee in Lydda/Lod (wo Christen an der Außenmauer Gottesdienste halten), die Heiligtümer des Hl. Georg und vieles mehr.[17]

Die Monographie führt die materielle Kultur von vielen Heiligtümern des Nahen Ostens zusammen, gut bebildert, referiert den aktuellen Forschungsstand und zitiert die literari­schen Quellen, historisch gut bestimmt, zeigt aber in den meisten Fällen, dass diese einen Konflikt dramatisieren, der sich in der Archäologie so nicht zeigt. So ergibt sich ein Bild von gemeinsam besuchten Heiligen Orten, die nahe beieinander, oft aber auch der gleiche Ort an verschiedenen Festtagen, manche sogar synchron besucht wurden. Die Erzählung von den religiösen Konflikten oder den Möglichkeiten des Zusammenlebens der Religionen in der Spätantike bekommt eine neue, wichtige Facette.[18]

 

Bremen/Wellerscheid, 18. April 2022
Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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[1] Im Folgenden kürze ich den Namen des Verfassers mit den Initialen VD ab. Neben seiner tschechi­schen Muttersprache und einer bemerkenswerten Kompetenz in der deutschen Wissenschaftssprache, Französisch, Englisch ist das Griechisch fehlerfrei [S. 27 muss es ΗΑΓΙΑ ΠΟΛΙC heißen], Latein im Original, zitiert sind vielfach Übersetzungen (Hebräisch, Syrisch, Arabisch).

[2] Für Seelenheil und Lebensglück. Das byzantinische Pilgerwesen und seine Wurzeln. Hrsg. Despoina Ariantzi, Ina Eichner. 2018 [386 Seiten]. Neben Drbal auch monographisch Max Ritter: Zwischen Glaube und Geld. Zur Ökonomie des byzantinischen Pilgerwesens, 4.-12. Jh.. 2019. Weiter Pilgrimage to Jerusalem : journeys, destinations, experiences across times and cultures. Hrsg. Falko Daim, Johannes Pahlitzsch, Joseph Patrich, Claudia Rapp, Jon Seligman (eds). (Byzanz zwischen Orient und Okzident 19) 2020.

[3] Martin Wallraff (Hrsg.): Religiöse Toleranz: 1700 Jahre nach dem Edikt von Mailand. (Colloquium Rauricum 14) Berlin : De Gruyter 2016.

[4] Übernahme und gleichzeitig Widerspruch ist etwa das Beispiel der Heilkulte des Asklepios/der Dioskuren durch die christlichen Heiligen Anargyroi: Balbina Bäbler: From Asclepius to the Saints Without Silver“: The Transformation of a Sanctuary in Late Antique Athens. In: Ilinca Tanaseanu-Döbler; Leonie von Alvensleben (Hrsg.): Athens II: Athens in Late Antiquity. (COMES Civitatum Orbis MEditerranei Studia 4) Tübingen: Mohr Siebeck 2020, 123-136. Vgl. auch Christoph Auffarth: Athen – die heilige Stadt: Erbe, Umdeutung, Palimpsest der Sakrallandschaft.in: Athens  II (2020), 33-58.

[5] VD zitiert eine treffende Aussage aus Prudentius, contra Symmachum 1, 503-508. Dazu Hubert Cancik: Nutzen, Schmuck und Aberglaube. Ende und Wandlungen der römischen Religion im 4. und 5. Jahr­hundert. [1986] In: HC: Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze 2. Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 336-360. Vgl. Christoph Auffarth, The Materiality of God’s Image: Olympian Zeus and the Ancient Christology. In: Jan N. Bremmer; Andrew Erskine (ed.): The Gods of Ancient Greece: Identities and Trans­formation. (Edinburgh Leventis Studies 5) Liverpool 2010, 465-480.

[6] In einem einschlägigen Band Christoph Auffarth: Sind heilige Stätten transportabel? Axis Mundi und soziales Gedächtnis. In: Axel Michaels; Daria Pezzoli-Olgiati; Fritz Stolz (Hrsg.): Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? (Jahrbuch Studia Helvetica Religiosa 5, 2000/2001) Bern 2001, 235-257. Diese These vertritt heute niemand mehr. Sie war Teil einer neo-paganen Religionsstiftung Eliades.

[7] Jetzt wäre auf die religionswissenschaftliche Raumanalyse von Kim Knott zu verweisen, weil sie nicht reduziert, sondern die Kategorien eröffnet: The Location of Religion: a Spatial Analysis. London: Equinox 2005. – Zu Turner, dem im Nachkriegs-England kommunistisch orientierten Sozialwissen­schaftler, der in die USA berufen, dort seinen Katholizismus wiederentdeckte und auf Pilgerfahrt nach Mexiko ging, s. Hendrik Hillermann: Victor Witter Turner. Eine Biografie. Stuttgart: Kohlhammer 2017, 147-154; 217-240.

[8] Der Klassiker dazu war Joachim Jeremias: Jerusalem zur Zeit Jesu. Kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte. [1923-1937] Berlin: EVA ³1963. 66-98. Zur Kultreform und Zentra­lisierung auf den nunmehr einzigen sakralen Ort Michael Pietsch: Die Kultreform Josias. Tübingen 2013. Meine Rezension https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2016/02/02/michael-pietsch-die-kultreform-josias

[9] Die Beiträge von Ute Verstegen, Lorenzo Perrone und besonders Ora Limor: Jewish and Christian Pilgrims to Jerusalem in Late Antiquity. In: Katharina Heyden; Maria Lissek (Hrsg.): Jerusalem II. Jerusalem in Roman-Byzantine Times. (COMES 5). Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 311-324. – Umfassend religionswissenschaftlich für die Religion im Römischen Reich Andreas Bendlin: Peripheral Centres—Central Peripheries: Religious Communication in the Roman Empire. In: Hubert Cancik; Jörg Rüpke (Hrsg.): Römische Reichsreligion und Provinzialreligion. Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 35-68.

[10] Bei VD 17 schon wahrgenommen, aber nicht die verschiedenen Motivationen zu solch einer Reise. Michael Stausberg: Religion und moderner Tourismus. Berlin. Verlag der Weltreligionen 2011.

[11] Die wichtige Sure 17 des Koran würdigt VD 154. Sie ist jetzt hervorragend kommentiert im Koran Handkommentar 2/2 von Angelika Neuwirth. Berlin 2021, 63-208; Rez CA: Der Kampf um Jerusalem: Historische und ideologische Eroberungen, gespiegelt im Entstehungsprozess des Koran. Angelika Neuwirth; Dirk Hartwig: Der Koran 2.2: Die spätmittelmekkanischen Suren. Berlin: Suhrkamp 2021. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/21/neuwirth-spaetmittelmekkanische-suren/ (21.3.2022). Masjid al-aqsa „Das gegenüber der Kaaba in Mekka ‚fernere‘ oder auch das ‚ganz ferne‘ ‚außerräumliche‘ Heiligtum“ (Neuwirth 96), jedoch nicht ein himmlisches Jerusalem in einer Vision (98-100).

[12] Zum Tempelberg als Nicht-Ort im christianisierten Jerusalem s. die Beiträge von Christoph Mark­schies und Uta Verstegen in dem in Anm. 9 genannten Band Jerusalem II. 2021.

[13] Der Tempelberg (745 m) liegt fast auf der Höhe der Davidsburg (750) am westlichen Ende der Stadt; der Ölberg liegt im Osten außerhalb der Stadt, getrennt durch das Kidrontal 680 m, noch einmal höher auf 805 m. – Dem haram als Heiliger Bezirk liegt auch die Bedeutung „tabuisierter Bereich“ nahe.

[14] Bezüglich der – später an die Sure 17 angeschlossenen – ‚Himmelfahrt Mohammeds‘ arabisch mirağ ‚Leiter‘, erinnert VD an die Himmelsleiter Jakobs, Neuwirth 2021, 98f an die Himmelsreise Henochs, später die Konkurrenz zum Ölberg mit der Himmelfahrt Jesu. Dazu kommen die Erinnerungsorte vom gewaltsamen Tod der Propheten auf dem Haram (die grundlegende Arbeit von Andreas Kaplony ist in der Bibliographie aufgeführt, im Text sehe ich sie nicht diskutiert). Die apokalyptische Deutung des Felsendoms in der christlichen syrischen Apokalypse des [Methodios], die statt der Voll­endung des Baus im Jahre 692 (nach 10 Jahrwochen = je 7 Jahren, also 70 Jahre nach der Hidschra 622) die Wiederkunft Christi erhofft, s. Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer. (VMPIG 144) Göttingen: V&R 2002, 86-90.

[15] Für die Kaiserzeit hat diesen Tourismus für Griechenland beschrieben Annette Hupfloher: Zur religiösen Topographie: Heil-Kultstätten in der Provinz Achaia. In: Christoph Auffarth (Hrsg.): Religion auf dem Lande. Entstehung und Veränderung von Sakrallandschaften unter römischer Herrschaft. (PawB 28) Stuttgart: Steiner 2009, 221-246.

[16] Hier hätte ein Verweis auf den Jerusalem-Band von Max Küchler (Klaus Bieberstein u.a.) 2007, 602-669 genügt.

[17] Das Thema ist mit dem Buch bei weitem nicht ausgeschöpft. Georgskapellen (islamisch Chadr bzw. Hızır) hat Carsten Colpe untersucht CC: Das samaritanische Pinehas-Grab in Awerta und die Bezieh­ungen zwischen Hadir- und Georgslegende. In: C.C.: Das Siegel der Propheten. Berlin: Institut Kirche und Judentum 1989, 182-226. Der ganze syrische Raum fehlt. Ethnographisch-religionswissenschaft­liche Beschreibungen und Einordnungen von Jens Kreinath: The Infrastructure of Shared Pilgrimage Sites in Hatay, Turkey: Interreligious Dynamics of Saint Veneration in the Northern Levant. In: Levantine Entanglements Local Dynamics of Globalization in a Contested Region. Ed. Terje Stordalen; Øystein S. LaBianca. London: Equinox 2021, 444–524 und andere Beiträge desselben.

[18] Ein paar Fehler wie 31 Günter (nicht Gustav) Stemberger trüben kaum den Gesamteindruck. Die Illustrationen machen das Buch mit seinen verschiedenen Orten sehr anschaulich.

Der Koran – Christoph Auffarth kommentiert die Werke von Angelika Neuwirth

In der Reihe „Buchempfehlungen“ von Christoph Auffarth
werden die Werke von Angelika Neuwirth zum Koran vorgestellt und gewürdigt.

Die Bücher sind im Verlag der WELTRELIGIONEN  (Suhrkamp) erschienen.


Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike.
Ein europäischer Zugang. Ersterscheinungstermin: 15.11.2010

„Solche Bücher werden nur alle hundert Jahre geschrieben.“

                                             Link zur Rezension von Chr. Auffarth


Hg.: Angelika Neuwirth: Der Koran. Bd. 1: Frühmekkanische Suren.
Poetische Prophetie Handkommentar mit Übersetzung von Angelika Neuwirth. Erscheinungstermin: 12.10.2011

„Im Kommentar eröffnet Angelika Neuwirth ein weites Spektrum an Perspektiven in die Religionsgeschichte des Vorderen Orients.“

                                    Link zur Rezension von Chr. Auffarth


Hg.: Angelika Neuwirth: Der Koran. Band 2/1: Frühmittelmekkanische Suren.
Das neue Gottesvolk: ›Biblisierung‹ des altarabischen Weltbildes Handkommentar. 08.05.2017

„Dieses Mittel zum Studium des Koran ist dringend notwendig…Angelika Neuwirth   verfügt souverän über die exegetischen Kompetenzen der Bibelwissenschaft und fährt die Früchte einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der arabischen Literatur ein.“

                                             Link zur Rezension von Chr. Auffarth


Hg.: Angelika Neuwirth: Der Koran. Bd. 2/2: Spätmittelmekkanische Suren.
Von Mekka nach Jerusalem. Erscheinungstermin: 10.10.2021

„Die These von Angelika Neuwirth mit dem Begriff des Prätextes ist ja, dass der Koran „in einem gemeinsamen Denkraum der Spätantike“ entstanden ist, in dem neben altarabischer Dichtung vor allem die religiösen Gottesdienste der monotheistischen Gemeinden der Ausgangpunkt waren, aus dem dann die neuen Texte des Islam formuliert wurden.“

                                             Link zur Rezension von Chr. Auffarth


In diesem Zusammenhang muss auch das Projekt  Corpus Coranicum erwähnt werden.

 Dazu schreibt Christoph Auffarth:

Angelika Neuwirth hat das Grundlagenwerk des Corpus Coranicum konzipiert, die arbeitsteilige Forschung aufgestellt, fähige MitarbeiterInnen gefunden und öffentlich zugänglich gemacht als noch nicht abgeschlossenes, aber in ständiger Bearbeitung und Erweiterung begriffenes Instrument. Für solche Großprojekte, die die Arbeitskraft einer Einzelforscherin überschreiten, waren die Akademien der Wissenschaft gegrün­det worden.“

 

Besonders erwähnenswert: die Kommentare zu den Koransuren.
Erstellt von den Mitarbeitenden des Projektes.
Mehr dazu: h i e r 

Für folgende Suren ist ein Kommentar verfügbar (Stand Mai 2022)

 

Frühmekkanische Suren

Der Koran – Handkommentar mit Übersetzung
von Angelika Neuwirth.

Bd. 1: Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie.

 

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011,
751 Seiten. 52,00 €.
ISBN: 978-3-458-70034-0

 

Endlich: ein Kommentar zum Koran

Eine Rezension von Christoph Auffarth und Tilman Hannemann

 

Nach der hervorragenden Einführung Der Koran als spätantiker Text von Angelika Neuwirth[1] im letzten Jahr erscheint jetzt der erste von geplanten fünf Bänden eines Handkommentars. Sie hebt nochmals ihre These hervor, dass sie den Koran als „Mitschrift einer Verkündigung“ (S. 15) versteht, worunter sie nicht etwa ein anderes Wort für die von Gott diktierte Offenbarung an den Propheten meint. Vielmehr geht es um einen Entstehungsprozess über den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von weniger als einer Generation, in den sowohl die Auseinandersetzung mit Intertexten der eigenen arabischen, der jüdischen und christlichen Tradition wie die Gemeinden teilhaben mit eigenen Anforderungen, wie sie die neue Religion leben und in ihrer Lebenswelt umsetzen wollen. Die Mitschriften stehen also im Gespräch mit den Intertexten und mit dem historischen Umfeld. Diese Interaktionen haben in den Mit­schriften Spuren hinterlassen. Mit Intertexten ist also gemeint, dass jüdische und christliche Traditionen nicht ‚als Quellen‘ in die neue Religion eingearbeitet wurden, sondern die neue prophetische Religion ist ein aktiver Prozess, der in verschiedenen Phasen verlief. Die Texte sind nicht aus der geraume Zeit später einsetzenden biographischen Tradition über den Propheten zu erklären, sondern philologisch und historisch, aus dem Text heraus.

Ein ausführlicher Kommentar mit den Handschriftenvarianten und den nur mündlich überlieferten Lesarten in einem umfassenderen Kommentar entsteht parallel und wird nur im Internet veröffentlicht im Rahmen des Programms Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie.[2]

Band 1 kommentiert die frühmekkanischen Suren, also die Texte der ersten Phase. Aus intern-textlichen Gründen war schon Theodor Nöldeke[3] zu einer neuen chronologischen Abfolge der Texte gekommen. Die Anordnung der Suren, wie sie der Koran jetzt bietet, ist ja deutlich eine sekundäre: nach der Länge der Suren. AN beobachtet eine Entwicklung sowohl anhand stilistischer Kriterien (das hatte Nöldeke schon erarbeitet) als auch durch inhaltliche Linien (die AN als weitere Klärung der Entwicklung parallel beobachtet). Während noch die – nach den inneren Kriterien – ersten Suren sich ganz auf den Verkünder selbst konzentrieren, richten sich die folgenden Texte an das Kollektiv und enthalten allmählich auch moralische Kritik an der Lebensführung. Es entsteht ein Interesse an der Eschatologie, wird immer vor­dringlicher und zunehmend mit einer Schöpfungstheologie verbunden. Ab der Mitte der ersten Periode autorisiert sich die Prophetie durch „Schrift“ (S. 16). Es bildet sich eine monotheistische Glaubensgemeinde, die sich über ihre Schrifttradition zu anderen monotheistischen Gemeinden in Beziehung setzt (S. 17). Nur wenn die Entwicklung der Stilistik und die Entwicklung der Themen sich plausibel mit der Veränderung der Gemeinden der neuen Religion verbinden lassen, stimmt das Gesamtbild.

Der eigentliche Kommentar beginnt S. 73 und umfasst knapp 640 Seiten. Er ist mit Blick auf die jeweils untersuchte Sure folgendermaßen aufgebaut (vgl. S. 35–39):

  • Eine Transkription des arabischen Textes. Sie ist als poetischer Text darge­stellt. Das ist eine vorzügliche Verstehenshilfe. Auch wer nicht die arabische Schrift lesen kann, kann so auf die Lexika zurückgreifen – nicht zuletzt auf das Standard­werk der Islamwissenschaft, die Encyclopedia of Islam (EI²), die zumeist transkribierte arabische Stichwörter verwendet.
  • Eine Übersetzung des Textes von AN. Sie soll vor allem die Textstruktur des poetischen Originals wiedergeben, ist also erst in zweiter Linie zielsprachen­ori­en­tiert. Dabei ist sie wenigstens so genau wie Parets Übersetzung – ohne dessen in Klammern eingefügten Alternativen, welche die Lesbarkeit beeinträchtigen; dafür gibt es hier den kursorischen Kommentar.
  • Eine literarkritische Diskussion der Sure, Beobachtung von Brüchen, Zusätzen. Wo ist die Reimstruktur unterbrochen? Das kann auf nachträgliche Einfügungen hindeuten (dagegen aber z.B. ANs Analyse von Sure 96, S. 274–279, die bislang als ein Kompositum behandelt wurde).[4] Das Reimschema wird notiert. In der Abgrenzung der Verse werden unterschiedliche Lösungen der verschiedenen Koranschulen berücksichtigt, ohne dabei die Fälle zu vernachlässigen, in denen textinterne Gründe eine von der Tradition unabhängige Unterteilung erfordern. Die Darstellung der Surenstruktur legt Wert auf die unterschiedlichen Textsorten. AN und ihr Schüler Nicolai Sinai haben dies erarbeitet.[5]
  • Es folgt ein kursorischer (d.h. dem Gang des Textes folgender) Kommentar, Vers für Vers: Lexikalische, grammatikalische Fragen und die Auseinander­setzung mit Intertexten werden diskutiert. Zum ersten Mal seit Parets Konkordanz (1971) liegt nun eine detaillierte Aufarbeitung des Textes vor, die neuere Entwicklungen in der Koranforschung aufnimmt.
  • Damit ist der Weg frei für eine Analyse und Deutung der Sure. Die Einordnung in die vermutete innere Chronologie wird begründet. Dabei sind auch die – philologisch ermittelten – Texterweiterungen einzuordnen. Solche Methoden wurden für den Psalter der Hebräischen Bibel erarbeitet.[6] Weiter fragt dieser Abschnitt nach der Stoßrichtung des Textes: will er paränetisch, apologetisch oder polemisch[7] die Identität der Gemeinde sichern? Auf welche Ereignisse reagiert das Wort des Propheten?
  • Eine Kurzbibliographie zu jeder einzelnen Sure vermittelt einen raschen Überblick des Forschungsstands und der weiterführenden Literatur.

Ab S. 711 sind gelistet: Abkürzungen, das Litera­turverzeichnis, die besprochenen Stellen, die Transliteration und die Reihenfolge der Suren nach der überlieferten Reihenfolge. Kommentiert sind folgende Suren:[8] Gruppe I – 93,  94, 97, 108, 105, 106; Gruppe II – 89, 91, 92, 90, 87, 96, 82, 81, 84, 86, 85; Gruppe III – 73, 74, 80, 79, 75, 70, 78, 88, 83, 77; Gruppe IV – 51, 69, 68, 55, 56, 53, 52.

Im Kommentar eröffnet AN ein weites Spektrum an Perspektiven in die Religionsgeschichte des Vorderen Orients. Anhand von Sure 87 etwa erfährt man etwas zur Eingangsformel (vergleichbar dem Hallelujah), zur ‚Rezitation‘ im Sinne von ,Lesung‘ (mit den Konsonanten q-r- ͗, davon abgeleitet auch das Wort qur ͗ān), jedoch noch ohne das koranischen Korpus (muṣḥaf); hier die Idee einer virtuellen Textvorlage, des Himmelsbuches (ab Q 56:77 kitāb), das dem offenbarten Buch zugrunde liegt. Es geht um die spätantike „Deutung der Welt als eines Zeichensystems“ (AN, S. 270, zu Q 96). In der frühen Zeit ist von Schriftblättern (ṣuḥuf) die Rede (Q 87:18–19); die Schriften ‚des Abraham und Mose‘ könnten verweisen auf die Apokalypse Abrahams, die auch schon das Buch im Himmel kennt. – Jahreszeitliches Grünen und Verdorren der Vegetation und der Weideplätze dient als Bild der Vergänglichkeit dieser Welt und Verweis auf die jenseitige. – Die ‚angsterfüllte Wachsamkeit‘ lässt sich im zeitgenössischen christlichen Mönchstum wiederfinden. – Die Reaktion der Hörenden ist in solche aufgeteilt, die das Gehörte weiter memorieren und rezitieren, und die anderen, die es ablehnen und dafür Lohn oder Strafe im Jenseits erfahren.

Dieser Kommentar bildet den lange gesuchten wissenschaftlich verlässlichen Kommentar. Vor 150 Jahren hatte Theodor Nöldeke die Eckpfeiler für eine historische Aufarbeitung des Koran eingesetzt, aber niemand[9] hat diese Grundlagen in einen brauchbaren Kommentar umgesetzt.[10] Angelika Neuwirth zeigt den Mut und die intellektuelle Kraft, das Material auf der Höhe der internationalen Forschungsdiskussion zu bearbeiten. Das Programm, das sie im umfassenden Einführungsband Der Koran als Text der Spätantike entworfen hat, führt sie hier in den Einzelinterpretationen aus. Ein historisch-kritischer Kommentar des Korans, der den Standards entspricht, die von 150 Jahren biblischer Exegese gesetzt wurden, ist für sich schon eine Meisterleistung. Ihn jetzt anzugehen, ist zum einen mutig, zum anderen aber auch der richtige Moment. Wenn die Ausbildung der Religionslehrer für den islamischen Religionsunterricht und der Imame an staatlichen Universitäten institutionalisiert wird, dann muss das in erster Linie eine wissenschaftliche Ausbildung werden. Genau zu dem Zeitpunkt kommt der wissenschaftliche Kommentar zum Koran, der Kommentar. Großartig!

 

Bremen, 4. Dezember 2011                        Christoph Auffarth/Tilman Hannemann

Religionswissenschaft

Universität Bremen
auffarth@uni-bremen.de

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[1] Der Name der Autorin ist im Folgenden meist abgekürzt mit den Initialen AN. Zum Einführungs­band meine Rez. :  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ (1.März 2011)

[2] http://www.bbaw.de/forschung/Coran

[3] Theodor Nöldeke: Geschichte des Qoran. Göttingen 1860. Dass. Völlig umgearbeitet von Friedrich Schwally. 3 Bände, 1909/1919/1938.

[4] Solche Einfügungen sind bis spätestens zum letzten Drittel des 7. Jh.s anzunehmen. Weitergehende „Spekulationen über eine erst sukzessive Entwicklung des Korantexts“ (S. 24) bewegen sich nicht auf gesicherten Grundlagen.

[5] AN: Studien zur Komposition der Mekkanischen Suren. 1981; ²2007. Nicolai Sinai: The Quran as Process, [2009], S. 422–424.

[6] AN verweist mehrfach auf den vorbildlichen Kommentar zu den Psalmen von Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld. Von drei geplanten Bänden sind erschienen Band 2 (2000) und 3 (2008).

[7] Paränetisch heißt seelsorgerlich, manchmal tröstend den Gemeindemitgliedern Sinn stiften in ihren Fragen und Nöten. Apologetisch bedeutet: die eigene Religion verteidigen gegen Angriffe der Gegner; polemisch meint umgekehrt, die anderen Religionen angreifen und kritisieren.

[8] Nach dem angelsächsischen System notiert AN Koranstellen mit Q [ohne „Sure“], Nummer der Sure, Doppelpunkt, Versnummer, wie z. B. Q 93:7 (Statt Koran, Sure 93,7). Die Gruppierung und Anord­nung ergibt sich aus der von AN erarbeiteten Chronologie.

[9] Das soll nicht die Leistung von Rudi Paret und Adel Theodor Khoury schmälern. Eine Einordnung und Kritik bei AN 28-35.

[10] Das hat auch damit zu tun, dass die Koranwissenschaft lange besonders von jüdischen Gelehrten in Bildungseinrichtungen außerhalb der Universitäten betrieben wurde. Dazu die neueren Arbeiten von Görge K. Hasselhoff, Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums (2010); Dirk Hartwig (Hrsg.), Im vollen Licht der Geschichte (2008); Peter Haber, Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft (2006).

 

Carl Erdmann

Folker Reichert: Fackel in der Finsternis.
Der Historiker Carl Erdmann und das »Dritte Reich«.

 

2 Bände, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft wbg academic 2022.

ISBN 978-3-534-27403-1

[I] Die Biographie. 423 Seiten.

[II] Briefe 1933-1945. 504 Seiten.

 

Das kurze Leben des Mittelalterhistorikers Carl Erdmann,
der sich dem Nationalsozialismus nicht anpasste.

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Eine herausragende Biographie und Edition seiner Briefe, die den Wissenschaftler in der NS-Zeit als einen zeigt, der nicht vorauseilend der Verkehrung des Geschichtsbildes diente, sondern widersprach und seinen Prinzipien treu blieb.

Ausführlich:
Carl Erdmann war ein herausragender Wissenschaftler auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft, dem aber eine Professur, ja jede Forschungs-Beamtenstelle verwehrt wurde, weil er sich nicht ‚anpasste‘ und deshalb von den nationalsozialistischen Universi­täts-„Führern“ bekämpft wurde. Trotz seines frühen Todes ist sein Name bis in die Gegen­wart berühmt, sein Buch Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935 bis heute ein grund­legendes und befruchtendes Werk.[1] Gerd Tellenbach hat ihn in seiner Autobiographie als leuchtendes Beispiel politischer Gradlinigkeit hervorgehoben.[2] Folker Reichert wählt den Titel Fackel in der Finsternis, denn nur wenige Wissenschaftler haben so viel Nachteile in Kauf genommen, um sich nicht anzupassen oder gar mit dem Parteibuch Karriere zu machen. FR hat nun eine herausragende Biographie erforscht, die es nicht bei den relativ wenigen direkten Zeugnissen einer ‚Biographie‘ belässt, sondern eine Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik besonders der NS-Zeit mit Fokus auf diesen außerordentlichen Gelehrten erarbeitet.[3] Arbeit steckt in dieser Geschichte enorm viel: Dafür hat FR nicht nur die Stätten seiner Jugend und seinen Grabstein aufgesucht, sondern alle in unterschiedlichen Archiven erreichbaren Nach­lässe der damaligen Historiker nach Zeugnissen durchforstet, die Akten der Universitäts­archive durchgelesen und eine stattliche Anzahl (218 Nummern) von Briefen von CE (Briefe an diesen fehlen, denn es gibt es so gut wie keinen Nachlass), von denen die meisten (also in Auswahl) ab dem Jahre 1933 im zweiten Band ediert und sehr gut kommentiert sind. Zum Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen als Dolmetscher mit den (nach Mussolinis Sturz von den Deutschen gefangen genommenen)[4] Italienern erreichte er im überstürzten Rückzug der deutschen Truppen aus dem Balkan noch Zagreb/Agram, infizierte sich aber und starb dort am 7. März 1945, 46-jährig.

Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens 1935. Ursprünglich sollte das Buch Militia S. Petri [Kriegsdienst für St. Petrus] heißen. FR führt den deutschen Titel darauf zurück, dass man in der NS-Zeit besser keine lateinischen Buchtitel verwenden wollte. Das trifft aber nicht zu. In der Reihe, herausgegeben von Erich Seeberg, gemeinsam mit Erich Caspar und Wilhelm Weber, enthält der folgende Band 7 den Obertitel Libertas, eben das Buch von CEs Freund Tellenbach mit einer historischen Stellungnahme zu den Eingriffen des Staates in die Freiheit der Kirchen.[5] Der ursprüngliche Titel traf nicht die These des Buches, denn die Bedeutung des Papstes für die Kreuzzüge umfasste ja nicht die ganze Bewegung.[6] Im Schlusskapitel diskutiert CE die Frage nach der „grundlegenden Unterscheidung zwischen der hierarchi­schen und der populären Kreuzzugsidee, die einige Zeit nebeneinander herliefen, um sich unter Urban II. zu weltgeschichtlicher Vereinigung zu finden“, wie schon im Vorwort (ix) die Fragestellung formuliert wird. Und im Resüme beantwortet er: „Das scheidet ihn (Urban II.) grundsätzlich von Gregor, für den das Schillern zwischen Frömmigkeit und Vasallität, zwischen Sacerdotium und Militärmacht charakteristisch geblieben war. Urban II. „begnügte sich damit, sich an die Spitze der populären Bewegung seiner Zeit zu stellen, auch ohne dass sie ihm unmittelbaren Vorteil brachte.“ Das heißt, „Urban hat es verschmäht, diesen Gewinn (an moralischer Autorität) in direkte staatliche Macht umzuwechseln.“ (alles S. 325). Milita s. Petri umfasste aber nicht diesen populären und religiösen Aspekt des Kreuzzugsgedankens. Die religionswissenschaftliche Perspektive hat zum einen die religiöse Motivation der Laienfrömmigkeit herausgestellt, u.a. mit der Wahl der (jüdischen!) Makkabäer als Vorbild und Heilige der Ritter (neben den von CE untersuchten Erzengel Michael, Hl. Georg).[7] Weiter ist die Pilgerfahrt eine eigene Motivation von Laien mit viel älterer Tradition, die sich zwar gemeinsam mit dem militärischen Zug auf den Weg machte, aber eigene Ziele verfolgte. Die Rede von der „bewaffneten Wallfahrt“ vermischt, was getrennt zu betrachten ist.[8] In der Tat hat CE mit seinem Buch die Mediävistik weit geöffnet von der Verengung auf Kaiser- und Papstgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte und Religionsgeschichte.[9] FR macht deutlich, dass das Buch zwar bis heute grundlegend ist, CE sich aber nicht als Kreuzzugshistoriker verstand.

Zur Mediävistik in der Geschichtswissenschaft der NS-Zeit:[10] Die zwölf Jahre der Zeit des Nationalsozialismus waren für ein so kompetitives Verfahren wie eine Wissenschaftskarriere entlarvend. Zum einen wurden viele Professuren unerwartbar frei, weil ihre Inhaber entlas­sen wurden, zumeist Juden. Der Fall Ernst H. Kantorowicz in Frankfurt ist der bekannteste.[11] Finanziell unabhängig, konnte er in der Vorlesung offen den NS anprangern, dann ohne Lehrverpflichtung an seinen Projekten arbeiten. EC wäre für die Vertretung und wohl auch die Nachfolge gefragt worden, aber machte zur Bedingung, dass er den Skandal anprangern würde (133-163).[12] Das konnte der Vertreter der Universität nicht annehmen. Bei der Vergabe eines (schlecht bezahlten) Lehrauftrags an der Berliner Universität schaltete sich der NS-Dozentenbund ein, der das politische Engagement beurteilte. Das erwies sich als vernichtend für den – nach bis dahin üblichen Kriterien – Star unter den Wissenschaftlern, die als nächste auf eine Professur berufen würden. Statt um Qualität des wissenschaftlichen Könnens und didaktischer Fähigkeiten wurde jetzt nach dem Datum des Eintritts in die NSDAP gefragt.[13] CE weigerte sich. Eine Chance zur Öffentlichkeitsarbeit bot sich für die Mediävistik und CE trieb das Projekt voran: Eine Fraktion in der NSDAP beschimpfte Karl den Großen als den „Sachsenschlächter“, als er die Sachsen seiner Herrschaft unterwarf und 4500 aus deren Elite entweder zur Annahme des Christentums zwang oder sie würden enthauptet. CE gewann Kollegen zu einem Büchlein, das den antifranzösischen Titel trug Karl der Große oder Charle­magne? Die acht Kapitel hatten zweierlei zum Ziel: Karl den Großen als den ersten Kaiser des Abendlandes bzw. des Deutschen Reiches zu feiern und das Recht auf Wissenschaft, ohne einer Ideologie zu dienen. Hitler bekannte sich in seiner Grundsatzrede auf dem Reichs­parteitag 1935 zu Karl dem Großen als seinem Vorbild der Einigung des Abendlandes, auch unter Gewalt (sprich der Eroberung ganz Europas dann im Zweiten Weltkrieg). Ob er das tat nach (und wegen) des Eindrucks der Historiker oder weil er das Germanenbild der Rosen­bergs und Himmlers ablehnte, aber auch weil er das Christentum für eine unverzichtbare Macht hielt, lässt sich so nicht entscheiden. Ich neige anders als FR dem letzteren zu.[14] Spannend CEs Widerspruch gegen die Weihestätte, die Heinrich (Himmler) seinem Namensvetter König Heinrich I. einrichtete und mit einem ‚sensationeller Weise entdeckten‘ Skelett authentifizierte, das sich aber als plumpe Fälschung erwies (254-264).

CE konnte mit seinem schon in jungen Jahre staunenswert umfangreichen Werk eine Forscherstelle, ja die Direktorenstelle in den Monumenta Germaniae Historica erwarten. Statt seiner wurden Emporkömmlinge auf die Stelle gesetzt, „Herr und Knecht“ nennt FR das Kapitel, wie CE das Institut eigentlich leitete und im Krieg vor der Ausbombung rettete. Sein Chef, Theodor Mayer, überließ CE die sorgfältige Evakuierung (die auch viele der von FR gefundenen Akten rettete). Mayer war mit seiner NS-Vergangenheit nach der Kata­strophe nicht mehr auf eine Professur zu befördern, aber wie vielen der Kollaborateure richtete man ihm ein eigenes außeruniversitäres Institut ein.[15] Die sich gegen den NS stemmten, wurden nach 1945 nicht etwa gelobt und gefördert, sondern meist wie Geächtete behandelt. Wie es CE ergangen wäre?

Die Wissenschaftsgeschichte der Mediävistik hat mit Reicherts Buch einen großen Fortschritt gemacht. Weit über Carl Erdmann hinaus treten andere Wissenschaftler auf und auf diesem Hintergrund wird die außergewöhnliche Persönlichkeit Erdmanns deutlich. Seine Gradlinig­keit und Mut, die Ablehnung des Nationalsozialismus auch auszusprechen, wo andere geschwiegen hätten, hat Folker Reichert mit all seiner Kenntnis der Forschung und einer umfassenden Arbeit in unterschiedlichsten Archiven erforscht und erzählt. Eine hervor­ragende Edition der Briefe und eine Biographie, die die ‚Spielräume‘ von Wissenschaftlern im ‚Dritten Reich‘ erkennen lassen, die die meisten mit Blick auf ihre Karriere, auch die schon etablierten, vorauseilend nicht nutzten. Diese Biographie zeigt, dass es auch solch eine „die Fackel in der Finsternis“ gab.

 

Bremen/Wellerscheid, März 2022                                                              Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen

E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

 

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[1] Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. (Forschungen zur Kirchen- und Geistesge­schichte 6) Stuttgart: Kohlhammer 1935. (Nachdrucke 1955, 1965, 1972, 1980. Englische Übersetzung erst Princeton: Princeton University Press 1977 von Marshall Baldwin The Origin of the Idea of Crusade) – Das umfangreiche Werk dokumentiert sehr präzise FR im Anhang zu Band 2, 423-438. Erdmanns Namen kürze ich ab mit den Initialen CE. Zum Nachleben: 334-345.

[2] GT: Aus erinnerter Zeitgeschichte. Freiburg: Wagner 1981, 82-94.

[3] Folker Reichert (* 1949) ist Prof. emeritus der Universität Stuttgart. Er hat die Mediävistik bereichert unter anderem durch die Geschichte des Reisens, also in globalgeschichtliche Richtung. Wissen­schaftsgeschichtlich ist er mit der Erschließung des Tagebuchs im Ersten Weltkrieg des Heidelberger Mittelalterhistorikers Karl Hampe hervorgetreten. – Seinen Namen kürze ich ab mit den Initialen FR.

[4] Zu den italienischen ehemaligen Waffenbrüdern, aber nach Mussolinis Sturz Kriegsgefangenen Christoph Schminck-Gustavus: Kephalloniá 1943 – 2003. Auf den Spuren eines Kriegsverbrechens. Bremen: Donat 2004.

[5] Gerd Tellenbach: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Inverstiturstreits. [Habil. Heidelberg 1932] Stuttgart: Kohlhammer 1936. Die Titel der übrigen 21 Bände vor dem Ende des NS enthalten viele theologische Fachbegriffe. Im gleichen Verlag, aber aus mir nicht bekannten Gründen außerhalb der Reihe – Die Reihe wurde herausgegeben von Benz‘ Mentor Erich Seeberg und war mit  Benz‘ Willensmetaphysik  eröffnet worden – war  im Jahr davor Ernst Benz: Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der Franziskanischen Reformation. Kohlhammer: Stuttgart 1934. erschienen. Gewidmet ist der Band „Der kommenden Kirche“, ein Motto, das den Verfasser als Deutschen Christen kenntlich macht, wie auch die Einleitung (1-3) zeigt. Zu Benz Christoph Auffarth: Frömmigkeit im protestanti­schen Milieu: Marburg während des Nationalsozialismus. In: Olaf Blaschke; Thomas Großbölting (Hrsg.): Was glaubten die Deutschen 1933-1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Campus 2020, 415-442.

[6] Schon CEs nicht gedruckte Dissertation phil. 1925 in Würzburg trug den Titel Der Kreuzzugsgedanke in Portugal.

[7] Christoph Auffarth, Irdische Wege und Himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer in religionswis­senschaftlicher Perspektive. (MPIG 144) Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002. In der Fragestellung treffend (Kein ‚Krieg des Papstes‘), in der Ausführung nur teilweise gelungen: Tim Weitzel: Kreuzzug als charismatische Bewegung. Päpste, Priester und Propheten 1095-1149. (Mittelalter-Forschungen 62) Ostfildern: Thorbecke 2019. Zum Kult des Erzengels Michael CE, Kreuzzugsgedanken S. 17; St. Georg 257.

[8] Schon Auffarth: „Ritter” und ”Arme” auf dem Ersten Kreuzzug. Zum Problem Herrschaft und Religion ausgehend von Raymond von Aguilers. in: Saeculum 40(1989), 39-55. Auffarth: Nonnen auf den Kreuzzügen: ein drittes Geschlecht? In: Das Mittelalter. Zeitschrift des deutschen Mediävisten­verbandes Band 21, Themenheft 1: Kreuzzüge und Gender, hrsg. von Ingrid Baumgärtner und Melanie Panse. Berlin: de Gruyter 2016, 159-176. mit der Unterscheidung der Teilnehmer und ihrer Interessen.

[9] Otto Gerhard Oexle: Staat – Kultur – Volk. In: Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918-1945. In: Peter Moraw; Rudolf Schieffer (Hrsg.): Die deutsche Medi­ävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern: Thorbecke 2005, 63-101. Auch von FR 128f zitiert, aber mit einem Vorbehalt gegenüber ‚Kulturgeschichte‘.

[10] Gleichzeitig erschien der Band (mit einen Beitrag von FR zu CE) Arno Mentzel-Reuters, Martina Hartmann, Martin Baumeister (Hrsg.): Das Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde 1935 bis 1945 – ein „Kriegsbeitrag der Geisteswissenschaften?“ (Monumenta Germaniae Historica. Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung 1) Wiesbaden: Harassowitz 2021.

[11] Die lesenswerte Biographie von Robert E. Lerner, Princeton 2017 ist auch übersetzt Stuttgart: Klett-Cotta 2020. Eine Sammlung seiner Aufsätze mit einer vorzüglichen Einleitung von Johannes Fried: EHK: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums. Stuttgart: Klett-Cotta 1998.

[12] Dazu 154f, II 39 (Brief 8).

[13] Da das oft unbekannt ist bei der Beurteilung der Nähe zum Nationalsozialismus: Angewidert von der gewaltigen Nachfrage nach einen Parteieintritt verbot Goebbels vom Mai 1933 an den Eintritt in die NSDAP. Erst ab 20. April 1937 wurde das Verbot aufgehoben. Dafür schrieben sich die, die eine Stelle im Staatsdienst haben wollten (nicht nur die Karrieristen), in anderen Organisationen der NSDAP ein wie Dozentenbund, Lehrerbund, Automobilisten,…

[14] Auffarth: Drittes Reich. In: 20. Jahrhundert. Hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449, bes. 121f.

[15] FR 331. Anne C. Nagel hat das Zuschieben von Posten nach 1945 beschrieben: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. (Formen der Erinnerung 24) Göttingen 2005, meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 104(2006 [2007]), 391-394. Zu Theodor Mayer die Biographie von Reto Heinzel, Paderborn: Schöningh 2016. Sehr gut die Wissenschaftsbiographie zu Percy Ernst Schramm von David Thimme: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Göttingen: V&R 2006. Meine Rezension in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106(2008), 255-257. Zu dem von Schramm unfair angegriffenen großen französischen Mediävisten hat großartig Ulrich Raulff geforscht und dargestellt: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995.

Neuwirth: Spätmittelmekkanische Suren

Hg.: Angelika Neuwirth

Der Koran. Band 2.2: Spätmittelmekkanische Suren.
Von Mekka nach Jerusalem. Der spirituelle Weg der Gemeinde
heraus aus säkularer Indifferenz und apokalyptischem Pessimismus.

Handkommentar mit Übersetzung von
Angelika Neuwirth und Dirk Hartwig.

Berlin: Verlag der Weltreligionen 2021

ISBN 978-3-458-70057-9

52 €

 

 

Der Kampf um Jerusalem:
Historische und ideologische Eroberungen,
gespiegelt im Entstehungsprozess des Koran

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Dringend nötig war ein guter Kommentar zum Koran. Aber dieser von Angelika Neuwirth ist so exzellent, wie ihn niemand erwarten konnte. Basierend auf der umfassenden Grundlagenforschung des Corpus Coranicum, zu dem sie viele kreative Beiträge geleistet hat, setzt sich dieser dritte Band mit der Zeitgeschichte auseinander. Während die Sassaniden 614 Jerusalem physisch erobern, gewinnt der Koran Jerusalem als sein (erstes) geistiges Zentrum.

Ausführlich: Lange erwartet erscheint jetzt der dritte Band des Handkommentars zum Koran, das international herausragende Werk, das den Koran wissenschaftlich erschließt, genau zu dem Zeitpunkt, da der Bedarf nach solch einem Grundlagenwerk sehr hoch ist, und trotz wichtiger anderer Werke alle bei weitem überragt.

Angelika Neuwirth hat das Grundlagenwerk des Corpus Coranicum konzipiert, die arbeitsteilige Forschung aufgestellt, fähige MitarbeiterInnen gefunden und öffentlich zugänglich gemacht als noch nicht abgeschlossenes, aber in ständiger Bearbeitung und Erweiterung begriffenes Instrument. Für solche Großprojekte, die die Arbeitskraft einer Einzelforscherin überschreiten, waren die Akademien der Wissenschaft gegrün­det worden. Das Corpus stellt die Forschungen zum Koran auf eine neue, stabile Grundlage der historisch-kritischen Forschung, wie sie für die Hebräische Bibel und ihre griechische Übersetzung zwar schon lange im Gang ist, aber gerade neu unternommen wird.[1] Für die kritische Textgrundlage des Neuen Testaments hat die Arbeit Kurt Aland vor langer Zeit angestoßen, die Ergebnisse erschei­nen jetzt gedruckt nach und nach. Das heißt, auch für die beiden Teile der Bibel ist die Arbeit an einer kritischen Ausgabe (wieder) in vollem Gange. – Die Ergebnisse des Corpus Coranicum sind sofort über das Internet abrufbar. Dort heißt es einleitend: „Das Vorhaben macht [1] die frühen Handschriften in Bild und Text zugänglich. Parallel zur schriftlichen Textüberlieferung wird [2] die islamische Lesarten­literatur systematisch dargestellt. Damit liefert Corpus Coranicum erstmals eine historisch gesicherte Textbasis. Aufbauend auf der historisch-kritischen Erschließung der Textgeschichte erstellt das Vor­haben [3] einen chronologisch-literaturwissenschaftlichen Kommentar, unter Verwendung der Datenbank [4] „Texte aus der Umwelt des Korans“ (TUK); so wird erstmalig die Entwicklung der islamischen Urgemeinde als Interaktion zwischen dem Propheten und ersten Adressaten in Mekka und Medina rekonstruiert.“

Wie die früheren Bände (die ich auf dem gleichen Blog besprochen habe.)[2] umfasst der Band nach der Einleitung (19-59) und erschlossen durch eine sehr genaues Register einschließlich eines analytischen Sachregisters für beide Bände 2/1 und 2/2, dem Literaturverzeichnis, einer Liste der sekundären Zusätze für jede der elf Suren dieses Bandes folgendes: Wie in den vorausgehenden Bänden wird jede Sure erst einmal in (wissenschaftlicher) Umschrift des arabischen Textes präsentiert, dann in ein klares modernes Deutsch übersetzt (was schon viele Entscheidungen zur Interpretation voraussetzt). Ein Abschnitt Textkritik, dann eine Gliederung der Sure ‚Komposition‘. Die Proportionen der Verse, der kursorische Verskom­mentar. Und eine zusammen­fassende Analyse und Deutung. Die sprachlichen Erklärungen einzelner Begriffe und Wörter sind jetzt integriert in den Kommentar.[3] Abschließend eine surenspezifische Bibliographie.

Die These von AN mit dem Begriff des Prätextes ist ja, dass der Koran „in einem gemeinsa­men Denkraum der Spätantike“ entstanden ist, in dem neben altarabischer Dichtung vor allem die religiösen Gottesdienste der monotheistischen Gemeinden der Ausgangpunkt waren, aus dem dann die neuen Texte des Islam formuliert wurden. Diese Intertextualität beruht also nicht, wie der Koran an einigen Stellen vorgibt und in fundamentalistischen Interpretationen absolut gesetzt wird, einzig auf dem Propheten Mohammed, der unmittel­bar Offenbarungen empfing und (wie?) niederschrieb, sondern ist die ‚Fortschreibung‘ von Rezitationen und Gesängen monotheistischer liturgischer Gebete, Psalmen, Sprüche, also kreative Arbeit der Gemeinde; der Prophet als ‚Autor‘ rückt in den Hintergrund.[4]

In den mittelmekkanischen Suren, die AN jetzt noch einmal unterteilt in frühe und späte, setzt eine ‚Biblisierung‘ des altarabischen Weltbildes ein, also eine intensive Aufnahme, Übernahme, Korrektur, noch nicht so sehr eine Abgrenzung, wie sie dann in Medina einsetzt.[5] Die späteren mittelmekkanischen Suren nehmen die aktuelle Zeitgeschichte auf, nämlich die grundstürzende Machtverschiebung, als es den sassanidischen Persern gelang, im Jahre 614 Jerusalem zu erobern und die Reliquie des Heiligen Kreuzes als Beute weg­zuschleppen. Darauf reagierten viele Christen mit der Vorstellung, die Apokalypse sei nunmehr im Gange (und 20 Jahre später setzten sie dieses Interpretationsmuster nach der islamischen Eroberung fort).[6] In Mekka hingegen lehnte man diese pessimistische Diagnose der Gegenwart ebenso ab wie den Messianismus. Die Suren der Zeit zeichnen vielmehr das Bild des gerechten Herrschers (David, Salomon, Alexander der Große) als Auftrag an den aktuellen byzantinischen Kaiser Herakleios.

Der dritte Band des Handkommentars fasst sehr prägnant zusammen, was in der großen Forschungsarbeit und mit vielen Mitarbeitern im Corpus Coranicum erarbeitet wurde. Aber, viel mehr noch, in Entwicklung der Konzepte des Koran aus dem ‚gemeinsamen Denkraum der Spätantike‘ hat AN die Aufeinanderfolge der Suren erklärt: Sure 17 ist eine der großen ‚Programm setzenden Suren‘ (55), deren Themen dann in den folgenden Suren in anderen Schwerpunktsetzungen differenziert werden. Die „Nachtreise“ lässt in einer Vision den Propheten von Mekka aus das ‚ferne Heiligtum‘ sehen ‚im gelobten Land‘. Später wird die Episode ausgemalt als Wunder-Reise auf einem Reittier mit Menschengesicht, das in einer Nacht Mohammed die fast 1500 km hin und die gleiche Strecke zurück trägt. In Jerusalem warten die Stifter der anderen Religionen schon, damit er, der Jüngste, als Vorbeter das Ge­bet anleite. In der gleichen Nacht wird die Religionsgeschichte mit einer letzten Offenbarung vollendet, indem Gott dem Mohammed alle Geheimnisse des Himmels und der Erde zeigt. Vor der Gottesaudienz steigt Mohammed auf einer Stufenleiter (mirağ) über alle sieben Himmel auf, besucht und spricht mit den dort aufgenommenen Helden der älteren Religi­onen. Aber nur ihm, als einzigem Menschen wird der direkte Zugang zu Gott gewährt.[7] In der Sure 17 ist das alles ohne die Materialisierung in Vorstellbar-Unvorstellbares gestaltet. Die Sure 17 ist eine der bedeutendsten Suren, in der sowohl der Eintritt des Islam in die Weltgeschichte der Religionen und sein Anspruch als die letzte und höchste Offenbarung unter den monotheistischen Weltreligionen ausgesprochen wird: Jerusalem als erstes Zentrum des Judentums, des Christentums, ja als Nabel der Welt, wird nun auch das Zentrum des Islam. Erst später werden sich die Muslime zum Gebet nach Mekka wenden; Jerusalem ist die erste qibla (Gebetsrichtung). Die Entrückung erfolgt „nach dem fernen Heiligtum masjid al aqsa in dem von Gott gesegneten Land“. Diese Umschreibung, die später auf die Al-Aksa-Moschee und den Felsendom auf dem Tempelberg in Jerusalem im Heiligen Land festgelegt wird, versteht AN als zugleich irdisches und transzendentes Heiligtum, das oszilliert zwischen Himmel und Erde (46; vgl. 796; in der Sure selbst sieht AN 87 in der An­fügung der Verse 82-111 eine kritische Diskussion). Die Differenz zu dem steingebauten Tempel/ Moschee macht die Sure 17 deutlich, indem der jüdische Tempel als Ruine vorge­stellt wird (55; Q 17:7, S. 105f).[8] Nicht weniger als 140 Seiten umfasst die Kommentierung dieser programmatischen Sure, die Jerusalem zum ersten Zentrum der neu entstehenden Religion setzt. Als Titel wählt AN, anders als in der Einleitung, wo sie „Nachtreise“ genannt wird, „Der Auszug“, um an Moses, den Aufstieg zum Sinai, die Übergabe des Dekalogs (Q 17:22-39, S 189-200) anzuschließen, also an die Geburtsstunde der jüdischen Religion (99-102; 186-189).

Ein gutes Beispiel für den ‚gemeinsamen Denkraum‘ ist die etwas isoliert dastehende Sure 18, ‚die Höhle‘ (S. 751-860; also noch einmal 110 Seiten), in der es um Wunder geht. Die Sure gibt Rätsel auf, welches der durchgängige Faden sei – oder ist sie ein Textglomerat? Anders als die vielen Bearbeitungen dieser Sure folgt AN ihrem Prinzip der Verbindung der Sure mit vorausgehenden und folgenden Suren (779. Alttestamentler würden sagen kanonische Leseweise). Außergewöhnlich ist, dass hier nicht biblische Gestalten vorgestellt werden, sondern aus der Alexanderlegende (844; der Name wird nicht genannt, sondern sein Bei­name, der „Zweigehörnte“, also Alexander der Große, der sich mit dem Ammon-Orakel in Ägypten identifiziert als Zeus Ammon mit Widderhörnern) und die Siebenschläferlegende.[9] Diese Geschichte wird gar nicht ganz erzählt, man muss sie eigentlich schon kennen:[10] [In Ephesos] werden die Christen in der Christenverfolgung des Kaisers Decius mit dem Tode bedroht. Sieben junge Männer verstecken sich in einer Höhle (daher der Name der Sure) und werden dort eingemauert. Als sie wieder aufwachen, geht einer von ihnen Brot kaufen. Als er bezahlen will, weist die Bäckerin das Geld zurück: Das Geld ist völlig veraltet, genau gesagt, sie haben 187 Jahre (so die christliche Legende) bzw. 309 Jahre (Q 18:25) in der Höhle geschlafen. Gott hat die Monotheisten gerettet und sie wiederauferweckt, wie das Christen, Juden und Muslimen verheißen ist als Leben im Paradies. Man baut eine Märtyrerkapelle über ihnen. Die Aufnahme der Legende im Koran (788-799) ist polemisch, ironisch und bei der Zahl der Eingeschlossenen geradezu eine Persiflage (Q 18:22) „der Hund mitgezählt oder nicht?“ Die Sure depotenziert die christliche Wundergeschichte mit allen übertriebenen Mirakeln (cadjaba 798) und fordert die Solidität, die ‚Geradeausgerichtetheit‘ der Schrift (als Buch kitab). Übrig bleibt das Wunder der Auferweckung der Toten. Der durchgehende Erzählfaden der Sure ist die Eschatologie, in die auch die Reitervölker aus dem Norden, Gog und Magog, gehören (846-856), die Alexander (in der Legende) in einem Tal eingesperrt hat, aber die Mauer (oder eisernen Tore) werden am Ende doch nicht halten. So wichtig mächtige Kaiser sind, sie haben doch nicht die apokalyptische Qualität eines Endkaisers.[11]

Wissenschaft der Extraklasse erklärt den Koran auf sehr prägnante Weise, fast nebenbei die arabischen Begriffe, ihre Gegenbegriffe im Hebräischen und im Griechischen der beiden anderen monotheistischen Religionen. Aber faszinierend, wie die innere Entwicklung der Entstehung des Koran nicht nur mit den Schwesterreligionen zusammen geführt wird und schließlich die Zeitgeschichte der Eroberung Jerusalems reflektiert wird, dabei aber auch entdramatisiert gegenüber Apokalyptik und Messianismus.

 

Bremen/Wellerscheid, 23. Februar 2022                                                   Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail:
auffarth@uni-bremen.de 

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[1] Dazu etwa meine Rezension Mehrsprachigkeit in der Migration: Das Beispiel der griechischen Übersetzung (Septuaginta) der Hebräischen Bibel. Eberhard Bons; Jan Joosten (Hrsg.):  Die Sprache der Septuaginta. (Handbuch zur Septuaginta Band 3) [LXX-H 3] Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus [2016]. In: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/08/24/die-sprache-der-septuaginta/ (24.8.2017). – Hans Ausloos, Bénédicte Lemmelijn (Hrsg.): Die Theologie der Septuaginta / The Theology of the Septuagint. (Handbuch zur Septuaginta 5) Gütersloh: GVH 2020. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2021/05/16/theologie-der-septuaginta/ (16.5.2021).

[2] Den Bänden des Handkommentars ging voraus das Buch, das viele Grundzüge der Forschung schon vorstellte, gewissermaßen als Einführung: Der Koran – als historisch-spätantiker Text gelesen und erklärt:

– Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike 2010.  http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/03/01/der-koran-als-text-der-spatantike-von-angelika-neuwirth/ (1.März 2011). –

– Endlich: ein Kommentar zum Koran. Der Koran – Handkom­mentar mit Übersetzung von Angelika Neuwirth. Bd. 1: Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011  (4.Dezember 2011) : https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2022/03/24/fruehmekkanische-suren/ 

Der Koran 2.1: Frühmittelmekkanische Suren. Angelika Neuwirth. Berlin: Suhrkamp 2017. https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/03/12/neuwirth-fruehmittelmekkanische-suren/  (12.3.2019).

[3] Wie sich der Kommentar jetzt von den beiden vorausgegangenen unterscheidet, weniger arabistische Worterklärung, mehr Wert auf den argumentativen Kontext, wodurch auch die Deutung der Einzel­wörter begründet wird, S. 26-30. Zum Mitarbeiter-Team, darunter dem Judaisten Dirk Hartwig als Koautor S. 29.

[4] Während Reinhard Schulze den „Ruf“ (so versteht er das Wort Koran) als Ausgangspunkt erkennen will (vgl. meine Rezension Die Entstehung des Koran und die Genealogie des Islam. Reinhard Schulze, Genealogie des Koran 2015, in: http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2017/01/07/schulze-der-koran-und-die-genealogie-des-islam/ (7.1.2017), umgeht AN diese These der Inspiration weitgehend und übersetzt Koran mit „Rezitation“. Da sie die Diskussionen in ihrem Studium und Vorlesungen in der arabischen Welt in Beirut, Jeru­salem, Kairo sehr genau kennt, enthebt sie sich der hitzigen, aber fruchtlosen Auseinandersetzung, indem sie für ihre Forschung „einen europäischen Blick“ beansprucht, gleichzeitig aber auch an die muslimischen Kommentare und an ältere Arbeiten islamischer Gelehrter anknüpft. Vgl. den FAZ-Artikel von ihr u.a. „Corpus Coranicum“: Koran, aber im Kontext – Eine Replik – Debatten – FAZ.

[5] Während der Koran in der Rezension des Uthmar eine Reihenfolge im Wesentlichen nach der Länge der Suren vornimmt, haben Theodor Nöldeke (1836-1930), Friedrich Schwally (1863-1919) und Gotthelf Bergsträsser (1886-1933) eine historische Reihenfolge erkannt und begründet, die sich bis heute weitgehend bewährt hat. In der zweiten Auflage der Geschichte des Qorâns von Theodor Nöldeke, zuerst Göttingen: Dieterich 1860, Teil 3 ; Die Geschichte des Korantexts. Leipzig: Dieterich ²1938. Ein OCR Digitalisat Geschichte des Qorāns: Die Geschichte des Qorāntexts (muhammadanism.org) (7.6.2021).

[6] Zu [Methodios‘] Apokalypse im 7. Jh. und ihrer Übertragung nach Latein-Europa durch Adso im 9. Jh. siehe Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem, Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Sicht. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 86-90. Vgl. AN 850f.

[7] Das wird in der Hebräischen Bibel dem Henoch zugeschrieben (Genesis 5,18-24), im Koran heißt er Idris. Seine Entrückung in den Himmel zu Gott hat eine reiche Literatur von Henochschriften hervor­gerufen, die aber in der christlichen Tradition zensiert wurden und nur an den Rändern (äthiopisch, slawisch) überliefert wurden. Die erzählerische Ausmalung der Nachtreise und der Himmelsleiter (auch ‚Himmelfahrt Mohammeds‘ genannt, aber das ist nicht vergleichbar) in der Biographie des Propheten von Ibn Ishaq (gestorben 787/88): in der deutschen Übersetzung von Gernot Rotter (1981, München: Goldmann 1988), 78-83 Nachtreise; 83-86 Himmelsreise.

[8] Die Zitierweise setzt sich durch: Q [für Qoran] Zahl der Sure, Doppelpunkt, Zahl des Verses (wie englischsprachig auch bei Bibelstellen üblich). – Das Projekt eines Wiederaufbaus des (jüdischen) Tempels negativ prophezeit in Q 27:4-8, S. 596.

[9] AN bezieht sich auf Hannelies Koloska, die einen weiteren (nicht genannten) Beitrag geschrieben hat in Tobias Georges (Hrsg.): Ephesos. Die antike Metropole im Spannungsfeld von Religion und Bildung (COMES Civitatum Orbis MEditerranei Studia 2) Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 361-374.

[10] Hermann Kandler: Siebenschläfer. Enzyklopädie des Märchens 12(2007), 662-666. Legenda aurea Nr. 101 (ed. Bruno Häuptli, FC, Freiburg: Herder 2014, 1306-1315) mit dem Streit, wie lange sie geschlafen hätten. Märtyrerkapelle. Der griechische Text ist in den Texten aus der Umwelt des Koran im Original. Übersetzung und Kommentar zu finden, wenn man Sure 18,9 eingibt: Corpus Coranicum (21.2.2022).

[11] Zu dieser Figur Hannes Möhring: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung. (Mittelalter-Forschungen 3) Stuttgart: Thorbecke 2000, der auch den Mahdi mit behandelt 375-414.

 

Origenes Homilien Josua

Origenes: Die Homilien zum Buch Josua.
Herausgegeben von: Marietheres Döhler und Alfons Fürst.

(Origenes, Werke mit deutscher Übersetzung 5)
Berlin: De Gruyter 2020

ISBN 978-3-11-044256-4

Weitere Rezensionen zu Origenes:
Unten eine Übersicht aller bisherigen Rezensionen von Christoph Auffarth zu den Origenes-Ausgaben!

 

Erlaubt Gott Grausamkeiten in einem ‚Heiligen Krieg‘?

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Origenes deutet die grausame Eroberung des ‚Gelobten Landes‘, wie sie das Josua-Buch erzählt, völlig um zu internen Kämpfen des Individuums gegen die Sünde. Im Gegensatz zu dieser Friedensethik verwendeten andere christliche Theologen aber den Josua-Krieg als Vorbild und Rechtfertigung für den ‚Heiligen Krieg‘.

Ausführlich:

Als ein weiterer (mittlerweile der zehnte)[1] Band dieser wichtigen Werkausgabe des bedeu­tenden frühen Theologen (‚Kirchenvaters‘) Origenes von Alexandria (185-254) enthält das Buch den Text und eine vorzügliche moderne Übersetzung der Homilien zum Josuabuch. Das Josuabuch ist verknüpft und verschränkt mit den Mose-Büchern des Pentateuch und berichtet, wie Josua als Nachfolger des Moses dessen Auftrag zu Ende führt: Auf die Wüs­tenwanderung als Exodus aus Ägypten folgt die ‚Landnahme‘ des gelobten Landes, also die Inbesitznahme des Landes zwischen Jordan und Mittelmeer, von Beerscheva bis zum See Genezareth und den Quellen des Jordan (Dan). Die dort lebenden Menschen werden grausam getötet. Das Buch Josua ist aber viel später geschrieben als die fünf Bücher von Genesis bis Deuteronomium.[2]

Das Buch Josua diente den Juden, die die Shoa überlebt hatten und 1948 im Lande Palästina einen Staat gründeten, als eine geistige Landkarte (mental map). Mit dem Buch in der Hand löschte der Kartograph die bestehenden arabischen Namen aus, nachdem die Palästinenser aus den Dörfern verjagt waren, und ersetzte sie durch biblische hebräische Namen. Das Gebiet sollte nun Eretz Jisrael, das Land Israel sein.[3] So wurde die Landschaft nach der nakba, der gewaltsamen Vertreibung, überschrieben mit den alten biblischen Namen.[4] Tabula rasa, ausradiert. Das Buch Josua berichtet von der damaligen gewaltsamen Eroberung des Landes – mit entsetzlichen Gewaltszenen.

Obwohl Origenes (185-256 n.Chr.) nach seinem Konflikt in Alexandria, wo er eine hervor­ragende Ausbildung in Philosophie, besonders des Platon, durchlaufen hatte und dann selbst Schüler unterrichtete, dauerhaft in das ‚Heilige Land‘ übergesiedelt war, handeln die Homilien nicht vom Land Palästina. Was aber macht ein Theologe aus den Gewaltszenen der historischen Erzählung? Da ist ein herausragendes Beispiel die Eroberung der kleinen Stadt Ai in Kapitel 8: Mit Hilfe einer Kriegslist gelingt es den Israeliten, in die Stadt einzudringen. Sie töten alle Einwohner, Greise wie Babys, Männer wie Frauen. Die Stadt wird dem Erd­boden gleichgemacht, der König wird an einem Baum erhängt. Massaker reiht sich an Mas­saker. Wie kann man sich als Christ an solcher Brutalität, von Gott autorisiert als Geschenk des Landes an sein Volk, erbauen?[5] Kann man nicht. Origenes verkehrt den Wortlaut des Textes durch Allegorese in das Gegenteil. Statt von jüdischer Gewalt handele das Buch Josua von christlichem Friedenswillen. Konsequent ist Josua zu Jesus geworden.[6] Die Stadt Ai übersetzt er als ‚Chaos‘ (hom 8,2 p 186,8. hom. 9,1 p 200,1),[7] die Bewohner der Hölle töteten schon viele Christen. Die Aufgabe der Christen ist es, die Angriffe der Sünde und des Teufels abzuwehren. So wird aus dem Text der gewaltsamen Eroberung und Tötung der Einwohner, die dort gewohnt haben, in seinen 26 Homilien Handlungsanweisungen für den täglichen Kampf des Christen gegen die Sünde. Nur wenige Absätze sind der theologischen und philosophischen Reflexion gewidmet, für die Origenes so berühmt ist (35). Allerdings ist der durchgehende Gedanke der, dass der Mensch nicht ein statisches Wesen sei, sondern sich durch Handeln ständig dynamisch weiterentwickelt, durch die Freiheit des Willens. Das meint nicht eine politische Freiheit (mit der Ausnahme der Sklaverei, 37), meint nicht tätige Mitarbeit an der Pax Romana, an Macht im römischen Imperium. Dafür können Christinnen und Christen allenfalls beten. Viel Mühe verwendet Origenes in der Homilie 23 darauf, zu erklären, warum Josua das Land verteilte durch Losentscheid, also durch Zufall, nicht durch freien Willen (39-41; p 372-387). So wird aus der historischen Erzählung eines brutalen Eroberungskrieges, der von Gott angeordnet wurde, die Friedensethik spiritualisiert und internalisiert auf Individuen. In Kapitel 4 ordnen Döhler und Fürst die Predigten des Origenes ein in die jüdische und christ­liche Exegese (42-63), wobei das Josuabuch für die Entwicklung des Konzepts des ‚gerechten‘ Krieges‘ oder gar des ‚Heiligen Krieges‘ in der späteren Auslegung zum zentralen Bibeltext wird (53-63). Dieser Abschnitt erklärt hervorragend, dass die Lehre von gerechten Krieg bei Augustinus sich an die römische (stoische) Lehre hält vom gerechten Grund für den Krieg und als Ziel den Frieden hat (bei Cicero allerdings dazu verwendet wird, den römischen Imperialismus zu rechtfertigen; das Imperium sei ausschließlich durch Verteidigungskriege gewachsen).[8] Bei der Auslegung des Josuabuches aber bemerkt Augustinus, dass all diese Kriterien dort nicht zutreffen.[9] Also begründet er den Heiligen Krieg: Wenn Gott den Krieg befiehlt, handeln die Israeliten gehorsam gegenüber Gott (und begehen diese Grausamkei­ten).[10] Allerdings seien diese Kriege seit dem Neuen Testament nicht mehr denkbar, denn „Selig sind die Friedensstifter.“ Die Idee, dass Christus ein Friedensreich gestiftet hat, schließt Kriege aber nicht aus. Die Kreuzfahrer verstanden sich nach dem Modell sowohl der Makkabäer wie der (Wieder-) Eroberung des Gelobten Landes wie einstmals Josua.[11]

Die übrige Einleitung 64-80 erläutert die Entstehung und Überlieferung der Josua-Homilien. Von den Homilien ist der originale griechische Wortlaut verloren, abgesehen von den wenigen Originalzitaten, die anders überliefert sind. Erhalten ist (wie bei den meisten Texten des Origenes) nur die spätantike lateinische Übersetzung des Rufinus. Zur deutschen Über­setzung gilt auch hier: Die Autorin und der Autor verstehen zunächst genau, was der Wortlaut meint. Wenn der Sinn des Satzes in der Argumentation erkannt ist, bemühen sie sich, den Sinn in ein gutes Deutsch zu übersetzen, ohne sich weit von dem Wortlaut zu entfernen.[12] Ein wichtiges Beispiel erläutern die Autorin und Autor: Es geht Origenes nicht um die ‚gerechte Sache‘ (egal dann mit welchen Mitteln), sondern um ‚auf gerechte Weise zu handeln, zu kämpfen, zu herrschen‘ (55). Töten ist einem Christen grundsätzlich verboten. Anders Augustinus.

Bleibt noch das Register zu loben und Veränderungen vorzuschlagen. Erstens ist – nach den Bibelstellen (431-444) – die dichte Vernetzung innerhalb des Gesamtœuvres des Origenes herausragend (445-456), sodann ist ein Register gemeinsam von Namen und, anspruchsvol­ler, aber sehr nützlich, der Sachen. Da gibt es Stichwörter, die gut untergliedert sind, wie „Krieg“ oder „Gott“, aber auch Stichwörter mit 60-86 („Seele“) Belegen ohne Untergliede­rung. Das ist wenig hilfreich. Das Stichwort „Chaos“ habe ich vermisst.

Man liest die Homilien mit großem Gewinn in einer vorzüglichen Übersetzung, die sowohl den Sinn des Textes wiedergibt als auch in einem zeitgemäßen Deutsch (Zielsprache), das gleichwohl dem Wortlaut des Originals nahe bleibt. Die Einleitung spricht alle relevanten Fragen an, belegt sie im Werk des Origenes und verfolgt die weitere Auslegungsgeschichte. Vorzügliche Wissenschaft!

Bremen/Much, September 2021

Christoph Auffarth
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Zu allen Bänden meine Rezensionen, zuletzt: Weg mit der Hölle! Origenes legt den Propheten Jeremia aus. Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona. 2018. In: https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2019/04/04/origenes-die-homilien-zum-buch-jeremia/. (4.4.2019). Zur Arbeit der 2008 gegründeten Forschungsstelle an der Universität Münster :  H i e r   (27.9.2021).

[2] Ernst Axel Knauf; Hermann Michael Niemann: Geschichte Israels und Judas im Altertum. Berlin: De Gruyter 2021, 74-111. Sie ordnen die ‚Landnahme‘ zeitlich ein von etwa 1130 bis 950/900, bis zu den ersten Königen. Christian Frevel: Geschichte Israels. Stuttgart: Kohlhammer 2016, 66-92. Zum Josua-Buch Anton Cuffari: Josua/Josuabuch. WiBiLex 2006 (h i e r  online). Georg Hentschel: Das Buch Josua. In: Erich Zenger [u.a.]: Einleitung in das Alte Testament. Stuttgart: Kohlhammer 92016, 255-266.

[3] Vom Sohn des Kartographen beschrieben Meron Benvenisti: Sacred landscape. The buried history of the Holy Land since 1948. Berkeley, CA: University of California Press 2000. Vgl. Sholomo Sand: Israel – ein Staat ohne Volk? Eine Provokation. Sholomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel 2012. Meine Rezension:  https://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2013/07/11/die-erfindung-des-landes-israel-mythos-und-wahrheit/ Anne Rohrbach: Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten. Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“. Bielefeld: transcript 2017 [Diss. Bremen 2016].

[4] Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel. München: Beck (2002) 52006.

[5] ‚Erbauung‘ griechisch οἰκοδομή oikodomé, lat. aedificatio (hom 8,2. p 186,5) 200 Anm. 170. Das Erbauen ist im ersten Petrusbrief (1 Petr. 2,5) so erklärt, dass die Christen ‚lebendige Steine sind, aus denen Christus den Tempel (die Kirche) erbaut‘ (hom 9,1. p 200,14).

[6] Das ist das gleiche hebräische Wort Jehoschua: „JHWH wird helfen“.

[7] Im Folgenden zitiere ich hom (= Homilia in Josuam) Nummer, Absatz, in der vorliegenden Ausgabe p (=pagina, Seite) und Zeile. S. 187 Anm. 150 ist die Etymologie erklärt, die die christlichen Kirchen­väter gefunden haben. Religionswissenschaftlich s. Auffarth: Chaos. HrwG 2(1991), 193-195.

[8] Augustinus beruft sich De civitate Dei 22,6 auf Cicero, De re publica 2,31; 3,35 sowie De officiis 1,34-37.

[9] Augustinus, quaestiones in Heptateuchum 6

[10] Rüdiger Schmitt: Der „Heilige Krieg“ im Pentateuch und im deuteronomistischen Geschichtswerk. (Alter Orient und Altes Testament 381) Münster: Ugarit-Verlag 2011. Meine Rezension Der Gott des Krieges? Rez. zu Rüdiger Schmitt: Der „Heilige Krieg“ 2011. http://blogs.rpi-virtuell.de/buchempfehlungen/2011/06/22/der-heilige-krieg-im-pentateuch-und-im-deuteronomistischen-geschichtswerk-von-rudiger-schmitt/ (22.6.2011).

[11] Christoph Auffarth: Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 144), Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2002, 123-150.

[12] Die beiden gegensätzlichen Typen des wortwörtlichen (verbatim, verbum e verbo) und des Überset­zens dem Sinne nach (ad sensum) sind so glücklich einander angenähert.

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Origenes Werke in deutscher Übersetzung (OWD)

 

In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände.
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Stand: 02.06.22

 

Hans Blumenberg

Rüdiger Zill:
Der absolute Leser. Hans Blumenberg – eine intellektuelle Biographie.

Berlin: Suhrkamp, 2020.
ISBN 978-3-518-58752-2.
816 Seiten. Illustrationen, 38 €

 

Wie Weltbilder umstürzen.
Und die Gottesbilder mit ihnen:

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Philosophie mit Bodenhaftung: Hans Blumenberg (1920-1996) entwickelte in der Bonner Republik neue Fragen, sich mit der Moderne, Naturwissenschaft und Technik zu beschäftigen, aber ohne Fortschrittspathos, aber erst recht nicht mit der Verachtung des Geisteswissenschaftler für die Technik. Und wie Weltbilder sich in Metaphern wider­spiegeln und wie sie umstürzen.

Ausführlich:

Jugend: Erfahrung der Zurückweisung

Der Bruch zwischen der NS-Zeit und der Bonner Bundesrepublik im politi­schen System­bruch und andererseits der biographischen Kontinuität der vor 1930 Gebore­nen[1] stellte eine Generation vor fundamentale Fragen: Ich lebe, meine Kameraden, Schul­freunde sind gefallen – für was? War das, was unter Hitler alle gaben, geben mussten, falsch? Ist die deutsche Geistesgeschichte der „Dichter und Denker“ untergegangen in den Tätern der Euthanasie, des Genozids an Juden, Roma, des Mordes an Homosexuellen, an den Kom­munisten und Sozialis­ten; mehr noch die deutsche Philosophie insgesamt: Kant, Hegel, Heidegger. Heidegger, der sich zum Steigbügelhalter der Wissenschaften im NS anbot?

Hans Blumenberg ist eine Biographie eines Philosophen, der als Jugendlicher den NS erlebte, aber nicht als Gewinner für seine Karriere, im Gegenteil, der mit neuen Themen zu Natur­wissenschaft und Technik der Philosophie neue Wege wies und dennoch etwas zur „be­schwiegenen“ Aufarbeitung des Nationalsozialismus beitrug.[2] 1920, also vor hundert Jahren geboren in der Hansestadt Lübeck, in einem ein Milieu, das der ebenfalls dort geborene Thomas Mann (1875-1955) beschrieb in den Buddenbrooks (1901). Der Vater ein Katholik im fast ausschließlich lutheranischen Lübeck, die Mutter evangelisch getauft aus jüdischem Hause, der Sohn in beider Hinsicht Außenseiter. Als der herausragende Abiturient die Abitursrede halten sollte, intervenierten die intellektuell unterlegenen Nazis der Nachbar­klasse beim NS-Rektor: ein „Halbjude“ dürfe nicht die repräsentative Rede als Primus halten! Blumenbergs Rede trägt sein Freund vor. Wie kann man 1939, auch wenn man ‚nicht dazu gehört‘, Hitler umgehen? Indem man ihn umdeutet: Hitler als Humanist. Beides interpretiert RZ[3] als Lebensthemen Blumenbergs: Kampf gegen das Zurückgesetzt Sein und umdeuten statt zurückweisen. Den Krieg überstand Blumenberg in einer kriegswichtigen Industrie, dennoch wurde er noch zu einem Arbeitslager eingezogen und tauchte anschließend unter. Die Dissertation zum Seinsbegriff in der Scholastik, eigentlich aber eine Auseinandersetzung mit Heidegger, blieb ungedruckt,[4] ebenso die Habilitation, mit der er seinen eigenen Lehrer unter Druck setzte.

Die Dissertation jetzt gedruckt

Siebzig Jahre nach der Fertigstellung ist die Dissertation von 1947 jetzt erstmals gedruckt. Das war durchaus üblich, dass Dissertationen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gedruckt wurden, sondern nur auf der Schreibmaschine mit je einem Kohlepapier dazwischen in drei, maximal vier Exemplaren geschrieben wurden. Mehr Exemplare waren nicht möglich, das Kopieren auf Xerox noch nicht erfunden. Das Titelblatt ist abgebildet S. 9: Es enthält die üblichen um­ständlichen Angaben, nicht zuletzt den akademisch-sperrigen Titel „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie.“ Auf die 107 eng beschrie­benen Seiten (im Druck 192 Seiten) folgt der obligatorische Lebenslauf. Eigent­lich hätte Blumenberg noch länger studieren müssen, deshalb erwähnt er seine Semester an den katho­li­schen Hochschulen in Paderborn und v.a. an der Jesuiten-Hochschule in St. Geor­gen, bei Frankfurt mit seinem Lehrer Caspar Nink. Für das Thema Ontologie und Scholastik die harte Schule, mittelalterliche Philosophen und ihre lateinischen Begriffe lesen zu müssen (auf Latein natürlich), in der Bibliothek, weil es kaum ältere Bücher zu kaufen gab. Schlägt man aber das Inhaltverzeichnis auf, dann wird einem deutlich: Das ist keine historische Untersu­chung zur Scholastik, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Seins und der das Sein verfehlenden Seienden Dinge, wie das Martin Heidegger (1889-1976), Star der Philosophen und Befürworter des Nationalsozialismus, in seiner berühmten Studie Sein und Zeit 1927 getan hatte.[5] Da kann Blumenberg all seine Kenntnis brillieren lassen von Aristoteles über die Scholastiker bis zu den großen Philosophen der vorigen Generation, v.a. Husserl. Da kommen starke Sätze vor wie S. 40 „Hier ist der kritische Punkt erreicht: Soll auch jetzt die Geltung von Offenbarung und natürlichem Wissen je unangetastet bleiben, dann kommt als Konsequenz nur die absolute Trennung von Theologie und Philosophie infrage, die Annahme einer doppelten Wahrheit und damit auch der Wirklichkeit. Das ‚Jenseits‘ verliert damit seine ontologische Valenz, es wird eine ‚Sphäre‘ eigenen ontologisch nicht mehr aufklärbaren Wirklichkeitsranges; wobei die modernen Folgerungen gar nicht mehr fernliegen.“ Und beruft sich dafür auf Thomas von Aquin. Das klingt schon nach der Legitimität der Neuzeit.

Die Legitimität der Neuzeit

Als mit 45 Jahren sein erstes Buch erschien, war Blumenberg schon gefragter Professor. Dann sein erstes dickes Buch 1966, Die Legitimität der Neuzeit. Das Buch will beweisen, dass die Vorwürfe nicht zutreffen, die Neuzeit habe illegitimer Weise die auf Gott bezogenen Werte und das mittelalterliche theonome Weltbild einfach für die immanente Welt der Neuzeit gekapert und den Menschen zum autonomen Gestalter der Geschichte erhoben.[6] Promi­nenter Vertreter waren der katholische Rechtswissenschaftler Carl Schmitt, der in seiner (ersten) Politische(n) Theologie 1922 den Satz aufgestellt hatte: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatstheorie sind säkularisierte theologische Begriffe.“[7] Brisanter noch war aber das Büchlein Meaning in History, das aus dem Perspektivenwechsel seines Exils in Japan und Chicago, in das die Nazis ihn, den protestantisch getauften „Juden“, aus seinem Amt ver­trieben hatten, Karl Löwith, schrieb. Seine Einordnung des Nationalsozialismus nicht gegen die Geistesgeschichte der Neuzeit, sondern als deren Höhepunkt, war maximale Provokation. In der Neuzeit hätten Philosophen das trinitarische Geschichtsbild einfach gestohlen, indem sie Gott entfernten.[8] Aber schon die christliche Anmaßung, der Geschichte eine Bedeutung und ein Ziel zuzuschreiben (meaning in history),[9] sei der Anfang des Übels, an dessen Ende der Nationalsozialismus. Mit Nietzsche plädierte er dafür, dass Geschichte die ewige Wieder­kehr des Gleichen sei.[10] Das Buch war 1953 auf Deutsch erschienen,[11] 1962 nahm es der Philosophenkongress auf unter dem (ver­harmlosenden) Thema „Säkularisierung“ zur Diskussion. Blumenberg machte aus seiner Entgegnung ein Buch, das er dreimal verbesserte. Er setzt nicht beim Nationalsozialismus ein, sondern bei den, sagen wir, Geburtswehen der Neuzeit, bei Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno (der Nolaner), bei Copernicus und Galilei. Curiositas „Neugierde“ ist zwar aus hierarchischer Sicht gesehen, eine Sünde, hindert aber Wissbegierige, auch Kleriker, nicht daran, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wahrheit ist bezogen auf ein Weltbild. Wenn das Weltbild sich in einem Paradigmenwechsel ändert, dann gibt es neue Wahrheiten, natürlich nicht ohne massive Konflikte. Das Thema hätte man im Blick auf den NS unter Lebenden diskutie­ren könne; es wird aber ersatzweise an anderen Materien besprochen. Die Gegenwart des NS in den Biographien der wissen­schaft­lichen Größen war zu aktuell (und in der Öffentlichkeit noch unbekannt), als dass man Mitte der 1960er Jahre, vor den Auschwitz-Prozessen, so konkret über Täter und Ursachen hätte diskutieren können. Aus dem Buch wurden die drei Überarbeitungen von Blumen­bergs Legitimität daraus,[12] besonders Carl Schmitt hatte reagiert und Blumenberg nahm ihn als Antipoden ernst. – In der heutigen Diskussion geht man nicht mehr von einer Evolution vom Religiösen zum Säkularen aus, sondern mit Talal Assad[13] von einer Selbstän­digkeit des Säkularen von Anfang an neben dem Religiösen (s.o. zur Dissertation).

Begriffe oder Metaphern

Der gefragte Philosoph war auch bei den Planungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein wichtiger Teilnehmer, besonders den Plänen zu Begriffslexika.[14] Nur hatte Blumenberg eine kontroverse Ansicht: Begriffe, wie sie die großen Begriffslexika vorhatten, behinderten eher die Forschung. Statt im Vorhinein einen Begriff zu definieren, seine Bedeutungs-Verän­derung wis­senschaftsgeschichtlich festzulegen, sollte man besser von Metaphern ausgehen. Das, was keine Realität in der objektiven Welt hat, lässt sich nur in einer Metapher ausdrüc­ken: einem Bild der objektiven Welt, das in einem Bild, einem Gleichnis, das ausdrückt, was man damit meint. Das Jenseitige an der „Religion“ etwa lässt sich nur in Metaphern um­schreiben; wenn man sie definiert, ist der Gegenstand schon so begrenzt und mit Vorgaben gefüllt, dass das Ergebnis weitgehend feststeht.[15] Religionswissenschaft hat meist eine Defi­nition von Religion abgelehnt, weil man damit die eigenen Erfahrungen und Sozialisation zum Maßstab macht, den Monotheismus, dass Gott immer gut sei, dass er transzendent der Welt gegen­übersteht usf. Das trifft für viele Religionen nicht zu.

Metaphern, das hatte Blumenberg gezeigt, würden das Untersuchungsfeld öffnen und die Rolle der Rhetorik hervorheben. Das zeigte er in seiner Metaphorologie:[16]Schiffbruch mit Zuschauer 1979, Das Lachen der Thrakerin 1987,[17] Die Lesbarkeit der Welt 1989, Die Vollzähligkeit der Sterne 1997, Die nackte Wahrheit 2019[18] sind Beispiele für diese Methode der Wissenschaft.

RZ macht drei Durchgänge: Erst durch die Biographie, die sehr gut recherchiert ist: neben den Materialien, die im Nachlass Blumenbergs im Literaturarchiv in Marbach zugänglich sind, Gespräche mit der Tochter und früheren Mitarbeitern. Blumenberg selbst hat keine Selbstdarstellung gegeben. Dann stellt er die Arbeitsweise vor: die Leselisten, die Mappen mit Materialien, die Diktate zu Büchern, die er nur teilweise fertigstellte; es können noch einige Bücher ausgearbeitet und veröffentlicht werden. Darunter die wichtige Anthropologie Beschreibung des Menschen.[19] Der dritte Teil stellt vor, wie sich Blumenbergs Denken und Problemstellungen veränderten 1949 – 1961 – 1970 – 1980.

Bis auf den Druckfehler auf der Titelseite ist das Buch so gut wie fehlerfrei. Misslich ist, dass die vorzüglich informierten Anmerkungen hinter dem Text kapitelweise durchgezählt sind, aber nicht im Kolumnentitel die Seiten genannt sind, denen sie zuzuordnen sind. Man braucht also ein weiteres Lesezeichen. Die Klebebindung, Pappumschlag und Schutzum­schlag sind guter Qualität.

Wie Weltbilder umstürzen. Und die Gottesbilder mit ihnen.

Blumenberg hatte mit seiner großen Kenntnis gerade des Mittelalters schon den Mythos von der mittelalterlichen Philosophie differenziert, dass es ihr nur um den Gottesbeweis gegan­gen sei, dass die Philosophie die Magd der Theologie war. Andererseits entlarvte er den Mythos von der Neuzeit in doppelter Weise: Zum einen zeigte er, dass Wissenschaft an die jeweilige Wahrheit eines Weltbildes gebunden ist und erst wenn die Wirklichkeit die sozial geteilte Wahrheit überholt etwa durch gesellschaftliche Veränderungen, durch immer mehr Zweifel an der Richtigkeit, dann kann auch das Weltbild stürzen. Das erarbeitete er am ‚Kopernika­nischen Weltbild‘. Zum andern aber bestritt er die Gegenthese, dass die Neuzeit sich die mittelalterlichen Gottesprädikate angeeignet habe und sie illegitimer Weise auf den Menschen übertragen habe. Man kann da noch einem Schritt weiter gehen. Dass damit nicht das Gottesbild mit aufgegeben werden muss, sondern neben der Konfessionsreligion, auch in doppelter Wahrheit, in der Konfessionsreligion eine Rationalreligion transformiert.[20] 

Rüdiger Zill ist eine hervorragende Biographie gelungen zu einem der wichtigsten Denker der Bonner Republik. Äußerst lesenswert! Und dazu die Bücher von Blumenberg, die mich vom Beginn meines Studiums an begleiteten und begleiten.

 

Bremen/Much, November 2020                                               Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

 

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Der Bundeskanzler Helmut Kohl konnte für die gleich ihm 1930 und später Geborenen von der „Gnade der späten Geburt“ sprechen. Bei Kriegsende war er 15 Jahre und wurde nicht, wie die ein Jahr Älteren zum Volkssturm, dem letzten Aufgebot im Untergang befohlen.

[2] Zum älteren Kollegen Erich Rothacker, der mit Rassentheorie seine Karriere im NS machte, und Blu­menberg das im Nachruf nicht erwähnte, erklärte dieser: „Ich muss nicht das Weltgericht ausüben.“ (249) Grundsätzlich zur „Zweiten Geschichte des NS“, der misslungen und der gelungenen Aufarbei­tung der Zeit des NS und der gerichtlichen Sühnung, s. Auffarth, Drittes Reich. In: Handbuch Religions­geschichte des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Lucian Hölscher, Volkhard Krech. (Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, hrsg. von Peter Dinzelbacher, Band 6/1) Paderborn: Schöningh 2015, 113-134; 435-449; Farbtafel I nach S. 320; Literaturverzeichnis 542-553.

[3] Rüdiger Zill, geboren 1958, ist Referent am Einstein Forum in Berlin seit 1997. Er arbeitet u.a. am Nachlass von Blumenberg und gab Die nackte Wahrheit heraus.

[4] Jetzt hat Suhrkamp sie zum hundertsten Geburtstag doch gedruckt. Kurt Flasch hat in seinem Buch Hans Blumenberg: Philosoph in Deutschland: die Jahre 1945 bis 1966. Frankfurt am Main: Vittorio Kloster­mann 2017, ²2019 eindrücklich die Situation geschildert, die auch ihn als Katholiken betraf, der an einer philosophischen Fakultät arbeiten wollte (und nicht Philosophie an einer katholischen Fakultät lehren und forschen wollte). Für die dogmatischen Gebundenheit der katholischen Philosophie des Neu-Thomismus/Neu-Scholastik findet er nur Verachtung. – Die Anekdote, die Blumenberg Flasch über seine Zeit während des Krieges erzählte, ist zu schön, um wahr zu sein. RZ 30 und 90-113 hat die Zeit als Verfolgung und Angst rekonstruiert.

[5] Frühere Titelformulierungen benannten das explizit (219), etwa: Die ontologische Leistung der mittel­alter­lichen Scholastik, im Hinblick auf Heideggers Destruktion der traditionellen Ontologie.

[6] In der Neubearbeitung Säkularisierung und Selbstbehauptung des ersten und zweiten Teils der Legitimität wertet Blumenberg 1974 „Säkularisierung – Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts.

[7] Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München: Dunker und Humblot [1922] ²1934, 43-55. [Auszug in: Christian Frey (Hrsg.): Säkularisierung. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte. Berlin: Suhrkamp 2020, 434-446] Zur Auseinandersetzung Schmitts mit seinem Freund, dem gerade zum Katholizismus konvertierten Erik Peterson, s. Reinhart Koselleck, Carl Schmitt: Der Briefwechsel. Berlin: Suhrkamp 2019, 235-241.

[8] Blumenberg 1974 (wie Anm. 6), A. 268. Löwith habe in der Diskussion geäußert: „die oft mißverstan­dene Absicht [seines Buches] sei gewesen, die Unmöglichkeit einer autonomen Geschichtsphilosophie zu zeigen.“

[9] „Daß wir aber überhaupt die Geschichte im ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wissenkönnen und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszu­füllen vermögen. – Die Griechen waren bescheidener. Sie maßten sich nicht an, den letzten Sinn der Weltgeschichte zu ergründen. Sie waren von der sichtbaren Ordnung und Schönheit des natürlichen Kosmos ergriffen.“ (Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. = Sämtliche Schriften 2, 14).

[10] Etwa gleichzeitig hat der Religionswissenschaftler Mircea Eliade diese Geschichtsauffassung zum Grundprinzip der Religionen gemacht (Le mythe de l’éternel retour: archétypes et répétition. Paris: Galli­mard 1949. Deutsch: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr: Düsseldorf: Diederichs 1953. Als Taschenbuch Rowohlts deutsche Enzyklopädie 1966): Regelmäßig und im Neujahrsfest erinnert werde das Alte zerstört und im Chaos entstehe der Zauber des Neuanfangs.

[11] Die deutsche Übersetzung trug den Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart: Kohlhammer 1953. Zu benutzen im Band 2 der Gesammelten Schriften von Karl Löwith. Stuttgart; Weimar 1983, 7-239. Löwiths Autobiographie Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart: Metzler 1986. Fiala. Geschichte einer Versuchung. Berlin VTA 2019. Die Rezension zu Blumenbergs Legitimität in: Philosophische Rundschau 15 (1968), 195-209 (= GS 2[1983], 452-459). Dazu RZ 477: Blumenberg meinte, er sei dort fahrlässig missverstanden (vgl. Blumenberg 1974 (wie Anm. 5), 35-38).

[12] Erste Fassung 1966, Überarbeitung in den drei Taschenbuchbänden Der Prozeß der theoretischen Neu­gierde 1973, Säkularisierung und Selbstbehauptung 1974, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner 1976; erneute Ausgabe 1988.

[13] Talal Assad: Formations of the secular: Christianity, Islam, modernity. Stanford, CA: Stanford UP 2003.

[14] RZ 244-251. Auffarth, Allowed and forbidden words: Canon and Censorship in ‚Grundbegriffe’, ‚Critical Terms’, Encyclopaedias. Confessions of a person involved, in: Ernst van den Hemel; Asja Szafraniec (eds.): Words. Religious Language Matters. New York: Fordham UP 2016, 211-222; 546-550. – Zum Briefwechsel Blumenberg – Taubes s. meine Rezension http://buchempfehlungen.blogs.rpi-virtuell.net/2014/01/09/briefwechsel-blumenberg-taubes/ (9.1.2014).

[15] So erzählt Jesus die „Herrschaft Gottes“ βασιλεία θεοῦ in Gleichnissen aus der Alltagserfahrung. In dem von Auffarth und Hubert Mohr entwickelten Modell von Ebenen der Beschreibung kommt das Jenseitige vor als menschliche Rede von Eschatologie, Tod, Jenseits, Gott.

[16] Der lange Aufsatz „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ im Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 7-142, als Buch bei Suhrkamp 1989 ist jetzt zu verwenden mit dem Kommentar von Anselm Haver­kamp, Dirk Mende und Mariele Nientied. (Suhrkamp Studienbibliothek 10) Frankfurt am Main 2013.

[17] Ausführlich zu der Genese, Zurückweisung durch die Literaturwissenschaftler in der Gruppe Poetik und Hermeneutik 1976 und das Buch RZ 310-315.

[18] Hrsg. aus dem Nachlass von Rüdiger Zill.

[19] 2014 hrsg. von Manfred Sommer. Umfasst 918 Seiten.

[20] Wolfgang Eßbach: Religionssoziologie. Band 1. Paderborn: Fink 2014.

 

Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel

#origenes_bd7 (Page 1)Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst. (Origenes Werke Deutsch OWD 7) Freiburg im Breisgau: Herder 2014.

[ISBN:978-3-451-32908-1 ]

 

 

 

 

U n t e n  eine Übersicht aller bisherigen Rezensionen von Christoph Auffarth zu den Origenes-Ausgaben!

Die Hexe von Endor und andere Predigten von Origenes

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Kurz: Der Band 7 der Ausgabe der Werke des Origenes mit deutscher Übersetzung enthält sehr bezeichnende Texte des großen Theologen-Philosophen (185-254 n.Chr), die Alfons Fürst hervorragend einführt.

Ausführlich: Dank des Fleißes von Alfons Fürst ist ein weiterer Band von der Origenes‘ Werkausgabe erschienen, die Text und Übersetzung diesmal der Predigten zu den Samuel- und Könige-Büchern präsentiert. Das Glanzstück stellt die Predigt zu der Totenbeschwö­rung Königs Sauls mit Hilfe der Wahrsagerin (Luther nannte sie ungenau „die Hexe“) von Endor, 1 Sam 28, 3-25, besonders weil sie in der originalen Sprache des Origenes erhalten ist, auf Griechisch. Origenes hat die schwierige Aufgabe zu meistern, ob für Christen noch ein Hades existiert und wie das mit dem Abstieg des toten Christus in den Hades zu verstehen sei (Im Glaubensbekenntnis „hinabgestiegen in der Reich des Todes“; in der orthodoxen Osterikone zerbricht Christus dabei die Pforten der Hölle und führt heraus die Erzmütter und Väter, die an Christus glaub­ten, bevor er auf Erden auftrat). „Weniger berühmt, aber eine Perle aus der philosophischen Auslegung“ (Fürst, S. 3) ist die einleitende Predigt (in der lateinischen Übersetzung des Ru­finus), wo Origenes anhand der Phrase vir unus über seine eigene Rolle nachdenkt, die ihn, den einzigartigen Prediger und Intellektuellen in Distanz zur zuhörenden Gemeinde bringt. Wichtig die Methode der Auslegung in der Anm. 28 (S. 132f), dass O zwar erst den Text aus dem Text erklären will, aber wenn das nicht zu einem Ergebnis führt, dann breit auch andere wissenschaftliche Quellen hinzuzieht. Die Kinder des Elkana mit seiner einen Frau und dem späten Samuel mit Hanna bezieht O auf das Verhält­nis von guten Werken und Gnade (c.5; dazu Fürst in der Einleitung S. 50-59). In der praefatio zu der Predigt (Ende von c. 1, S. 122), die er ausnahmsweise in Jerusalem hielt, weiß er, dass die Worte des Bischofs, den er vertritt, immer die Worte eines sehr freundlichen Vaters lenissimi patris sind, er dagegen bittere Medikamen­te amara medicamenta mitgebracht habe. Seine strenge Moralpredigt ist zwar als heilsamer Tadel gemeint, aber hat wenig Erfolg und erzeugt den Abstand zur Gemeinde. In einem neu (2012) gefundenen Text bestätigt O die Notwendigkeit von eindeutiger Lehre, die Häresien verhin­dere (15). Die Predigt zum ‚einzigartigen‘ (s. 126 A. 19 zur philologischen Genauigkeit des O) Vater des Samuel gehört zu den seltenen Selbst­äu­ßer­ungen des Philosophen-Theologen, die ganz dem Einheitsdenken des spätantiken Plato­­nis­mus entspricht und die von den Christen jede Spaltung (schismata 1 Kor 1,10; vgl. die gut begründete Anm. 22 auf S. 130) zu verhindern verlangt.

Der aufregenden Geschichte von König Saul, der eine Totenbeschwörerin bittet, mit dem verstorbenen Propheten Samuel Kontakt aufzunehmen, und offenbar erfolgreich mit diesem magischen Ritual ein authentisches Jahwe-Orakel zu erhalten (1Sam 28), obwohl dies explizit gegen den Monotheismus verstößt (Deuteronomium 18,10f), widmet sich die griechisch erhaltene Homilie (Text und Übersetzung 202-237, Einführung 60-101). In der Umwelt, aber auch unter Christen war Magie offenbar Praxis, auch wenn rhetorisch massiv Ein­wände formuliert wurden. Während andere christliche Autoren behaupten, nicht Samuel sondern ein Dämon sei Saul erschienen, und scharfe Kritik an O.s Auslegung einsetzte (76-91), ver­weist O auf die Wahrheit des Totenorakels. Erstaunlich, wie in diesem Fall O den Text genau auslegt und auf den Wortlaut pocht, wo er doch sonst die Allegorese liebt. Sein Argument ist stark, das seiner Gegner schwach: Das, was der Toten­geist voraussagt, erweist sich als wahr. (Hier erklärt AF Wichtiges zur Frage der Inspiration: letztlich ist der Heilige Geist der Autor. 212 Anm. 18 + 21; S. 94f) Am Schluss bemüht O ein großes Argument für den nicht so schwer­wiegenden Text: Auch Christus stieg in die Unterwelt. Die katabasis, prominent im Glaubensbekenntnis, ist allenfalls angedeutet in der Bibel. Glänzend stellt AF in Anm. 457 (S. 97) fest: der biblische Bezug geht eher auf Apg 2, 25-31, wo Psalm 16,10 zitiert wird, denn auf 1Petr 3,19. Als gemeinsame Aussage stellt O fest den Propheten, der auch den Toten die Erlösung predigt.

Die Predigten sind Mitschriften. Ein sehr deutlicher Beleg ist der Vorfall in der lat. Homilie c.10 (S. 152, Z. 15ff), wo just in dem Augenblick, wo O von Hannas Jubel spricht, jemand unter den Zuhörern einen epileptischen Anfall bekommt. – Der Band ist auch wichtig für die (sehr fragmentarische) Überlieferung der Texte des Origenes. Sehr sorgfältig stellt AF das dar S. 102-114. Hier eine griechische Homilie neben einer lateinischen. Dazu ein Papyrus, der sich eher als Exzerpt herausstellt, und die Streitschrift eines anderen Theologen, Eusta­thios, die direkte Zitate enthält.

Nicht erhalten ist eine Predigt zu dem Urteil des weisen Richter Salomon, wobei Origenes in der Auslegung behauptet, die Mutter mit dem toten Baby repräsentiere die Juden, die mit dem lebenden Kind versteht er als Repräsentantin der Christen (Predigt zu Josua 3,4, zitiert S. 4 Anm. 4).

Wieder ein reicher Band mit höchst interessanten Texten, die AF mit seinen Einführungen und den knappen Kommentaren sowohl in das Werk des Origenes einfügt wie in die zeitge­nössische Philosophie und Wissenschaft. Die Übersetzung ist – einmal mehr – sehr genau im Blick auf den lateinischen bzw. griechischen Text und gleichzeitig sehr gutes Deutsch. Das ist ein meisterliches Werk.

 

  1. November 2014                                                                                   Christoph Auffarth
    Religionswissenschaft
    Universität Bremen

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In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände:
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Briefwechsel Blumenberg Taubes

cover-blumenbergHans Blumenberg und Jacob Taubes: Briefwechsel 1961 – 1981 und weitere Materialien. Hrsg. von Herbert Kopp-Oberstebrink; Martin Treml. Berlin: Suhrkamp 2013 [349 S. – 978-3-518-58591-7 Gebunden. 39.95 €]

 

Streitgespräche unter Wissenschaften: Die Anfänge von Interdiszipli­narität und die Bedeutung von Religion für die Moderne

Eine Rezension von Christoph Auffarth

 

Jacob Taubes (1923-1987) war ein aufregender Mensch. Als er 1961 den Ruf als Ordinarius für „Wis­senschaft des Judentums“[1] und Hermeneutik an die Freien Universität in Berlin er­hielt (der 1966 dann endgültig realisiert wurde), war das eine kühne Entscheidung. Denn Taubes war ein Wissenschaftler, der ‚Gott und die Welt‘ kannte, aber geleistet hatte er noch sehr wenig. Die Dissertation des 23-Jähri­gen war ein beein­druckendes Buch:[2]  Taubes wurde mit der Dissertation Abendländische Eschatologie, Zürich 1947 promoviert;[3] in Zürich war sein Vater Rabbiner. Sein katholi­scher Freund Hans-Urs von Balthasar hatte allerdings zehn Jahre zuvor ein dreibändiges Werk geschrieben, das das Material schon verarbeitet und ana­lysiert hatte; Taubes übernahm unter einer durchaus originellen Fragestel­lung ganze Absätze.[4]  Dann 1951-53 war Taubes Assistent des großen deutschen Judaisten (Gerhard, nach seiner Ver­treibung aus Deutschland als) Gershom Scholem, der in Jerusalem als einer der Großen an der Hebrew University lehrte.[5] Wie auch sonst: Taubes verkrachte sich mit jedem. Mit seinen Frauen: die Ehe mit Susan, einer Ethno­lo­gin,[6] endete mit ihrem Selbstmord (1928-1969), eine schreckli­che Beziehung![7] Die zweite nicht wirklich besser; bitter der Kommentar von JT im Brief 44, S. 169, der dieser Liebe wegen nach Berlin gekommen war.[8] Es folgten Jahre der De­pression und Klinikaufenthalte. In der Berliner Universität war der Streit ohnehin die Regel. Die Chance für die Religionswis­sen­schaft mit Klaus Heinrich und Carsten Colpe und Jacob Taubes, mit der Islamwissenschaft und Indologie, grandios vergeben: eine Generation später gibt es in der Stadt der drei Univer­sitäten, bald auch einer katholischen Fakultät in der Haupt­stadt, keine Religionswissenschaft mehr! Der Versuch des Senators Peter Glotz in Ab­stim­mung mit dem Präsidenten  der FU, die Philosophie mit der Theologie und Religionswis­sen­schaft zu verbinden, hat mit Taubes Un­ter­schrift ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Protokoll vehement abgelehnt (Doku­ment 14, S. 278-281) Glotz hatte eine Vision; die Ablehnung beharrt auf der angeblichen Säkularisierung der Philosophie aus der Religion. – Wie Peter Glotz das dann an der Universi­tät Erfurt im Max-Weber-Kolleg realisierte, erwähnt der Kommentar nicht.

Im Unterschied zu dem gewaltigen Oeuvre von Hans Blumenberg (1920-1996) hat Jacob Taubes hat kaum eigene Arbeiten hinterlassen, am Ende noch die Paulusvorlesung,[9] die andere für ihn publizierten.[10] Aber er sprühte vor Ideen und scharfen Ein­würfen in Diskussionen. Er liebt das Streitgespräch und findet es nicht bei der „Begriffsge­schichte“,[11] sondern in der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“.[12] Beim Suhrkamp Verlag ist er ein gesuchter Berater, aber auch von Unseld immer wieder missachteter Kritiker.[13] Die die ‚alte‘, in Wirklichkeit die Umwertung im NS bewahren wollten im Verlag der Wissenschaft­lichen Buchgesellschaft, werden erfolgreich verjagt (Brief 20, S. 88; Dokument 6, 238-240). Das Format Streitgespräch will er auch in Berlin institutionalisieren (Brief 34a; wichtig dazu S. 195). Lange beschäftigt ihn „Saekularisierung“. Blumenberg hatte in großen Werken die These entwickelt, die Neuzeit sei nicht eine Kultur, die weiter in religi­ösen Denkformen denkt, dabei aber den zentralen Bezug zu Gott verloren habe, vielmehr habe die Neuzeit ihre eigene Legitimität.[14] Zu dem erhofften Hahnenkampf kommt es nicht, wohl aber verbreitet Gadamer giftige Thesen vor den Berliner Studierenden (Dokument 13, S. 266-277).  Bedeutsam für die Religionswissenschaft sind die drei Bände der Aufarbeitung mit den großen Theorien zu Religion und Politik, die JT anstößt. Sie beschäftigen sich immer wieder mit dem bedeu­tenden juristischen Intellektuellen Carl Schmitt. Nachdem Taubes es abgelehnt hatte, sich mit Schmitt auseinanderzusetzen, dem einstigen „Kronjuristen des NS“ und wegen seiner antijüdi­schen Haltung, wäscht Blumenberg ihm den Kopf (Brief 45 – dort auch klare Zurecht­weisung über seine Haltung zum einstigen Lehrer Gershom Scholem – JT re­agiert gar nicht beleidigt in Brief 46). JT nimmt vielmehr den Kontakt mit Schmitt auf.[15] JT diskutiert mit jungen Berliner Wissenschaftlern Schmitts Behauptung, alle politischen Theorien, Begrif­fe, Grundlagen, seien religiöser Natur: Autorität, Gnosis, Theokratie.[16] In einem Nachwort führt Herbert Kopp-Oberstebrink Affinitäten und Dissonanzen zwischen den Briefpartnern zusammen (295-336). Welche Bedeutung und Nachhaltigkeit allerdings Taubes‘ Interesse an Religion und theologischen Unterströmungen der Moderne für den Suhrkamp Verlag und die Wissenschaften hatte (329-336), mag man angesichts des Unverständnisses für Peter Glotz‘ Vorschlag eines Verbundes an der Freien Universität bezweifeln.

Es lohnt sich, diese intellektuelle Fernbeziehung, den Respekt zweier großer Anreger der Paradigmenwechsel zu lesen, ungeschminkt, untereinander aber respektvoll („ich muss zugeben, dass der Umgang mit Ihnen verdammt schwierig ist“, JT über Blumenberg S. 148) während andere teils respektlos und hemdsärmelig sich äußern. Ein wichtiges Dokument zum Aufbruch der Wissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

 

 

27.12. 2013                                                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,

Universität Bremen


[1] Diese Bezeichnung knüpft an eine große Tradition an, die großartige Wissenschaft geleistet hat, aber nicht an staatlichen Universitäten. Dazu Görge K. Hasselhoff (Hrsg.): Die Entdeckung des Christentums in der Wissen­schaft des Judentums. Berlin: de Gruyter 2010. Kurt Wilhelm (Hrsg.): Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Ein Querschnitt (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts. Bd. 16). 2 Bände. Tübingen: Mohr 1967.

[2] Richard Faber, Eveline Goodman-Thau, Thomas Macho (Hrsg.): Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001.

[3] Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. (Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 3) Zürich: Francke 1947. Unverändert 2. Auflage Mit einem Anhang (Batterien 45) München: Matthes & Seitz 1991. Unverändert 3. Auflage mit einem Nachwort von Martin Treml, 2007; italienische Ausgabe 1997, ungarische 2004, kroatische 2009, französische 2009, englische 2009, spanische 2010.

[4] Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. 3 Bände. Salzburg/Leipzig: Pustet 1937–1939.

[5] Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes an Gershom Scholem und andere Materialien. Herausge­geben von Elettra Stimilli. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.

[6] In der gleichen Institution, die hinter dem zu besprechenden Buch steht, wird auch das Werk von Susan Taubes herausgegeben. Susan Taubes: Die Korrespondenz mit Jacob Taubes 1950–1951. Herausgegeben und kommen­tiert von Christina Pareigis. Paderborn: Fink 2011.

[7] Susan Taubes lebte mit JT in Ehe seit 1949, zwei Kinder, seit 1961 getrennt lebend, 1967 geschieden, JT heiratet neu (unten Anm. 8), ST tötet sich selbst. Sie beschrieb das in: Divorcing. New York 1969, [Scheiden tut weh. München 1995; Scheiden. München 1997]. Zu den zwei Kindern S. 78.

[8] Margherita von Brentano, Professorin an der FU in Berlin, war mit Taubes verheiratet 1967 bis 1975 (S. 38).

[9] Taubes identifizierte sich oft mit Paulus; vgl. 131; 283. Die berühmte Anekdote, dass ein Apotheker ihm sein Medikament überreicht mit dem falsch entzifferten Namen: „Bitte sehr, Herr Paulus!“ und JT anwortet: „Woher wissen Sie das?“, bei Christoph Schulte: Woher wissen Sie das? Die Paulusdeutung von Jacob Taubes. In: Chris­tian Strecker; Joachim Valentin (Hrsg.): Paulus unter den Philosophen. Stuttgart: Kohlhammer 2013, 120-131.

[10] Gesammelt in dem schmalen Bändchen Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Ver­nunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions- und Geistesgeschichte. Herausgegeben von Aleida Assmann und Jan Assmann. München: Fink 1996. ²2007. Die beiden Assmanns schufen auch die Herausforderung zu einer Vor­lesung in Heidelberg Die politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschungsstätte der Evan­gelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, 23. – 27. Februar 1987. München: Fink 1993. ²1995. 3., ver­bes­ser­te Auflage 2003 (amerikanische Ausgabe: Stanford 2004).

[11] Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hatte dazu eine „Senatskommission“ eingerichtet  (Gadamer und Blu­menberg). Zu Begriffsgeschichte ausführlicher Christoph Auffarth in Jan Bremmer u.a. (eds.): Words 2014, i.Dr.

[12] Die Gruppe traf sich unregelmäßig und diskutierte große Themen der Ästhetik, Geschichtsphilosophie, unter provokativen Querverbindungen über die Fächergrenzen hinweg mit hohen theoretischen Ansprüchen. Die 17 Treffen sind dokumentiert unter http://de.wikipedia.org/wiki/Poetik_und_Hermeneutik. Aus der informellen Gruppe korrespondiert JT neben Blumenberg v.a. mit Hans Robert Jauss, Manfred Fuhrmann.

[13] Siegfried Unseld, der ebenso geniale wie gefürchtete Leiter des Verlages, der für den kritischen Aufbruch der Kultur in der Bundesrepublik („die Achtundsechziger“) die Stichworte, Theorien und Öffnung zu Diskussionen in anderen intellektuellen Kulturen durch Übersetzungen den Kraftstoff lieferte. Die Wendung des Verlages zur Wissenschaft aber beruht zum guten Teil auf Taubes Eintritt als Berater, s. S. 320f.

[14] Hans Blumenberg: Die kopernikanische Wende. 1965 (edition suhrkamp 138). Die Legitimität der Neuzeit. 1966; Neuausgabe 1996. Überarbeitung in vier Taschenbuchbänden. Der Prozess der theoretischen Neugierde. 1973. Die Genesis der kopernikanischen Welt. 1975; Neuausgabe 1981, alle bei Suhrkamp, Frankfurt am Main.

[15] Briefwechsel Carl Schmitt – Jacob Taubes. Herausgegeben von Thorsten Palzhoff und Martin Treml.  Mün­chen: Fink 2012.

[16] Religionstheorie und Politische Theologie. 3 Bände. München: Fink. 1. Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. 1983. – 2 Gnosis und Politik. 1984. – 3 Theokratie. 1987. Die Herausgeberschaft lag weitgehend bei Norbert Bolz.

Der Anfang der Reformation

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Thomas Kaufmann: Der Anfang der Reformation.
Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik
und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung
.

(Spätmittelalter, Humanismus, Reformation)

Tübingen. Mohr Siebeck 2012.
676 Seiten.
ISBN 978-3-16-150771-7.

 

Anfänge und Bruch

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Zusammenfassend: Wer in die interessantesten Fragestellungen und Ergebnisse der Reformation in ihrer frühen Phase sich einführen lassen will, muss dieses Buch lesen. Keine Erzählung, sondern Problemgeschichte, also präzise Frage, Kontexte, im Gespräch mit Historikern und Kulturwissenschaftlern, nicht nur Theologen. Sehr sorgfältige Darstellung der Quellen und eine starke, wohl begründete These. Wissenschaft der Spitzenklasse.

Im Einzelnen:

TK wird Fünfzig und sieht sich veranlasst, eine Bilanz zu ziehen. Nachdem er 2003 über das Ende der Reformation sich Gedanken machte an­hand der Magdeburger Ent­wick­lung 1548-1552, komponiert er nun 11 bereits publi­zierte, überarbeitete Aufsätze und fünf neue zu einer Gesamtfragestellung: der Anfang der Reformation. Zweifach Singular: der eine Anfang, die eine Reformation. Schon das eine These, die es zu be­gründen gilt. Das tut er im einleitenden Paragraphen 1-27. Nach der Frage Was there a “reformation“ in 16th century?[1] hier eine Antwort: aus einem lokalen, regio­nalen, aber auch sozialen und sprachlichen Kontext in einen anderen übergehenden Inter­aktionsprozess wird die reformatorische Bewegung und daraus die Reformati­on. Deren Anfang in den Jahren 1517 bis 1523 untersucht TK perspektivenreich. Er benennt S. 24-26 zehn tiefgreifende Zäsuren, die den Anfang der Reformation aus­machen. Auf Kosten welcher Entwicklung ist oft mehr angedeutet als ausgeführt, aber es ist jedenfalls kein Buch zum kommenden Jubiläum (500 Jahre Reformation 2017), sondern ein Buch historischer Redlichkeit.

Erneut ein großes Buch von Thomas Kaufmann, in dem er in 16 Kapiteln[2] den Anfang der Reformation analysiert, nicht erzählt.[3] TK schreibt Problemgeschichte:[4] Erst einmal muss geklärt werden, welche Frage sich heute stellt, wie man sie schrittweise beant­wor­ten kann und welche Folgerungen sich daraus ergeben. Diese stark argu­men­tative Struktur, die sorgfältigen und umfassenden Belege in den Anmerkungen, der auf einander aufbauende Argumentationsgang und das Fazit begrenzen die jeweilige Frage nicht durch ein biographisches (Luthers) Zeitgerüst, sondern ver­folgen eine Antwort Luthers (und anderer, auch fast unbekannter Reformatoren) über eine Aussage aus einer bestimmten biographischen Situation mit dem Vorher und Nachher und den gleichzeitigen Alternativen zu einer ebenso erschöp­fenden wie knappen Behandlung. Die Auseinandersetzung mit anderen Forschungs­meinungen ist knapp, oft scharf, aber jeweils mit kurzer Begründung (also nicht einfach polemisch) in lange Anmerkungen ausgelagert.[5]

§ 2 Häresiologie: Jan Hus und die reformatorische Bewegung (30-67). Luther hat später seine Verbindung zu Jan Hus und der böhmischen Kirche so zusammenge­fasst: Sumus omnes Hussitae ignorantes. „Wir sind alle Hussiten, unwissentlich“.[6] Dem stellt TK den Befund gegenüber. Schon früh, in der Leipziger Disputation, wird Luther von den Papsttreuen mit dem Vorwurf konfrontiert, er bewege sich auf den Spuren des Jan Hus – und die endeten ein Jahrhundert zuvor auf dem Scheiterhaufen in Konstanz: Luther sei also ein Ketzer. Luther kennt zu der Zeit Hus nur aus den Berichten der Gegner; er lehnt die Fremdzuschreibung ab. Ja, Hus sei ein Kirchen­spal­ter. Als er sich aber die Schriften des Hus kommen lässt und studiert, erkennt er, wie ‚evangelisch‘, d.h. der Bibel entsprechend, dessen Programm war. Nun nennt er sich mit Stolz Hussit. Auch die reformatorische Bewegung versteht sich nun als Fort­setzung, wie TK an zwei Kupferstichen zeigen kann. Zwei Fragen lässt das Kapitel unbeantwortet: Welche Rolle spielt das Recht gegen Ketzer in der Reformation? Das Verbot, es gegen die andere Konfession anzuwenden, ist ein zentraler Vorgang für den inneren Reichsfrieden. Weiter verfolgt TK nicht das Motiv der „Gans“.[7]

§ 3 Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium (68-101). Wenn die Bibel heilig und als Bestandteil kirchlich-liturgischer Geräte reser­viert wird, dann haben die Laien keinen Zugang zu ihr. Die Bibel zu einer Verfas­sungs­ur­kunde zu machen, auf die sich die Laien mit ihrem Anspruch auf Partizipa­tion – religiös wie politisch – berufen können, ist eine grundlegende Errungenschaft der Reformation. Wenn das ein zentrales Ziel der Reformation war, dann würde ich weiter gehen als die Formulierung von TK: Die Laienbibel ist Voraussetzung, nicht Ursache der Reformation (99). Seine Argumentation versucht zu erklären, dass schon vor Luthers erster Bibelübersetzung (Septembertestament 1522) zum einen volks­sprach­liche deutsche Übersetzungen gedruckt wurden.[8] Zum andern erklärt er, wie Erasmus 1516 mit der Veröffentlichung des griechischen Textes des Neuen Testa­men­tes und der Erklärungen die notwendige Voraussetzungen für Luthers Ent­schlüs­se­lung der Bibel schuf. Und doch war sie, wie TK dann argumentiert „ein Traditi­onsbruch“. Luther verwendet nicht mehr die Vorrede des Hieronymus zur lateini­schen Bibel Vulgata, sondern führt den Begriff Evangelium ein, der nicht nur für die Evangelien, sondern für einen bestimmten Kern der Bibel (auch der hebräischen Bibel) gilt, andere Schriften aber nicht umfasst. Der Schluss des Kapitels, damit sei ein neu­es Verständnis Gottes erreicht, kommt m.E. etwas unvermittelt.[9] Hier gehörte doch der erneute Bruch Luthers hinzu, der die Laienbibel den Laien wieder wegnimmt: Wenn die Laien (polemisch die Bauern genannt) in der Revolution von 1525 („Bau­ernkrieg“) jeden ihrer 12 Artikel mit der Bibel legitimiert, dann schlägt sich Luther auf die Seite der alten Ordnungsmächte und schaltet dem laienhaften Verständnis die professionelle Hermeneutik der Ursprache vor: die Laien dürfen die Bibel nicht für politische Partizipation verwenden. Ohne diesen erneuten Bruch ist ein Kapitel Bibeltheologie unvollständig. Auch sonst vermisse ich die Revolution von 1525 als Ende des Anfangs der Reformation.[10]

§ 4 Religionshermeneutik: Wahrnehmung des Islam (102-120). Zu der partiellen Enttheologisierung der Reformation, statt sie nur auf innerchristliche Entwicklungen zu begründen, hat TK mit seinen Büchern zu den Judenschriften und dem „Türcken­büchlein“ wichtige Beiträge für die extrinsische[11] Motivation der Reformation erschlos­sen: Die Abgrenzung gegen die Juden und die Angst vor der Herrschaft der Türken in Europa formen die Reformatoren.

§ 5  Politiktheorie fragt nach theokratischen Konzeptionen (121-163). Der Begriff „Theokratie“ wird oft verwendet; für Luthers Zwei-Reiche passt er gerade nicht (wichtig 122 Anm. 7 zur „normativen Zentrierung“). TK definiert für das 15. und 16. Jh. (124 f): „Herrschafts- und Gesellschaftskonzeptionen und politisch-kulturelle Praktiken, die auf eine widerspruchsfreie Identität von Religion und Politik, gött­lichen Normen und gesellschaftlichem Handeln abzielten, mithin die Ordnung bzw. die Gerechtigkeit Gottes unmittelbar zu realisieren versuchten und prinzipiell uni­versale Geltung beanspruchten. …“ Das bedeutet auch die Aufhebung der Dif­ferenz zwischen Laien und Klerikern und ist meist radikal antiklerikal.[12] TK be­schreibt die Reformprogramme der ‚Reformatio Sigismundi‘ 1439, des ‚Oberrheinischen Revolutio­närs‘, der Zwölf Artikel und des Täuferreichs von Münster 1534.[13] Zwei wichtige Fragen sind damit verbunden: Ist die Reformation der entscheidende Bruch? (Guter Exkurs zur Forschungsfrage 160 A. 120). Einerseits nein, weil eine Kontinuität des Theokratiegedankens über hundert Jahre von 1439 bis 1534 jeder menschlichen (Willkür-)Herrschaft die Legitimation abspricht, andererseits ja, indem Realisierun­gen erst möglich waren, weil und nachdem die Reformation die latein­euro­päische Welt erschüttert hatte.

§ 6 untersucht als „Ausgangsszenario“ Luthers 95 Thesen. Sie beziehen sich nicht einzig auf den Ablasshandel, der regional gesehen in Sachsen eher bescheidenen Erfolg hatte. Die Thesen sind unter mediengeschichtlichem Aspekt interessant. 182 A. 66 kritisiert eine Bewertung, die zu eng biographisch argumentiert.

§ 7 untersucht auf 80 Seiten (185-265) die Bedeutung der Studenten für die Refor­ma­tion: Sie sind die aktionale Speerspitze, oft von den Reformatoren eher als Gefähr­dung angesehen, aber eine wichtige Trägergruppe der neuen Ideen. Eine Gruppe, die sich ständig ändert und auflöst, weil sie in den Beruf drängt. Ob die Reformation freilich die Chancen für das Studienziel fördert oder schwächt, ist zwiespältig. Denn die Möglichkeit als Mönch – studiert oder nicht – in eine Pfründe zu kommen, stellen die Reformatoren in Frage; die studierten Prediger dagegen verdienen viel weniger und man braucht viel weniger Priester als bisher. („Professionalisierungskrise“ 222; 225 passt nicht gut). Eine interessante Figur ist der Student als Reformator, Ulrich Hugwald, der als Verlagslektor jobt (238-259).[14]

§ 8 beschreibt die Konstruktion des Images Luthers, seine Heroisierung in Literatur und den massenweisen Bildern (266-333). Sehr präzise ist hier die Literatur zur Medi­enrevolution der Flugschriften zusammengestellt, die eben auch das Bild um­fasst. Zunächst wird eher der kleine Mönch, Gelehrte, Prophet und Heilige gezeichnet,[15] dann (ab 1521-24) der Befreier, Triumphator und Wundermann, oft mit einem be­kann­ten Bild verbunden wie Daniel, Hercules, die mystische Mühle. Wichtig die 295 Anm. 92 zum neuen Namen Luthers aus griech. el(e)utherios, ‚der Freie‘. TK bleibt bei der Bezeichnung Bauernkrieg (315).

§ 9 nennt Beschreibung der Heidelberger Disputation Luthers, die Martin Bucer aufgeschrieben hat, argumentative Impressionen, 334-355. Bucers Bericht dürfte eher den tatsächlichen Verlauf wiedergeben und inhaltlich rechnet TK weniger mit einer subjektiven Verkürzung als damit, dass Luthers Theologie sich auch änderte („Einheit und Vielfalt der Theologie Luthers“ 355).

§ 10 Publizistische Mobilisierung 356-434 beobachtet, dass um 1520 die anonymen Flugschriften enorm zunehmen, während ab 1523 die Zahl der Flugschriften weiter explosionsartig steigt, aber die Autoren sich nun nennen (361). TK meint, die Anony­mität habe die Ermöglichung einer „reformatorischen Öffentlichkeit“ geschaffen, eine wichtige Überlegung, den man im Zusammenhang der These von Jürgen Haber­mas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit stellen kann. Anonymität heißt eine Publikati­onsstrategie, die nicht eine individuelle Meinung kundtut, auch nicht aus Feigheit den Namen verschweigt, sondern den Anspruch er­hebt im Sinne der Allgemeinheit die Wahrheit auszusprechen.

§ 11 Theologisch-philosophische Rationalität: Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation, 436-463. Luther nennt die Vernunft öfter „eine Hure“. Gemeint ist, dass sie sich, wer immer sie verwenden will, gerne andient. Der schmerzhafte Ablö­sungsprozess von der aristotelischen Wissenschaftslogik (Scholastik) führt noch nicht zu einer neuen Wissenschaft. Die hat dann Melanchthon mit den Loci (453) durchge­führt. Im Vergleich dazu zeigt TK, dass Zwingli viel ‚neuzeitlicher‘ vorgeht.

§ 12 Radikale Reformation als Integration von Lehre und Leben (464-505). Die sog. radikalen Reformatoren (warum TK an der Bezeichnung festhält, begründet 464, Anm. 1). Im Unterschied zu der Lutherischen Reformation, die ganz auf das schrift­lich vor anderthalb Jahrtausenden festgelegte ‚Wort Gottes‘ vertraut, berufen sich die  ‘Radikalen‘ auf die Verleihung des Gottesgeistes, der heute und aktuell sie zum Handeln auffordere. Am auffälligsten zeigt Karlstadt – vor den Augen Luthers – das neue Charisma, das nicht auf intellektuelles Wissen pocht, indem er die Kleidung des Wissenschaftlers auszieht und sich wie ein Alltagsmensch kleidet: im grauen Rock und Filzhut. (Wie so oft verwendet TK einen kühnen Ausdruck, der aber eher den Eingeweihten etwas sagt: Er spricht hier von einer ‚vestimentären Konversion‘, will sagen, wenn Karlstadt sich von einem Tag zum andern eine andere Kleidung zulegt, so sehen sofort alle, dass sich von seinen bisherigen Kollegen, den Wittenberger ‚Schriftgelehrten‘[16] abgrenzt und sich mit dem ‚gemeinen Mann‘ verbrüdert. TK stellt dar, wie Kleidungsstücke Zeichen der Identität mit sozialen Gruppen anzeigen. Die ‚Radikalen‘ zeigen auch nach außen, dass Gott seine Weisheit nicht den Mächtigen und Gebildeten offenbart, sondern den Einfältigen. Dazu bedient man sich Meta­phern der Mystik, dass Gott inwendig sei. (Wichtig wieder die Auseinandersetzung mit dem Mystikkonzepten 500 A. 120).

§ 13 Ekklesiologische Revolution: Das Priestertum der Glaubenden (506-549). Für die hohe Wertschätzung der Laien statt der Mönche und vor allem statt der Priester stellt TK neben Luthers revolutionärer Position An den christlichen Adel und seinem Gegner im  eigenen Lager, Karlstadt, wenig bekannte Basler Flugschriften vor. Die Darstellung bleibt an zwei Stellen stehen, die der Erklärung oder zumindest des Aus­blicks bedürfen: Warum unterstützt Luther nicht die Laien-Revolution von 1525 („Bauernkrieg“), die sich konsequent aus seiner theologischen (das betont TK zu Recht) revolutionären Position ergäbe? Und damit zusammenhängend: Warum wendet sich Luther gegen Priester und Pfründen, führt aber den studierten Theo­logen als Filter für das Wort Gottes ein?

§ 14 Reformation der Lebenswelt Luthers Ehetheologie (550-564). Luthers etwas widerstrebend ausgeführter Schritt zur Heirat und Familiengründung hat zwei As­pekte, die TK im Vergleich zu dem viel gelesenen Ehebüchlein (zuerst 1472) Albrecht von Eybs erläutert: Zum einen fürchtet Luther die ungebundene Sexualität, sie sei teuflisch, während auf der anderen Seite die Sexualität in der Ehe heilsam sei und den Evangelischen zur Pflicht gemacht wird. Die Familie als ‚das evangelische Kloster‘ ist ein eindrücklicher Ausdruck.

§ 15 Personale Identitätskonstruktionen: ‚Erfahrungsmuster‘ in der frühen Refor­mation (565-588). „Erfahrung“ ist ein gefährlicher Begriff, weil man ein subjektives Element zum Kriterium für andere machen kann. TK definiert nicht zu eng theolo­gisch, aber doch nur in evangelischer Sicht. Einleuchtend zitiert er in der Anmerkung 567 A. 5 den Religionspädagogen Bernd Schröder „Erfahrung mit der Erfahrung“. Alle reformatorischen Autoren beziehen ihre Erfahrungen auf die Bibel mit dem Ziel, ihre ‚Konversion‘ (und damit Abwendung vom ‚alten Glauben‘) zu legitimieren. Ich habe den Begriff des ‚Lebensbildes‘ imago vitae vorgeschlagen, das bedeutet, dass jede Erfahrung im Lichte vorausgegangener Erfahrungen steht, die in der Kommunikation mit vorgeformten, erzählten Erfahrungen (einem image) vorstrukturiert sind. Und diese sind nicht nur biblische Glaubenserfahrungen, sondern etwa das Bild des Ge­lehr­ten.[17] TK bringt dann gut belegte Beispiele für die autobiographische Selbst­thema­ti­sierung einer Kehrtwende im Leben, der prophetischen Berufung als mysti­sche Erfahrung oder schließlich als dritten Typus der Lese-Erfahrung, die je zu der Konversion führten, wie sie die Reformatoren berichten.

§ 16 Fragmentarische Existenz: der „alte“ und der „junge“ Luther (589-605). Das letzte Kapitel führt erst einmal in die Idee von der ‚Entwicklung‘ einer Persönlich­keit, wie sie um die Jahrhundertwende 1900 behauptet wurde und der Bedeutung der jungen Genies oder des Spätentwicklers. Dann diskutiert er die Beispiele Abend­mahlslehre und Stellung zum Judentum: Luther hat sich erheblich verändert.

 

Ein unglaublich gelehrtes, in viele Einzelheiten der frühen Neuzeit einführendes Buch, weit über theologische Fragen hinausgehend und doch immer nach der Relevanz für die Theologie fragend. Was macht die, sagen wir, Explosion der Reformation in den Jahren 1517-1523 aus? Der Stand der Forschung, die Fülle der Quellen, spannende Ergebnisse. Spitzenforschung.

 

14. Februar 2013                                                                                        Christoph Auffarth

Religionswissenschaft

Universität Bremen


[1] Hans J. Hillerbrand: in: Church History 72(2003), 525-552.

[2] Wie bei Theologen und Juristen gerne verwendet, gliedert TK nach Paragraphen. Das lässt ein syste­matisch fortlaufendes Handbuch erwarten. Bei TKs Buch handelt es sich jedoch um verschiedene Per­spektiven, in sich relativ abgeschlossen,  zu der zentralen Frage.

[3] Wer das erwartet, findet in TK: Geschichte der Reformation in Deutschland, Frankfurt 2010, das geeig­ne­te Buch. Das das ist gute Problemgeschichte in einem eher chronologischen Rahmen. S. meine Rezen­si­on auf dieser Internet-Seite.

[4] Otto Gerhard Oexle hat den methodischen Grundsatz entwickelt, dass Geschichte sich nicht (wie Ranke das versprach: Erzählen, wie es eigentlich gewesen ist) als erzählerische Konstruktion aus immer genauer erforschten Fakten ergibt. Vielmehr stellt jede Generation mit ihren Erfahrungen andere Frage an die Geschichte, es stellen sich Probleme neu, die dann über neue Thesen zu einer anderen Antwort führen. Er nennt dieses Vorgehen Problemgeschichte

[5] Beispiele 38 f Anm. 34. 101 Anm. 131.

[6] WA Br 2, 42,24.

[7] Dazu einiges bei Will-Erich Peuckert: Die große Wende. Das apokalyptische Saeculum und Luther. Hamburg 1948; ND Darmstadt 1966. Hus heißt tschechisch Gans. Luther wird mehrfach mit einer Gans im Arm dargestellt.

[8] Der Zugang über die Volkssprache und nicht über die sakrale, unverständliche Sprache als rituelle Lesung in der Kirche wird schon früher als ketzerischer Ungehorsam verstanden. S. Christoph Auffarth: Cathari. In: Encyclopedia of the Bible and its reception. Vol. 3, Berlin; New York: de Gruyter 2011.

[9] Der Aufforderung, die Reformation partiell zu enttheologisieren (101, A. 131 mit Beispielen für eine theologische Engführung, was Reformation meine), stimme ich als Religionswissen­schaft­ler voll zu, sehe TK aber zu kurz gesprungen, wie ich im Folgenden mit dem „Bauernkrieg“ argumentiere.

[10] Mehrfach macht TK zarte Bemerkungen in diese Richtung. Peter Blickle: Die Revolution von 1525. München: Oldenbourg 1975; 42004. Für Beck Wissen 2002 rückt die bekanntere traditionelle Bezeichnung wieder in den Haupttitel.

[11] TK verwendet gerne seltene fremdsprachliche (aber präzise) Begriffe. Das Wort, das ich hier verwende, ist für Pädagogen wichtig. Extrinsische Motivation bedeutet in der Bildung, dass man Strafen, Noten, Geldgeschenke einsetzt, um Menschen für die Anstrengungen des Lernens zu motivieren, statt intrinsischer Motivation wie eine Sprache können zu wollen.

[12] Damit unterscheidet sich die Konzeption von Theokratie des 15./16. Jh.s prinzipiell von etwa der, in der die Priester die Stelle Gottes einnehmen und in diesem Sinne Theokratie ausüben, s. Hubert Cancik: Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavius Josephus, contra Apionem 2, 157-198. In: Jacob Taubes (Hrsg.): Theokratie (Religionstheorie und Politische Theologie 3) Paderborn: Schöningh 1987, 65-77.

[13] Dazu meine Rezension zu Hubertus Lutterbach: Der Weg in das Täuferreich von Münster. (Geschi­chte des Bistums Münster 3) Münster: Dialogverlag 2007. Hubertus Lutterbach: Das Täuferreich von Münster: Wurzeln und Eigenarten eines religiösen Aufbruchs (1530-1535). Münster 2008. in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 106 (2008), 222-224.

[14] Hierzu wäre aber die Untersuchung von Natalie Z. Davis über die Träger der Reformation in Lyon zu vergleichen: Dort sind die Druckergesellen entscheidende Akteure, wie sie auf den Druckmaschi­nen die revolutionären Flugblätter drucken. Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch 1987, 14-29; 210-249. [dt. Übersetzung von Society and culture in early modern France. Stanford CA: UP 1977].

[15] Zu Cranachs Luther und dem Gelehrtenbild vgl. Auffarth: Living Well and Living On: Martyrdom and the imago vitae in the Early Modern Age. In: Jitse Dijkstra; Justin Kroesen; Yme Kuiper (eds.): Myths, Martyrs, and Modernity. Studies in the History of Religions in Honour of Jan N. Bremmer. (Numen Book Series 127) Leiden 2010, 569-592.

[16] Im Neuen Testament die polemische Bezeichnung für die Intellektuellen (‚Pharisäer‘), deren heim­tückischen Fangfragen sich Jesus mit allgemein verständlichen, treffenden Antworten entzieht.

[17] TK ist dafür offen (etwa S. 470-72), hat es aber nicht in seine Definition einbezogen. Meine Aufsätze zu imago vitae, s. Anm. 15.

„Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Von Oliver Arnhold


 

 

 

 

 

 

 

Oliver Arnhold
ʺEntjudung“ ‐ Kirche im Abgrund.
Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928 ‐ 1939

und

 

 

 

 

 

 

 

 

„Entjudung“ – Kirche im Abgrund.
Das ʺInstitut zur Erforschung und Beseitigung
des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Lebenʺ 1939 – 1945.


Berlin: Institut für Kirche und Judentum 2010.

ISBN 978‐3‐938435‐00‐7. [xxiv, 926 Seiten. 24,80 Euro]

 

Das Christentum nur für ‚Deutsche’

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Paulus stellt im Galaterbrief den Grundsatz auf, das Christentum kenne weder die Diskriminierung von Frau und Mann, von Sklaven und Freien, noch von Juden und Griechen, sondern sei eine Religion für alle gleich vor Gott, ungeachtet ihrer Unter­schiede (Gal 3, 28). Als die evangelischen Landeskirchen im Jahr der nationalsoziali­sti­schen Revolution diskutierten, das Berufsverbot für Nichtarier im staatlichen Dienst[1] auch in den Kirchen zu übernehmen, da zitierte das Marburger Gutachten (Hans von Soden, Bultmann, Schlier und Jülicher ) den genannten Satz des Paulus. Dabei ging es in dem „Kirchen­kampf“ nicht etwa um den Kampf der evangelischen Kirchen gegen die staatliche Exekution und Legalisierung des Rassismus, sondern um die Minderheit derer, die sich – mit Berufung auf das Evangelium – gegen die Übernahme des ‚Arierparagraphen’ [staatlich 7.April; kirchlich 6./7.Sept. (S. 92)] auf die christlichen Gemeinden wandten. In den meisten Landeskirchen wurden die (ganz wenigen) Pfarrer entlassen, deren (erst die) Eltern sich hatten taufen lassen. Nicht die Angst der Kirchen ‚in vorauslaufendem Gehorsam’, sondern der Ehrgeiz, sich als Nationalkirche an die Spitze der national­sozialistischen Bewegung zu setzen, trieb die Kirchen, dominiert von den „Deutschen Christen“, die dank des Über­raschungs­­­coups der Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 gesetzt hatten.[2] Sie warben einer­seits mit Mitteln der Volksmission die wenigen (ca. 5 %) Nicht-Kirchenmit­glieder zur Mitgliedschaft. Sie sonderten andererseits die nicht wenigen getauften Juden aus der christlichen Kirche aus – und unterschrieben gewissermaßen deren Todesurteil.[3]  Mehrere christliche Institutionen dienten sich dem NS-Staat an, die notwendigen wissenschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen für die religiöse Begründung des historischen und biologistischen Antisemitismus. Die Institution, die die neue Theologie begründete, die Bibel von ihren jüdischen Denkformen zu reinigen, das Gesangbuch zu einem deutschen Erbe zu gestalten, also einen neuen deutschen Kanon zu definieren, gründeten die Thüringer DC 1939 – am Fuße der Wartburg: der Traum von der Vollendung der Reformation, von einer zweiten Refor­mation. Theologischer Vordenker wurde Walter Grundmann (1906-1976).

Die umfangreiche Arbeit von Oliver Arnhold erschließt nicht nur durch Bibliogra­phi­en und lange Zitate aus den Archivquellen (die teils erst nach der Wende wieder aufgefunden wurden) die Arbeit des Entjudungs-Instituts, sondern macht auch deut­lich, dass man detailliert die Vorgeschichte kennen  muss, um das Programm zu ver­stehen. So macht die (Vor-)Geschichte der Thüringer Deutschen Christen etwa die Hälfte des Doppelbandes aus. Hatte die vorausgehende Forschung mehrfach behauptet, Grundmann sei erst 1938 zum NS-Rassisten geworden, nachdem er, der bei den großen Neutesta­ment­lern Adolf Schlatter und Gerhard Kittel studiert und promoviert hatte, bis dahin gute und ‚reine’ Wissenschaft betrieben hatte (bes. S. 138 A. 140 und 138-142), so kann OA zeigen, dass er Theologie-Wissenschaft als Anti­judais­mus und rassistischen Antisemitismus sehr wohl zusam­men gedacht hat. Grundmann ist nicht als ein abseitiger Häretiker zu verstehen, sondern ein bedeu­tender Wissen­schaft­­ler, der auch nach der Selbstvernichtung des NS-Herrschaft zentrale Thesen beibe­hielt (so S. 22)[4] und damit weite Teile der evange­lischen Theologie und des christ­lichen Selbstverständnisses zwischen 1918 und 1968 repräsentiert.[5] Was Leonore Siegele-Wenschkewitz Mitte der Siebziger Jahre kühn aufdeckte, die Mit­schuld der Christen am Holocaust (OA erkennt ihre Arbeit als grundlegend an), erweist sich nicht als Verirrung von Wenigen, sondern weitgehend als Konsequenz der Wissen­schaft bis zum Generationenwechsel 1968.

OA arbeitete seit 1993 an dem Projekt. 17 Jahre später veröffentlicht das Berliner Institut Kirche und Judentum seine Paderborner Dissertation. Ein beeindruckendes Ergebnis in den ausführlichen Zitaten von veröffentlichten und nicht publizierten Quellen. Die Darstellung ist gegliedert nach der Einleitung 1-40 in Teil I zur Kirchen­bewegung Deutsche Christen 1928-1933 (S. 41-98); Teil II 1933-1939 (S. 99-453) zielt auf den politischen Höhepunkt der Reichspogromnacht, dem die DC die zweite Re­formation zur deutschen Kirche zur Seite stellt. Juden werden physisch und geistlich vernichtet. Teil III (S. 455-762) stellt die Arbeit des Instituts vor als Konsequenz der deutschen Kirche im nationalsozialistischen Staat. Programm, Finanzierung, Perso­nal, die Tagungen und Publikationen: das gereinigte Evangelium, das entjudete Gesangbuch, ein deutscher Katechismus und der historische Nachweis, dass Jesus ein Arier war. Wenigstens noch sieben Seiten zu den Karrieren nach 1945. Der Schluss gibt Folgerungen und Perspektiven (763-783), bevor im Anhang von knapp 150 Seiten das Buch erschlossen wird – neben der umfangreichen Bibliographie – Biogramme die im Buch vorkommenden Personen knapp vorstellt, die Mitarbeiter des Instituts, seine Organisation.

Kritisch ist zu bemerken: Die Zitate belegen nicht immer, was OA an Schlüssen aus ihnen zieht. Die Distanzierung der NS-Führung von der Idee, dass eine überkonfessionelle Nationalkirche den „Glau­ben“ an Volk und Rasse in der „Volksgemeinschaft“ missionarisch religiös binden sollte, bekam Widerspruch und Konkurrenz durch andere NS-Projekte. Das ist nicht als „Distanzierung“ (117) zu deuten, sondern typisch für die Polykratie des NS, die gerne Parallelstrukturen wollte. Eine davon, die Deutsche Glaubensbewegung, kennt OA nicht gut genug – obwohl die einschlägige Literatur zitiert ist: Richtig ist, dass Jakob Wilhelm Hauer, den die NS als deren Führer durchsetzten, aus der evangelischen Jugendbewegung hervorging, aber die DGB definierte sich als nicht-christlich. Dennoch bildet die völkische, erst recht die germanische Religionstradition nur eine winzige Splittergruppe, an der der NS schon bald wieder das Interesse aufkündigte; es bleibt nur Himmlers germanische Religi­osität der SS und SA. – Bultmanns Konzept vom „Christusgeschehen“, das er benutzt an Stelle von (Christus-)Geschichte des geschichtlichen (d.h. jüdischen) Jesus, verwendet OA S. 147, es kommt aber nicht im Zitat der DC vor und unterscheidet sich erheblich!

Für die Arbeit des Instituts ist dann die Abgrenzung vom alttestamentlichen Gottes­bild theologisch der entscheidende Punkt: Gottes-Sohnschaft sei jüdisch undenkbar, darin aber Christus Vorbild für die Christen: Selbstbewusste Helden sollen sie sein, nicht leidende erlösungsbedürftige Schwächlinge (OA 649-47).

Jesus sei ein Arier ist eine Kernaussage der Rassismus-Christen. Hatte sein Lehrer Schlatter das noch als spätere Legende abgelehnt, so versuchte Grundmann das als historischen Beweis aufzubauen.[6]

Oliver Arnhold hat, etwas detailverliebt, einen wichtigen Baustein zur evangelischen Religion in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Die Zitate zeigen einerseits den Anspruch, in der „Volksgemeinschaft“ eine führende Rolle ausfüllen zu wollen, dem NS-Staat die christliche Religion als Sinnstiftung vorauseilend zum einenden Band anzudienen. Auch wenn der Bekennenden Kirche die Behauptung zu weit ging, Gott habe in der Schöpfung den Rassismus geschaffen („Und Gott sprach: es werde Volk! Und es ward Volk.“ Grundmann 1934 zitiert OA 140), so fand die deutsche Reforma­tion Luthers ihren gemeinsamen Nenner (neben dem Antikatholizismus) vor allem im Ausschluss des Judentums. „Gottes Nein zu den Juden“,[7] die Vernichtung der Juden, sei das erschreckende, aber auch – für die Christen – die heilsame Folge jeder Abwendung von Gott (Grundmann zitiert OA 142). Kein fundamentaler Verstoß gegen den Kern des Christentums (Irrlehren 163), kein Betriebsunfall, sondern Kon­tinuität ist das erschreckende Ergebnis. Einer Religionsgeschichte des 20. Jahrhun­derts – ein Desiderat – steht hier ein gut belegter Baustein zur Verfügung.[8]

Dank an das Institut für Kirche und Judentum, dass es erneut ein wichtiges Buch zu einem sehr erschwinglichen Preis veröffentlicht! Auch neben und nach Heschels Buch behält es seinen Wert, gerade durch die Details.

 

August 2011                                                            Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, der  sog. Arierparagraph

[2] Im Folgenden DC.

[3] Hier kommen zwei Vorgänge zusammen: 1. die Forderung der DC, ‚getaufte Juden’ in eigenen Gemeinden rassistisch zu trennen. 2. die Amtshilfe für den NS-Staat, die ‚arische Herkunft’ anhand der Kirchenbücher nachzuweisen. Dazu war jeder Pastor verpflichtet. Manfred Gailus: Kirchliche Amtshilfe 2008. Rez. Auffarth in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsi­sche Kirchengeschichte 106 (2008), 257-258. Dass das zum Todesurteil würde, war den Pastoren aller­dings zu der Zeit nicht bewusst. Aber etwa in Schleswig-Holstein vermehrte das die Zahl der „Juden“ um etwa ein Drittel.

[4] Dass Grundmann spät behauptete, er sei gegen den NS gewesen, kann man nur als gängige Rhetorik der Selbstentschuldung verstehen: OA S. 22

[5] Der Rezensent hat in einem Aufsatz die anti-jüdische Geschichtskonzeption von Rudolf Bultmann aufgezeigt, einem führenden Gegner des Antisemitismus der Deutschen Christen (erscheint in dem Band zum 125. Geburtstag von RB, hrsg. von Wolfgang Weiß; Kim Strübind. Berlin 2011, im Druck). Zur Kontinuität s. Gerd Theißen: Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Born­kamm. Heidelberg 2009.

[6] Das stellt Susanna Heschel: The Aryan Jesus. Christian theologians and the Bible in Nazi Germany. Prince­ton, NJ: Univ. Press 2008 in den Mittelpunkt ihrer Darstellung des Eisenacher Instituts.

[7] Auch wenn Eberhard Busch (Unter dem Bogen des einen Bundes: Karl Barth und die Juden 1933 – 1945. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl. 1996) für das berüchtigte Diktum Karl Barths – noch 1967 – Belege für sein Eintreten zugunsten der Juden anführt, so ist doch eher die Kontinuität auch innerhalb der Bekennenden Kirche (Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. [Diss. Hamburg 1970, gedruckt erst] Berlin : Inst. Kirche und Judentum 1987; ²1993) typisch, dass das Christentum als anti-jüdische Neugründung verstanden wurde.

[8] Wie zum Nationalprotestantismus – leider mit 1933 abschließend – Roland Kurz:  Nationalprotestan­tisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation. Gütersloh: Gütersloher 2007, das OA nicht berücksichtigt.

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Origenes: Aufforderung zum Martyrium

Origenes: Werke. Mit deutscher Übersetzung [OWD],
Hrsg. von Alfons Fürst; Christoph Markschies.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.
Freiburg; Berlin 2010
VI, 131 Seiten. Euro 59,95.
ISBN 978‐3‐451‐32948‐7

 

U n t e n  eine Übersicht aller bisherigen Rezensionen von Christoph Auffarth zu den Origenes-Ausgaben!

Zwei Lesarten des Martyriums: Origenes Werke, Band 22

Das Büchlein Aufforderung zum Martyrium ist innerhalb eines Jahres der dritte Band in der Ausgabe, die zweisprachig den ganzen Origenes leicht zugänglich macht. Er folgt den ersten, begeisternden Bänden mit den Jesaja-Homilien [ Besprechung hier] und der Genesis. Maria-Barbara von Stritzky, emeritier­te Professorin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Münster, hat eine knappe, aber inhaltsreiche Einführung geschrieben, wenige, aber gewichtige Anmer­kungen und eine Übersetzung dem Text beigegeben, der ganz der Ausgabe von Paul Koetschau in den GCS 1 folgt.[1] Der Text in einer gut lesbaren Griechisch-Type, Zeilen­zähler, Nachweis der Bibelzitate oder –anspielungen. Nützlich wäre noch für die weiteren Bände, wenn die Paginierung der Originalausgabe eingefügt würde. Die Register führen auf die zitierten Bibelstellen; wo Origenes auf eigene Werke Bezug nimmt, etwas dürr das Register der Namen und Sachen.[2]

In welcher Tradition Origenes’ Modell des Märtyrers zu anderen antiken Autoren steht, ist in der Einleitung angesprochen. Allerdings sollten auch die Unterschiede herausgearbeitet werden, v.a. zu Tertullian.[3] Denn die Aufforderung zum Martyrium (Εἰς μαρτύριον προτρεπτικός) fordert keineswegs auf, den Tod zu suchen. Nach Eusebios’ unzuverlässigen Nachrichten (historia ecclesiastica 6, 39,5) habe O. das Mar­tyrium gewünscht und in grausamer Weise in der Christenverfolgung unter Kaiser Decius dann erfahren. Die Werbeschrift für das Martyrium aber ist mindestens 15 Jahre früher, etwa 235 geschrieben. MBvS vermutet nichtsdestotrotz (S. 7 f) eine befürchtete Verfolgung. Die Bedeutung von μαρτυρέω usf. „bezeugen“ ist im NT noch ohne die Zuspitzung auf das Erleiden des Todes; sie bedeutet autoritative Zeugenschaft, Mitwisser des Evangeliums. Unter dem Einfluss griechischer Vorstel­lungen entwickelt sich erst bei den Makkabäern (vorchristlich also, etwa 165-163 v.Chr.) der stellvertretende gewaltsame Tod des Blutzeugen; Origenes erzählt dra­matisch den Tod des alten Eleazar, der sieben Makkabäer-Brüder und den Tod ihrer Mutter, die das alles ansehen musste (exhort. mart. 22-27)[4]. Die Makkabäerbücher verweisen deutlich auf den griechischen Hintergrund, das vierte Makk. schlägt die Brücke zum stoischen Ideal. Im Polykarp-Martyrium (einer der frühen nicht-neutesta­mentlichen Schriften unter dem Namen der Apostolischen Väter) ist es christiani­siert. Erfreulicherweise hat die Autorin jeden Bezug zu der falschen Vorstellung eines „Selbstopfers“ vermieden.[5]

Origenes preist den gewaltsamen Tod keineswegs so, dass das das Ideal sei und die Märtyrer ausgezeichnete Christen, demgegenüber die anderen Christen zweiter Klas­se wären. Martyrium kann man auch beweisen in der Ausübung der Sakramente, das Trinken des Kelches, den Jesus vor seinem Tod als Symbol seines Todes trank (interessant die militärische Metapher des Helden, der unmöglich seinen Tod habe umgehen wollen in dem Wort „… so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ protr. mart. 29: hier stirbt stoisch der Weise) und die Taufe in den Tod (protr. mart. 30 f). Zeugnis heißt dabei, sich nicht an den Opfern der Nichtchristen beteiligen. Mehrfach und ausführlich setzt sich O. mit dem Problem der Bilderverehrung auseinander. Damit gibt auch der normale Christ ohne Christenverfolgung Zeugnis gegen die Dämonen (protr. mart. 45 mit Anm. 90). Martyrium gibt es also auch im Verborgenen (protr. mart. 12 u.ö.).

Dieser dritte Band der OWD erreicht nicht ganz die herausragende Qualität der beiden ersten. Die Einleitung ist allzu kurz geraten. Die Übersetzung bleibt in der etwas künstlichen Übersetzungssprache oder setzt zu schnell einen modernen Begriff ein (wie das matthäische Reich der Himmel als „Himmelreich“; παράκλησις (42) mit „Trost“ ohne im Hintergrund den Parakleten „Rechtsanwalt“ des Joh. 15, 26). Aber das soll die solide und zuverlässige Leistung nicht schmälern. Eine weitere Schrift des Origenes ist hier zweisprachig erschlossen, die ein zentrales Thema des frühen Christentums erklärt: Martyrium heißt nicht nur den gewaltsamen Tod erleiden; auch im täglichen Gottesdienst kann man Zeugnis von Gott ablegen.

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[1] Die Erstausgabe von Johann Rudolf Wettstein 1674, im niederländischen Nachdruck 1694 ist jetzt übrigens digitalisiert auf http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN600091139

[2] Beispielsweise hat O. die Metapher der „Erbauung“ (protr. mart. 11 =OWD 22, p. 44, 24; dort weist MBvS den Bezug auf 1 Kor 3,12 gut nach) mehrfach benutzt, sie kommt aber im Register nicht vor.

[3] Zuletzt Jan Willem van Henten: Martyrium II. Reallexikon für Antike und Christentum, Band 24, Lfg. 186/193 [2011], 300-. Eine Sammlung der Texte (mit Übersetzung) zum Thema von Theofried Baumeister (Bern 1991); seine Aufsätze zum Thema sind jetzt gesammelt: Martyrium, Hagiographie und Heiligenverehrung im christlichen Altertum, Freiburg: Herder 2009 – in der Bibliographie schon berücksichtigt.

[4] Zitiert wird so: Orig. exhort. mart. und die Kapitelzahl, wer will kann noch angeben =OWD 22, p. 60-69 und die Zeile. Nicht die Zwischenüberschriften mit den römischen Ziffern.

[5] Das das keine antike Vorstellung ist, zeigt Hildegard Cancik-Lindemaier: Opferphantasien (1987); Tun und Geben (2000). Beides in: HCL: Von Atheismus bis Zensur. Würzburg: Königshausen&Neu­mann 2006, 193-229. Ferner Andreas Bendlin: Anstelle der anderen sterben: Zur Bedeutungsvielfalt eines Modells in der griechischen und römischen Religion. in: J. Christine Janowski, Bernd Janowski, Hermann P. Lichtenberger (Hrsg.): Stellvertretung: Theologische, philosophische und kulturelle Kontexte. Band 1: Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004. Neukirchener Verlag: Neukirchen 2006, 9-41.


In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände:
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Stand: 02.06.22

Origenes: Die Kommentierung des Buches Genesis (Band 1/2). Von Karin Metzler


Origenes: Werke mit deutscher Übersetzung [OWD], Hrsg. von Alfons Fürst; Christoph Markschies.
OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.
Freiburg; Berlin 2010 [xxv, 341 Seiten. Euro 89,95. ISBN 978‐3‐451‐32901‐2

 


Die Schöpfungsgeschichte christlich gelesen

Nach dem ersten, begeisternden Band mit den Jesaja-Homilien [Rezension: hier] folgen im gleichen Jahr zwei weitere Bände in der Ausgabe, die zweisprachig den ganzen Origenes leicht zugänglich machen.

Hier die Kommentierung der Genesis. ‚Kommentierung’ nennt die Herausgeberin Karin Metzler[1] die Sammlung des Erhaltenen, weil Origenes einerseits einen Kom­mentar zur Genesis schrieb, der aber nur die vier ersten Kapitel von der Erschaffung zu den Sündenfällen umfasst und in Vers Gen 5,1 abgeschlossen und besiegelt wird. Dafür benötigt er 13 ‚Bücher’ (Papyrusrollen). Dazu kommen „Scholien“, die auch die weiteren Kapitel der Genesis kommentieren. Scholien bezeichnen Kommentare, die man zur Erklärung unbekannter Worte oder Zusammenhänge an den Rand oder zwischen die Zeilen antiker Werke schrieb. Christoph Markschies vermutet, es hand­le sich in diesem Fall um (Auszüge aus) Mitschriften seiner Schüler und Gäste. Ange­fan­gen hat Ori­genes seinen Kommentar zunächst in Alexandria, den Rest vollendete er wohl 234 in Caesarea, seinem neuen Wohnort (dem römischen Hafenort in Palä­stina). Zur glei­chen Zeit schrieb er an seinem philosophischen Hauptwerk Περὶ ἀρχῆς (Perì archês, de principiis), während die große Verteidigung gegen die Angrif­fe des Intellektu­ellen Celsus danach entstand. Das längste zusammenhängende Stück (D 7) umfasst etwa 40 Doppelseiten und handelt von der Vorsehung mit einer langen Auseinander­setzung über die Richtigkeit der Prophetie und die Falschheit der Astro­logie. Die Sterne sind Zeichen, nicht Mächte (82 f σημεῖα – δυνάμεις): es geht um das Problem der Willensfreiheit. Hatte Judas die Chance, sich auch anders entscheiden zu können (118 f)? Dass hinter σῶσαι (96,15) das platonische Problem steht, wie man die Idealbilder mit dem Faktengewimmel in Einklang bringen will, „die Phänomene retten“ σῴζειν τὰ φαινόμενα, ist wieder eine kluge Beobachtung von KM.

Der Text ist der aus der großen wissenschaftlichen Ausgabe der Griechischen Christ­lichen Schriftsteller, den die gleiche Wissenschaftlerin gerade herausgibt und zahl­reiche Verbesserungen in der Zuordnung und im Verständnis bringt. Eine enorme Arbeit kommt zum Abschluss, all die Stücke zusammenzusuchen und zu prüfen, die teils in Origenes eigenen Schriften zitiert, in drei umfangreichen (beschädigten) Papyri und in den Texten 13 anderer antiker Schriftsteller zu suchen sind. Tat­säch­lich: „Spurensuche“! Testimoni­en (A-C), Fragmente aus dem Kommentar (D) und die Scholien (E), die in den Sammelkommentaren (Catena ‚Kette’) immer wieder ausge­schrieben wurden. Man sieht die sorgfältige Arbeit von Jahren nicht nur im grie­chischen Text. Die Entschei­­dung übrigens, den griechischen Text in einer seriphen­losen Type zu setzen (was eigentlich einem Grundsatz widerspricht, keine Seriphen­schrift – die deutsche Übersetzung – parallel daneben zu setzen), führt zu einem sehr gut lesbaren und übersichtlichen Resultat. Die Arbeit ist konzentriert zusammenge­führt in der Übersetzung. Man sieht die genauen Überlegungen. Beispielsweise wählt KM für inordinatus nicht ‚ungeordnet’ (was eher eine durcheinander gebrachte Ordnung voraussetzte), sondern ‚ordnungs­los’ (48 f). Für den griechischen Strich­punkt der als Punkt in halber Höhe notiert wird, wählt sie ‚Hochpunkt’ (70 f) und die kluge Erläuterung für das grammatikalische Problem, das man ohne griechischen Text nicht verstehen kann, in Anm. 65. Apò koinoû 154 f. Der „Wal“ (das κῆτος) des Jona, wie wurde er geschaffen (162 f) – der Leviathan fehlt?

Der Kommentar KMs ist anspruchsvoll und verlangt einige Kenntnis in antiker Rhe­­torik und Grammatik. Dann aber führt KM aufschlussreich durch die komplizier­te Argumentation. Origenes liest die Schöpfungstexte ja nicht als jüdischen Text histo­risch, sondern allegorisch, d.h. der Text sagt etwas anderes, zumindest mehr, als was auf der wörtlichen Ebene dasteht. Origenes will die ethische Herausforderung darin erkennen, ihren anagogischen Sinn. C I 1 gibt einen Aufriss: Adam als Christus, Eva als Kirche, Gott in der Trinität als Vater, Wort und Geist (der über der Urflut schwebt C I 3) – und die Weisheit! sapientia C II 1, 276, S. 51 –, der Teufel als das Dunkle (C I 1b), wo aber sind die Engel (C II 2)? Origenes verbindet sie mit dem Wasser – nicht wie seit Augustinus üblich, mit der Erschaffung des Lichtes. Oder meinte er die Bäume im Paradies (C II 4)? Und wie kann man den Kosmos hinein bringen, der nicht im Horizont des Schöpf­ungs­berichters „Mose“ liegt. Doch! behauptet Origenes, dafür steht die merkwürdige doppelte Erschaffung von Himmel und der Erde (Gen. 1,1 und 1,8 u. 10). Gegen die Gnostiker mit ihrem Dualismus muss Origenes den Text verteidigen, er spreche vom guten Gott, nicht vom böswilligen Demiurgen (108 f) Er hat, auch wenn er wohl selbst nicht Hebräisch konnte, jüdische Gelehrte gefragt, wie sie den Text verstehen (S. 48, Anm. 26).

Die Einleitung zum Gesamtwerk durch die Herausgeber (vii-xxv) ist sachlich knapp und lesenswert zugleich. Das Abkürzungsverzeichnis (xv f) sollte, auf dickem Papier gedruckt, jedem Band beiliegen.

Kurz: auch dieser zweite Band der OWD ist hervorragend gelungen. Das Ergebnis jahrelanger Arbeit gipfelt in der abgewogenen Übersetzung und den Kommentaren der Anmerkungen.

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[1] Künftig mit den Initialen abgekürzt.

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5. Dezember 2010
Christoph Auffarth,
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

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In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände.
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Stand: 02.06.22

Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums

Peter Schäfer
Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums
Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums
Tübingen: Mohr Siebeck 2010
XVII, 210 Seiten

 

 

 

 

Geburten und Geschwister

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Wie sich das Judentum formierte, nach der Zerstörung des Tempels und dem Verbot, in Palästina zu wohnen, geschieht in intensiver Auseinandersetzung mit christ­lichen Theologien. Dies ist Teil eines umfassenden Transformati­ons­­prozesses, der alle Religionen der Spätantike umfasst und mehr als 400 Jahre dauert. „Das Ende des Opfers“ ist ein Symbol dafür.[1]  Weder gibt es ‚das Christentum’ als feste Größe gleich,[2] aber erst recht noch nicht ‚das Judentum’. PS[3] zeigt an den Debatten der ‚Lehrer’ (hebr. Rav [sing.], Rabbinen; Rabbi ist Anrede „mein Lehrer“), wie die christlichen Ansichten offen diskutiert werden, teils unter dem Etikett „Häretiker“ (minim), teils als Meinung eines Lehrers, der man massiv widersprechen muss (wie dem Rabbi Akiva S. 80 ff).

PS behandelt fünf Fälle. Der erste  „Warum verschwand das Messiasbaby?“ (1-31).[4] Der zweite „Ein Gott oder mehrere Götter?“ (33-63). „Der alte und der junge Gott“ (65-96). „Gott und Metatron“ (97-132). Der leidende Messias Efraim“ ( 133-178).  Es folgen fünf Abbildungen, das Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der Quellen und ein Sachregister.

Es geht je um einen Text, in der Regel einen schwierigen Bibelvers, der einem Rabbi zur Lösung vorgelegt wird. Er antwortet, indem er auf den Kontext verweist oder einen anderen Bibelvers zur Erklärung beizieht. In all den genannten Fällen geht es um das Problem, wie Aussagen der Bibel zu erklären sind, die auf mehr als den einen Gott hin deuten; besonders in welchem Verhältnis JHWH und sein Messias stehen, ob er ihn bereits am Anfang der Welt gemacht hat. Hat er oder wird er ihm etwa die Herrschaft übergeben? Wie ist der Menschensohn in Daniel 7 und „die“ Throne zu erklären? Wer waren die Mehrzahl der Schöpfer, als Gott sagte „Lasst uns Menschen machen!“ Der Patriarch Henoch, der mit Gott wandelte, wurde der zum Engel und gar zum ‚kleinen Gott’ (Metatron)? Ganz andere Deutungen der Maria werden deutlich bei dem verschwundenen Messias-Baby. Dieses Kapitel muss man neben die allzu bekannte und harmonisierte „Weihnachtsgeschichte“ Lukas 2 legen. Oder – ganz außergewöhnlich (S. 154) – gibt es auch jüdisch einen leidenden Messias (Messias ben Efraim) neben oder statt des König-Messias’ ben David? Die Häretiker außerhalb des Seminars werden leicht abgebügelt mit formalen Argumenten, dann aber fragen die Schüler, und die Antworten in der Akademie zeigen, wie komplex und letztlich unlösbar die Fragen wirklich sind. Die Texte zeigen je einen späte Lösung, die frühere, anders lautende Lösungen wiederlegen will.

Es bleiben Einwände eher grundsätzlicher Art: Der Titel wie auch die Argumentation behaupten, dass das Judentum aus dem Geist des Christentums geboren sei. Über die Metapher der ‚Geburt’ muss man streiten, wenn PS jetzt das Christentum oder seinen ‚Geist’ zur Mutter erhebt. In den Spitzenaussagen der „Biblischen Theologie“ war das die These, das Christentum habe die wahre Tradition der hebräischen Bibel im Evangelium von Jesus Christus bewahrt, nämlich die prophetische Linie, während die Juden in Gesetzlichkeit und Ritualismus verfielen.[5] Die neue Diskussion von den ‚Schwester-Religionen’ (so PS passender, etwa S. 29 f eine großartige Passage!), den siamesischen Zwillingen oder dem Borderline-Syndrom (s. meine Besprechung des Buches von Boyarin) lehnt gerade die biologische Metapher der Mutter/Tochter ab. Die Zerstörung des Tempels war für beide Bewegungen der Zwang, sich neu zu formieren und beide konnten auf Tempel- und Kultkritik aus der Zeit zurückgreifen, da der Tempel noch stand, und genauso den materiellen Tempel und Kult in ein ‚himmlisches’ Jerusalem uminterpretieren.[6] Das Christentum war noch eine jüdische Reformbewegung, das Judentum in offener, vielfältiger Form. PS macht deutlich, dass die rabbinischen Juden in Babel (d.h. im sassanidischen Reich), deren Diskussionen im babylonischen Talmud (Bavli) festgehalten wurden, bereits eine feste Größe Christentum abgrenzten, während die Rabbinen in Palästina in ihrem Talmud (Jeruschalmi) noch nach Abgrenzungen suchten.

Umgekehrt muss deutlicher werden (als dies bei PS geschieht), dass das Christentum nicht nur in den neutestamentlichen Schriften die hebräische Bibel als den Bezugspunkt allen Denkens voraussetzt, sondern auch danach sich entscheidet, diese Wurzeln nicht abzuschneiden, indem es sich gegen den Dualismus der Gnosis entschied und insbesondere nicht Markions Verführung folgte, den Gott des Alten Testaments auszuspielen gegen den menschennahen Gott der Liebe, wie er sich im Neuen Bund offenbarte. Die christlichen Theologen kommen aus dem Judentum. Attraktive Aussagen übernehmen sie von jüdischen Bildern. Ich nenne nur die vier Lebewesen, die den fahrbaren Thron Gottes tragen; jüdisch das Bild für den Gott, der seinem Volk auch im Exil nahe ist; bei den Christen wird die Vision (Ezechiel 1) zu den Evangelisten-Symbolen. Damit ist aber angesprochen, dass nicht nur die theologischen Spekulationen über die Gottheit des Messias zu diskutieren sind, sondern Bilder, Symbole, Rituale, Gottesdienste, Feste, Organisationsformen mit einzubeziehen sind, wenn man „die Trennung der Wege“ beschreiben will. Ein vielfältiger Prozess. Ein lange währender Prozess. Bei dem es nicht nur um die hier besprochenen Probleme der Gottesfrage geht.

Dass man die beiden monotheistischen Religionen nicht als Sonderfall behandeln kann, ist für eine Religionsgeschichte der Spätantike ein Desiderat. Dafür müsste aber „Polytheismus“ nicht als Gegenbegriff gesehen werden (etwa S. 51): Religionshistoriker des Monotheismus können den Polytheismus nicht begreifen. Es geht auch im Polytheismus primär um den einen Gott, der aber durch Verwandtschaft eingebunden ist in ein Familie als Vater, Bruder/Schwester, Sohn/Tochter, Ehepartner.[7] Die Frage nach dem Alten/Jungen Gott, der Herrschaft Gottes, dem Kommen (parousia, adventus) sind Prozesse, die sich nicht nach Naturreligion und Offenbarungsreligion differenzieren lassen, erst später, in der Moderne wird daraus eine fundamentale Differenz.

Die Wissenschaft vom Neuen Testament, die Judaistik und die Altertumswissen­schaften haben zwar in vielem gemeinsame Gegenstände, die sie mit unter­schiedlichen sprachlichen und methodischen Kompetenzen angehen. Aber sie nehmen sich gegenseitig zu wenig wahr.

Um dies zu verbessern, haben drei Professoren der Universität Jena eine Einladung an Gelehrte ausgesprochen, ein Thema aus der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte zu behandeln, das die Tria Corda („drei Herzen“) Judentum, Antike und Christentum vereint.[8] (Während in Jena eher die Antike als römische Herr­schaft thematisiert wird, hat die Bremer Sommerschule Christentum als antike Religion die antiken Religionen in der Spätantike im Blick der altertumswissenschaftlichen Disziplinen). PS ist „Judaist“, der die interne Argumen­tationen und das Gespräch beider Parteien kompetent bis in die Spitzfindigkeiten analysieren kann, ob hebräisch oder griechisch (hier im Umschrift).[9] Das Buch ist eine erste Summe dessen, was noch ausführlich in einer Monographie beschrieben werden soll.

PS beschreibt in souveräner Kenntnis der rabbinischen Diskussionen, was die manchmal eigentümliche, ja verquere Argumentation in den rabbinischen ‚Akade­mien’ bedeutet. Dies tut er in Kenntnis der parallelen Diskussionen über die Gottheit Christi unter den christlichen Theologen. Die mündet in einem Machtwort des Kaisers, dem nizänischen Glaubensbekenntnis. Das aber wird noch lange immer wie­der angefochten; das Leben des Athanasius mit Exilen und triumphalen Rückkehren ist exemplarisch dafür. Mit den Vorlesungen Peter Schäfers hat die Fragestellung, wie sich die beiden Religionen ausdifferenzierten, eine neue Qualität gefunden, die jeder wahrnehmen muss, der nicht auf die alten Ideologien hereinfallen will. Deutlich wird auch, dass eine Religionsgeschichte der Spätantike sich nicht auf Ausschnitte der Traditionen nur einer Religion begrenzen darf. Es bedarf des vergleichenden Blicks. Diesen hat PS für das rabbinische Judentums eröffnet.

  

18.08.2010
Christoph Auffarth,
Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Beschrieben in meinem Artikel „Mysterien“ im Reallexikon für Antike und Christentum, im Druck. Guy Stroumsa nannte seine Vorlesungen (2005) so.

[2] Christoph Auffarth: Die frühen Christentümer als Lokale Religion. Zeitschrift für Antikes Christentum 7 (2003), 14-26.

[3] Künftig abgekürzt mit den Initialen PS.

[4] Mit dem Anti-Judaismus der Geburt Jesu habe ich mich beschäftigt C.A.: ”Euch ist heute der Heiland geboren!” – Wie aus dem jüdischen ”Sohn Gottes” lateinisch Gottes Baby wurde. in: Der Altsprachliche Unterricht 41/6(1998), 50-64.

[5] Damit wärmten die Väter der Biblischen Theologie (wie Hartmut Gese und Peter Stuhlmacher) in den 1970er Jahren die Propheten-Anschluss-Theorie wieder auf, die bald hundert Jahre zuvor konzipiert worden war.

[6] Etwa Christoph Auffarth: „Euer Leib sei der Tempel des Herrn“. Religiöse Sprache bei Paulus. In: Dorothea Elm-von der Osten; Jörg Rüpke; Katharina Waldner (Hrsg.): Texte als Medium und Reflexion von Religion im Römischen Reich. (PawB 14) Stuttgart 2006, 63-80.

[7] Burkhard Gladigow: Polytheismus. Akzente, Perspektiven und Optionen der Forschung.
Zeitschrift für Religionswissenschaft 5(1997), 59-79.

[8] Bisher sind fünf Bände erschienen, die von hoher Qualität wichtige Themen behandeln; außer Schäfers ist ein Band von Timothy Barnes über Hagiographie (2010) erschienen; Hans-Josef Klauck über die apokryphe Bibel (2008), Richard Klein, Staat und Kirche, Werner Eck über die römische Herrschaft in Judaea (2007), Otto Kaiser über die ‚Weisheit’ (2007).

[9] Für die christliche Debatte kann PS sich stützen auf die Monographie von Christoph Markschies: Alta trinità beata. Tübingen 2000.

 

 

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Judenhaß und Judenfurcht. Von Peter Schäfer


Peter Schäfer
Judenhaß und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike
Amerikanisches Original: Judeophobia. Attitudes towards the Jews in the Ancient World. 1997
Übersetzt von Claus-Jürgen Thornton
Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010
443 Seiten

 

Der Antisemitismus der Antike

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Mit Antisemitismus bezeichnet man im engeren Sinne den rassistisch argumentie­renden modernen Judenhass seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Höher Ge­bildete entnahmen schon im Gymnasium den klassischen Schriftstellern der Antike Vorurteile, aus denen sie die Berechtigung eigener Vorurteile bestätigt sahen. Besag­ten sie nicht, dass, solange es Juden gibt, auch der Judenhass besteht? Daraus folgt, dass die Juden selbst  oder ‚das Wesen’ des Judentums die Ursache für den Hass sein müsse (substanti­eller Antisemitismus).[1] Demgegenüber hat besonders Isaac Heine­mann herausge­arbeitet, dass Judenhass historisch entstanden sei in zeitlich und lokal bestimmten Situationen und als gewaltsame Konflikte ausgetragen wurde (funktio­na­­ler A.). PS glaubt, dass beides zusammenkomme. – Zur Rechtfertigung der Gewalt wurden in der Antike Herkunft und Ab­stammung der Gegner erzählt: Die ethno­graphischen Texte[2] kennen ungewöhnliche Eigenarten, mischen sie mit Vermu­tungen welcher Name mit welchem antike Scheusal etwas zu tun haben könnte, immer unter dem prinzipiellen Vorzeichen der Fremdenfeindlichkeit.

Dazu ein Beispiel: Der Name der Stadt, die die aus Ägypten ausgewanderten Juden besiedeln, heißt Jerusalem, griechisch Hierosolyma. Ein antiker Ethnograph lässt einfach eine Silbe weg; was übrig bleibt, heißt „Einbruch ins Heiligtum“. –

Um solch ein Buch schreiben zu können, muss der Verfasser die jüdischen Kultur bestens kennen wie auch die griechisch-römische Kultur: Ein kultureller Prozess, der interne Argumentationen und das Gespräch beider Parteien umfasst. PS erweist sich als der, der über beide Kompetenzen verfügt: Griechisch (hier im Umschrift) und Latein; Hebräisch ist ohnehin das Kerngebiet des Judaisten. Dazu kommt eine amerikanische Wissenschaftskultur, die den Kontakt zu Fachleuten anderer Diszi­pli­nen sucht.

Also, was dachten, wie sprachen Nicht-Juden in der Antike über die Juden? In Teil 1 (29-174) geht es um die Sonderheiten, die Juden absondern von anderen Menschen oder schärfer noch: von allen Menschen. Die Geschichte von der Vertreibung aus Ägypten, der so ganz andere Gott der Juden, ihre Abscheu, Schweinefleisch zu essen, den siebten Tag der Woche als Ruhetag einzuhalten, die Beschneidung und die Wer­bung um neue Mitglieder (Proselyten).  In einer klaren Sprache geht PS die Texte der antiken Autoren durch und kommentiert sie. Teil 2 rekonstruiert zwei Schlüssel­ereignisse, die Zerstörung des jüdischen Tempels auf der Nil-Insel von Elephantine 410 v.Chr., dann den Pogrom an den Juden von Alexandrien i.J. 38 (177-233). Das führt zu der These, nicht erst das hellenistische Alexandrien, sondern Ägypten sei die Brutstätte des Antisemitismus (S. 197; 245); seine eigentliche Wirkungskraft aber habe erst in seinem hellenistischen Kontext gewonnen. Der dritte Teil (S. 237-281) unterscheidet drei Konfliktzentren: Ägypten, Syrien-Palästina, Rom.

Am Schluss, S. 282-302, rechtfertigt PS, warum er für die Beibehaltung des Begriffs Anti­semitismus plädiert. Nur durch dieses Wort komme die Einzigartigkeit des Hasses gegen die Juden zum Ausdruck. Ob man klug beraten ist, den gleichen Begriff zu verwenden für den antiken und den modernen Antisemitismus? Das suggeriert Kon­tinuitäten anstelle von Konflikten, die sich alter Autoritäten bedienen.[3] Oder sollte man zur Unterscheidung vormodern von Antijudaismus sprechen? Das kann aber entschuldigend für die Vormoderne und das Christentum dienen. Antisemitismus wäre dann ‚pagan’. Ich würde empfeh­len, immer (wenigs­tens) von „antikem A.“ zu sprechen. Der moderne A. bedient sich zur Rechtfertigung antiker Argumente, unterstellt Kontinuität, aber es ist Rezeption, gelehrtes Konstrukt mit der Behaup­tung eines menschen­feindlichen Volkes, das unterminieren will, Angst und Hass.

Der Rest des Buches umfasst die wertvollen und präzisen Anmerkungen. Der Band ist hervorragend ausgestattet mit sehr guten Verzeichnissen und Indices (Literatur, Stellenindex, moderne Autoren, Sachverzeichnis), eine sehr gute deutsche Über­setzung von Claus Jürgen Thornton.

Ein Buch, das man – besonders jede Religionswissenschaft­lerIn – kennen muss, um den heutigen Antisemitismus (oder Philosemitismus) ver­stehen zu können; von dem man Teile mehrfach lesen möchte. Auch Schüler können einzelne Kapitel durcharbei­ten. Beindruckend ist, dass ein Vorurteil, einmal geäußert, immer und immer wieder wiederholt wird – ohne je an Realitäten geprüft zu werden. Und dann einige wenige, die dem allgemeinen Urteil zum Trotz eine andere Meinung vertreten, Pompeius Trogus etwa (S. 46 f) oder Varro (S. 263 f). Und doch: Tacitus’ Beschreibung der Juden ist nicht eine Ethnographie wie die über die Briten (im Agricola) oder die Germanen (in der Germania), keine Blütenlese der bekannten Vorurteile gegenüber Juden. Bei der Belagerung Jerusalems geht es um alles oder nichts, einen heilsgeschichtlichen Wendepunkt.[4]  Erst eine evocatio ent­scheidet: die Götter verlassen – exeunt dei (Tac. hist. 5, 12) – Jerusalem und laufen über zu den Römern, schenken ihnen die Weltherrschaft.

Angst vor den Juden, Judaeophobie, wird beantwortet mit Judenhass.

Christoph Auffarth

Religionswissenschaft,
Universität Bremen

E-Mail: auffarth@uni-bremen.de

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[1] Peter Schäfer im folgenden mit den Initialen abgekürzt PS.

[2] Ethnographisch heißt „(fremde) Völker beschreibend“; in der Antike ein literarisches Genus mit festen Typen, wie ‚den Barbaren’ oder ‚den edlen Wilden’. Dazu Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. 2 Bde, Wiesbaden 1972; 1980. [Stark gekürzt als] Geschichte der antiken Ethnologie. Rowohlts Enzyklopädie 55589. Reinbek 1997.

[3] Dazu meine Rezension zu Johannes Heil: „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung, 13. bis 16. Jahrhundert. (Antisemitismus 3) Essen 2006. in: Zeitschrift für Historische Forschung 35(2008), 294.

[4] Dazu Hildegard Cancik-Lindemaier; Hubert Cancik: Classical Anti-Semitism. The Excursus on the Jews in Tacitus and its Ancient and Modern Rception. in: H.C.; Uwe Puschner (Hrsg.): Antisemitismus, Paganismus, Völkische Religion. München 2004, 15-25.

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Christoph Auffarth
Religionswissenschaft
Universität Bremen

Origenes: Die Homilien zum Buch Jesaja. Herausgegeben von Alfons Fürst und Christoph Markschies


 

 

Origenes: Werke mit deutscher Übersetzung. [abgekürzt: OWD]
Im Auftr. der Berlin‐Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Forschungsstelle Origenes der Westfälischen Wilhelms‐Universität Münster
Hrsg. Alfons Fürst; Christoph Markschies
Berlin: de Gruyter; Freiburg: Herder 2009

 

U n t e n  eine Übersicht aller bisherigen Rezensionen von Christoph Auffarth zu den Origenes-Ausgaben!

 

Der kühnste Kopf der Alten Kirche: endlich der ganze Origenes!

Eine Rezension von Christoph Auffarth

Origenes (185-254) ist der kühnste Kopf unter denen, die ihren Mitbürgern zeigen, das Christentum muss sich nicht verstecken, ängstlich zurückziehen und verteidigen: voll in der Diskussion der Zeit und kühner Übersetzer der Aussagen der biblischen Texte in eine andere Kultur und ihre Metaphern. Origenes wurde im Vergleich zu Augustin, Hieronymus oder Tertullian eher als ein Stiefkind behandelt, obwohl er wohl der interessanteste Theologe der Antike ist. Kein antiker Autor setzte sich so der Kritik und der Rechtfertigung aus, literarisch und in seinem Leben. Nichts ist selbstverständlich, alles muss auf den Prüfstand, man muss nichts retten. Alexandria ist die Großstadt, die Hafenstadt an der ägyptischen Küste des Mittelmeers, Stadt der Experimente von griechischen, ägyptischen und römi­schen kulturellen Modellen, der kühnen Thesen, der multikulturellen Herausforder­ung, schon seit Generationen. Hier bündelt sich wie in einem Brennglas die antike Kultur, wird das Wissen der ganzen damaligen Welt gesammelt in der Bibliothek, wird ausgewählt, erklärt und für die internationale Kultur verständlich gemacht: Hier wird Kultur gemacht. Dort hat Origenes seine ‚Werkstatt’.[1] Zwei Köpfe ragen heraus: für die jüdische Kultur Philon, für die christliche Origenes. Beide erklären die Texte der Bibel, gerade in al­len Einzelheiten, aber ihre Methode ist nicht der Text in seiner damaligen Bedeutung, sondern das Interpretieren, die Allegorese und im Hintergrund immer Platons meta­physische Philosophie. Die jüdische Gemeinde war im Zusammenprall der Kulturen niedergeknüppelt, die Christen konnten sich halten, mussten sich behaupten. Das tut in beeindruckender Weise Origenes. Origenes hat zwei Nachteile: Zum einen ist er von anderen, viel später lebenden ’Freunden’ aus den eigenen Reihen, massiv ange­griffen worden, die ihn zu wagemutig fanden in der Erklärung christ­licher Glaubens­sätze für die skeptisch-aufmerksamen griechischen Akademiker der Großstadt Ale­xan­dria. Das hatte langfristig zur Folge, dass Origenes 300 Jahre nach seinem Tod zum Ketzer erklärt und seine Schriften unter­drückt wurden. Dennoch ist viel erhal­ten, ein großer Teil allerdings in lateinischer Übersetzung. Bislang war sein Werk schwer zu überblicken, in Ausgaben unter­schied­licher Qualität, vieles ist bislang nicht übersetzt.

Das ändert sich nun: Kühn und gleichzeitig langfristig unterstützt erscheint die hier vorzustellende Origenes-Ausgabe in einer ansprechend gestalteten Reihe. Geplant ist eine Ausgabe aller Werke. Der Editionsplan sieht vor, dass 25 Bände (teils mit Teil­bänden, also 45 Bände zusammen) erscheinen sollen – in rascher Folge.

Gut gebundene rote Leinenbände mit Fadenheftung zum vielfachen Gebrauch geeignet. Das Format der OWD ist ein großes Okav, angenehm zu lesen. Die Texte in Griechisch bzw. Latein mit Zeilen­zähler und der Paginierung der besten Textaus­gabe. Unter dem Text der Nachweis der Bibelzitate, die Origenes zitiert oder anspielt, unten auf der Seite kurze Kommentare, die Besonderheiten erläutern, auf die die Übersetzung hinweisen, aber nicht erklären kann. Ausführlich geschieht die Kommentie­rung in der Einleitung, die zunächst die einzelnen Texte vorstellt im Zusammenhang der Tradition vor und nach Origenes, dann eine Bewertung dieses Werkes im Gesamtwerk des Origenes. Es folgt ein Abschnitt zur Rezeption des Werkes bei anderen Kirchenvätern und die Überlieferung, Hand­schriften, Ausgaben und Übersetzungen. Am Schluss steht eine Bibliographie speziell zum Werk, die Bibelzitate sind in einem Verzeichnis zusammengestellt und ein Schlüssel für systematisch wichtige Begriffe. Gut finde ich, dass jeder Band sich ganz auf das spezielle Werk konzentriert und nicht wie­der­holt, was im ersten Band stehen soll, eine Biographie und ein allgemeine Bibliographie.

Ja, dieser Origenes ist ein großes Glück: die Ausgabe erlaubt die Entdeckung und die Kenntnis eines Autors, der nicht nur für das Christentum als antike Religion grund­legend wichtig ist, sondern auch für die westliche Tradition – von der östlich-‚ortho­doxen’ ganz zu schweigen – von hoher Bedeutung; er kommt im Westen nicht ganz der Bedeutung Augustins gleich, aber die Aufnahme seine Ideen wird vielfach unter­schätzt,[2] er bietet eine offenere Alternative zu dem ‚lateinischen’ Kirchenvater.[3] Es geht ihm nicht um die starke Kirche; sondern durch Faszination brillanter Ideen soll das Christentum sich durchsetzen, über die jeder mit zu diskutieren eingeladen ist. Dieser Origenes ist wert der Entdeckung, die OWD eröffnet das in begeisternder Weise!

Band 10

Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

VII, 400 S. In Isaiam homiliae XXXII.

[ISBN 978-3-451-32915-9]

Als erstes erscheint der 10. Band, eine Ausgabe und Übersetzung von Origenes’ Predigten zum Buch Jesaja.[4] Auch wenn die Übersetzer und Autoren der Einleitung deutlich machen, dass dies nicht der zentrale Text des Origenes sei, so macht diese – überaus kluge und ausführliche – Einleitung klar, welche Brisanz in dem Text steckt, in den neun Homilien zu Texten aus dem Propheten Jesaja, etwa 239 bis 242 ge­schrie­ben. Die Übersetzung ins Lateinische durch Hieronymus 160 Jahre später stellt offen­bar eine Auswahl dar. Homilie bedeutet in der heutigen Kirchensprache „Predigt“, das sind sie aber offenbar nicht. Eher Essays zu den interessantesten Texten des Propheten. Beigefügt sind testimonia, Zeugnisse (S. 308-365), wo die Schrift zitiert wird, u.a. in einem Brief des Hieronymus, besonders aber in einem Traktat des Theophilus von Alexandrien um 400, der die allegorische Deutung der Jesaja-Vision verwirft, stattdessen eine historische fordert und dabei Origenes Blasphemie vorwirft (s. Fürst, S. 180-187).

Erst zeigt Alfons Fürst in genauer Kontextualisierung, was Origenes an Interpretati­onen vorfand, wie scharfsinnig er die Texte liest und neu deutet, und wie die späte­ren christlichen Theologen seine Auslegung übernahmen oder ablehnten, meist ver­gröberten. Wenn Origenes in Homilie 6 den Verstockungsauftrag, den Gott dem Propheten 6, 9 f gibt „Hört, aber kommt nicht zur Einsicht!“, so ist das schon in der hebräischen Bibel ein skandalöses Wort (S. 45-74). Es entfaltet aber seine Wirkung besonders, wenn es nicht mehr intra-, sondern interreligös verwendet wird, wenn die Christen es gegen die Juden gerichtet ansehen. Und das geschieht schon in den Schriften des NT. Dem gegenüber sind Origenes’ Überlegungen „nicht prinzipiell und schon gar nicht polemisch – das ist Origenes nie – antijüdisch konnotiert.“ (S. 71) Immerhin gibt es eine Stelle, in der er undifferenziert von „die Juden“ omnes Iudaei spricht: In Is. hom. 6,5 (S. 277,1). Origenes setzt sich ab von gnostischen und vor allem der grundsätzlichen Ablehnung des Judentum durch Markion. Origenes sieht in der Ver­stockung ein pädagogisches Mittel. Gott wird den Juden Rettung anbieten, aber nicht zu schnell, damit andere davon lernen und Gottes Strenge ernst nehmen. Damit wird das Verstehen oder das Ohren Verschließen zu einem generellen Problem, das genau so Christen wie Juden angeht. – Das zweite große Thema, nämlich in Homilie 1, 4 und 5: Origenes will nach­weisen, dass die Trinität bereits in der Hebräischen Bibel zu finden ist (74-97). In der Beru­fungsvision Jesaja 6, 1-7 stehen rings um den Thron Se­raphim, die Gottes Gesicht ver­decken. Origenes erkärt, es seien zwei und zwar Christus und der Heilige Geist; das „Heilig, heilig, heilig“ (Trishagion) bestätigt die Zahl. Der sich zeigende Gott (Theo­phanie) wird sogleich wieder verhüllt durch die Flügel der Seraphim. Nur die Mitte Gottes bleibt sichtbar. Inter­essanter­weise dürfte Origenes dabei einer auch jüdischen Tradition folgen (S. 83). Die Identifi­zierung des Engels mit Christus brachte ihm den Streit um seine Theologie ein, nachdem das Konzil von Nikaia die Gleichheit von Gott Vater und Sohn dekretiert hatte; 392 bis etwa 403 wird Origenes – seit 140 Jahren tot – deswegen scharf ange­griffen, Hieronymus kaschiert das in der Übersetzung durch Einfügungen u.ä., aber Rufinus deckt die Verfälschungen auf (162-187). – Schließlich ist ein wichtiges Thema die Formulie­rung der sieben Gaben des Geistes Jes. 11, 1-3, eine wichtige ethische Prinzipien­lehre des Christentums, die besonders in der Mystik gerne aufgenommen wurde (36-45).

In Teil 3 der Einleitung (98-187) ordnet Christian Hengstermann die Jesajahomilien ein in die Theologie des Origenes. Zentral ist der Bezug auf Platon: Gott lässt sich nur erkennen, wenn das Subjekt des Erkennens, der fortgeschrittene Christ, sich dem Ziel seines Erkennens angleicht, vollkommen wird. Dann ist Christi Kommen nicht ein einmaliges historisches Ereignis, sondern schon der Prophet erkannte den Logos und jeder Christ kann an ihm zu jeder Zeit teilhaben. Wie Jesaja sich reinigen muss, sich von den Sünden des Königs seiner Zeit befreien, um Gott zu schauen, so gilt das auch für jeden Christen: „eine alle Lebensbereiche prägende Christus-Nachahmung und Christus-Nachfolge“ (113). Nicht so sehr Richter, vielmehr ist für Origenes Gott der König. Anfang und Ende (Schöpfer und Richter), vor allem aber Mitte der Welt und der Geschichte ist der trinitarische Gott. „In der Forschung bislang wenig beach­tet, sind die Jesajahomilien in ihrer überlieferten Gestalt ein gehaltvolles Fragment, das auf schmalem Raum die Grundgedanken der origeneischen Vollkommenheits­lehre in einer umfassenden theologischen Kosmologie fundiert.“ (159)

Die Übersetzung ist ein herausragendes Beispiel, was Übersetzungen leisten können. Ich habe schon lange keine so ausgezeichnete Übersetzung gelesen: Sie bildet nicht mehr oder weniger Wort für Wort den lateinischen Text ab, vielmehr spürt sie erst dem Sinn nach und versucht dann, möglichst genau wieder den Wortlaut im Deut­schen wiederzugeben: gleichzeitig ein deutsch gedachter Text und eine präzise Ab­bildung der lateinischen Formulierung. Erst: was will der Autor sagen, und dann: wie hat er das formuliert? Die Begriffe sind präzise, die intertextuellen Bezüge nach­gewiesen, knappe Kommentare, woher Origenes (möglicherweise) das Bild hat, das er hier verwendet.

In Homilie 6,5 ist vom körperlichen Herz die Rede. Eine Redeweise, die Origenes als nuncupativo vocabulo sich erlaubt. Der Kommentar (Anm. 129) macht klar, das „Über­griffige“, die kühne Metapher zu verwenden, ist ein Bezug zu dem jüdischen Philo­sophen Philon, der für sich in Anspruch nahm, dass jede Rede von Gott nur in dieser Weise der Katachrese, der „uneigentlichen Redeweise“, möglich ist. Denn eigentlich ist Gott unfassbar.

Mit dem glänzenden Auftakt wird eine Messlatte für die anderen Bände gelegt, die beste Qualität verspricht.

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[1] Den quirligen Platz hat Alfons Fürst in einem schmalen Band geschildert: Christentum als Intellektu­ellen-Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria. (SBS 213) Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2007.

[2] Auch zur Rezeption des Origenes hat Alfons Fürst Tagungen durchgeführt, deren erster Band in 2010 angekündigt ist: Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit. Hrsg. A.F. (Adamantiana 1) Münster: Aschendorff 2010.

[3] Nachdem Augustin schon mehrere Gesamtausgaben erfahren hat, begann 2002 eine auf 130 Bände berechnete zweisprachige Ausgabe bei Schöningh: Paderborn. Außerdem das Augustinus-Lexikon, 4 Bde, 1994-.

[4] Abgekürzt zitiert als Origenes, In Is.hom. [Nummer der Homilie; Paragraph, dann erst OWD 10, Seite, evtl. Zeile, ed. Fürst/Hengstermann]


In der Reihenfolge des bisherigen Erscheinens der Bände.
Rezensiert von Christoph Auffarth.

OWD Band 10: Die Homilien zum Buch Jesaja. Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Chris­tian Hengstermann.

OWD Band 1/1: Die Kommentierung des Buches Genesis. Hrsg. von Karin Metzler.

OWD Band 22: Aufforderung zum Martyrium. Hrsg. von Maria‐Barbara von Stritzky.

OWD Band 7: Origenes: Die Homilien zum Ersten Buch Samuel .
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst.

OWD Band 21: Origenes: Über das Gebet.
Eingeleitet und übersetzt von Maria-Barbara von Stritzky

OWD Band 11: Origenes: Die Homilien zum Buch Jeremia.
Eingeleitet und übersetzt von Alfons Fürst und Horacio E. Lona.

OWD Band 3: Origenes: Die Homilien zum Buch Levitikus.
Eingeleitet und übersetzt von Agnethe Siquans.

Stand: 02.06.22

Septuaginta Deutsch. Herausgegeben von Wolfgang Kraus und Martin Karrer

Septuaginta Deutsch

Hrsg. von Wolfgang Kraus; Martin Karrer
Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2008
1536 S. 59 Euro

 

Eine Rezension von Christoph Auffarth

1. Septuaginta heißt die griechische Übersetzung des Ersten Testaments. Die Bedeutung der Septuaginta für die Hebräische Bibel ist kaum zu überschätzen. Das hat zwei Gründe:
(1) Sie bildet das bei weitem älteste Zeugnis, vor jeder hebräischen Handschrift, noch vor den Schriften der Bibel, die sich unter den Qumran-Texten befinden. Die Unterschiede zur viel späteren hebräischen Überlieferung und seiner Deutung durch die Masoreten (die durch die Vokalzeichen manches vieldeutige Wort eindeutig machten) sind Wegweiser zu einer älteren Überlieferungsschicht.
Chronologie:
– [Hebräische Bibel ohne Vokalisierung, d.h. viele Wörter sind mehrdeutig]
– Die Septuaginta 250 v.Chr., so der Aristeas-Brief (oder später bis ins 2. Jh., vgl. Kapitel B bei Brodersen) –
– Die Schriftrollen aus Qumran aus der Zeit von etwas nach der Septuaginta bis zur Zerstörung der Siedlung 68 n.Chr. –
– Die Masoreten legen die Bedeutung der biblischen Wörter fest durch Vokalzeichen, zwischen 780 und 930 n.Chr.
(2) Die Septuaginta enthält Texte, die gar nicht mehr auf Hebräisch verfasst wurden, sondern nur auf Griechisch. Sie ist damit ein Zeichen für den Prozess des Wachsens und Erweiterns des Kanons. Und der Veränderung der Gemeinden, die das Erste Testament lasen. Zum einen verstanden viele von denen kein Hebräisch mehr. Aber sie zeigt auch, dass sie nach anderen Texten verlangten und neue Texte integrierten, die eher dem neuen historischen Bedingungen entsprachen. Weisheitstexte, Teile des Danielbuches, das demnach eines der ganz späten Bücher des Ersten Testamentes darstellt.
(3) Generationen Göttinger Theologen haben sich der mühsamen Aufgabe unterzogen, den grie-chischen Text aus den vielen Handschriften kritisch-vergleichend herauszugeben, besonders Alfred Rahlfs und Robert Hanhart, davor de Lagarde, seither Aijemlaeus (um nur diese zu nennen), eine kleine Ausgabe, die verbesserte von Rahlfs (1935) steht seit langem zur Verfügung (²1979). Das war aber immer ein Werk, das wenig Beachtung fand, etwas für Spezialisten. Oder genauer: In der orthodoxen Kirche ist der griechische Text so maßgeblich, wie im Westen es die lateinische Vulgata war. Im Westen stand die Septuaginta (oder abgekürzt mit den lateinischen Zahlzeichen LXX für die septuaginta „Siebzig“) immer im Schatten. Jetzt ändert sich das grundlegend: Es gibt Tagungen, Sammelbände und nun die Übersetzung, die hier anzuzeigen ist, greifbar für alle.

2. Darüber hinaus besitzt die LXX ihren eigenen theologischen und kulturgeschichtlichen Wert. An folgenden Beispielen sei das erläutert:
(1) ein charakteristisches Element ist das Phänomen der zunehmenden Eschatologisierung des jüdischen Denkens in hellenistischer Zeit. In der LXX hat es an einigen Stellen Niederschlag gefunden, so besonders prominent in der Prophezeiung des Bileam in Numeri 24, wo nach der LXX-Version in Numeri (nach protestantischer Tradition liest der linke Kolumnentitel 4. Buch Moes, rechts das griech. Arithmoi) 24,7.17 das Kommen eines anthropos erwartet wird, der Israel errettet; dies ist – obwohl strittig – m.E. nicht anders als messianisch zu verstehen, zumal auch Genesis 49,10 eine ähnliche Interpretation aufweist.
(2) Ein Text mit ganz besonderer Wirkungsgeschichte ist schließlich die Weissagung in Jes 7,14, die im hebräischen Text von der zeitlich nahen Geburt einer „jungen Frau“ handelt, in der LXX aber auf eine endzeitliche Jungfrauengeburt des Erlösers verweist. Eine umfassende Exegese zeigt, dass das gesamte Kapitel zu einer Heilsansage umgestaltet wurde. Kein Wunder also, dass die Urgemeinde die Aussage von der Jungfrauengeburt auf Jesus übertragen hat, obwohl diese Erwartung nicht zur ältesten Überlieferung gehört, wie der Formulierung des Paulus in Galater 4,4 (genómenon ek gynaikós) eindeutig zu entnehmen ist. [ref] Martin Rösel: Die Septuaginta. In: Brücke der Kulturen. „Übersetzung“ als Mittelund Ausdruck kulturellen Austauschs. Hrsg. vom Hans Jürgen Wendel u.a. Rostock 2002, 217-250. [/ref] Ein paar wichtige Begriffe und Besonderheiten der LXX gegenüber dem hebräischen Text sind knapp angedeutet, sollen in dem für nächstes Jahr angekündigten Erläuterungsband ausführlicher dargestellt werden.
(3) Die Neubewertung der Prophetie → Die Bücher der Propheten stehen nicht mehr – wie im hebräischen Kanon im Zentrum, sondern sind an das Ende gestellt: Im christlichen Verständnis der direkte Anschluss an die Prophetie des neuen und letzten Propheten Jesus. Aber schon die LXX hat das so verändert: Ein Zeichen für das Erstarken der apokalyptischen Bewegung nicht nur im Judentum, sondern auch in der ägyptischen Literatur (Bernd Schipper hat diese Texte 2002 herausgegeben).
(4) Das Wort „Bund“ hebr. berith etwa „zweiseitiger Vertrag“ wird griechisch mit diatheke übersetzt. Das ist eine ganz andere Vorstellung, nämlich eine einseitige Verfügung oder eben ein Testament. → Genesis 6, 18 und Sirach 11,20.
(5) Die Opferterminologie ist eigentümlich; das griechische Wort für Brandopfer hat mittlerweile seine ganz eigene Geschichte Holokaust. Für Altar unterscheidet die LXX streng zwischen ‚heidnischem’ Altar bomós und dem einzigen Gottesaltar im Jerusalemer Heiligtum, für den sie einen Neologismus prägt Thysiaterion. → Lev. 1,1.
(6) Reinheit und Gefährdung → Lev 10,10. Für Religionswissenscahftler ein zentrales Stichwort, das Mary Douglas’ Theorie leitet.
(7) Die Eigenheit der Verwandtschaft von Juden und Spartanern, die ganze hellenistische Vorstellungswelt einschließlich der Hofterminologie ausgerechnet in den Makkabäerbüchern → 1 Makk 1,7. Sie gehören zu einer Gattung von dramatischen Erzählungen aus der Geschichte, die die klassisch-antiken Leser verschlangen und in der Europäischen Religionsgeschichte intensiv rezipiert wurden: Neben den Makkabäern die Judith und Holofernes-Geschichte, die Ester-Erzählung usf. In der protestantischen Tradition dagegen wurden sie aus dem Kanon entfernt und als Apokryphen marginalisiert.
(8) Hymnischer Stil in Prosa in den Psalmen → Psalm 1,1.
(9) Weisheit nach griechischer Terminologie → Weisheit (S. 933 f), die zu einer eigenen und sehr beliebten, vielfach erweiterten Literaturgattung wird.
(10) Neubewertung des „Gesetzes“ bzw. der Tora: Der Aristeas Brief nennt als Ziel der Übersetzung, dass der ägyptische König eine Übersetzung der Verfassungen aus allen Ländern der Welt haben wollte, um die eigene zu optmieren. Auch wenn es klar ist, dass das nicht der alleinige Grund sein kann und die Übersetzung von verschiedenen Autoren wohl auch zu verschiedenen Zeiten vorgenommen wurde, zeigt sie doch ein neues Verständnis der Tora an, die nun nicht mehr nur für Juden exklusiv von Bedeutung ist. Sie ist ein Kulturgut an die klassische Antike.
(11) Umgekehrt finden sich Homerzitate in der Übersetzung → Ez 27,5.
Angekündigt ist für das kommende Jahr ein entsprechender Kommentar-Band im gleichen Verlag der Deutschen Bibelgesellschaft.

3. Die neue deutsche Übersetzung der Septuaginta gibt wieder:
Die Septuaginta in ihrem vollen Bestand. Die Abweichungen vom (masoretischen) hebräischen Text sind mit kursiver Schrift angezeigt, sei es dass die LXX ein Wort anders versteht oder mehr übersetzt, was im heutige hebräischen Text nicht zu finden ist. Wenn das Umgekehrte der Fall ist (der hebräische Text ist ausführlicher als der griechische), dann ist das durch ein hochgestelltes Pluszeichen angezeigt. Am Ende des jeweiligen Textabschnitts („Perikope“) sind Texte zitiert, die in Beziehung stehen zu diesem Text. Wenn es zwei griechische Fassungen gibt, dann sind sie in Spalten nebeneinander synoptisch gedruckt, wie zB das Buch Tobit, einem Buch das in der Europäischen Religionsgeschichte eine enorme Bedeutung genießt (der Schutzengel). Warum die rein griechisch überlieferten Bücher dann nicht ganz kursiv gedruckt sind, ist inkonsequent. Wertvolle kurze Einführungen geben ganz knapp vorzügliche Informationen, die für das Verständnis dieses Buches innerhalb der Biblia (Plural: „die Bücher“; erst spät zu dem femininum singular geworden) benötig werden.

Wertvolles Buch:
Die griechische Bibel, mehr als nur eine Übersetzung der hebräischen Bibel, wegweisend für die Rezeption im Christentum, ist nun zugänglich und verlässlich auf dem aktuellen Forschungsstand zugänglich. Eine neue heilige Schrift, die die jüdische Tradition aufnimmt und für ein anderes Publikum in der hellenistisch-römischen Welt präsentiert als Kulturgut, das unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit für die gesamte Menschheit wertvoll ist.
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30.06.2009
Christoph Auffarth,
Prof. für Religionswissenschaft
Universität Bremen